(zas,
30.7.17) Als erstes eine Korrektur einer kritischen Anmerkung zum Wahlprozess
für die Verfassungsgebende Versammlung, die wir kürzlich auf diesem Blog (Venezuela:
Fahrplan für einen Einmarsch?) gebracht haben. Da hiess es: „Was den Chavismus betrifft, so betrifft
eine Frage in Sachen Konstituante wohl den Modus ihrer Wahl. Alle BürgerInnen
haben demnach zwei Stimmen. Die eine „territoriale“ wird für KandidatInnen des
jeweiligen Wahlbezirks abgegeben. Dazu gibt es noch die „sozial-sektorielle“
Stimme. RentnerInnen, UnternehmerInnen, Menschen mit Behinderung, BäuerInnen
und FischerInnen, ArbeiterInnen und StudentInnen wählen die jeweiligen
VertreterInnen ihrer Sektoren in die Konstituante, und zwar auf einer
landesweiten Liste. Ausnahme die der lokal gewählten VertreterInnen Concejos
Comunales (Nachbarschaftsräte) und die VertreterInnen der indigenen
Comunidades, die ihr eigenes Wahlsystem benutzen. Die sektorielle Zuordnung
soll alle Menschen abdecken und auf staatlichen Datenbanken wie der
Sozialversicherung basieren. Tatsächlich dürfte der sektorielle Modus weniger
fortgeschrittener sozialer Demokratie als dem Schutz vor einer Niederlage
dienen.“
Bueno, das
war falsch. Walter Suter, ehemaliger CH-Botschafter in Caracas, recherchierte
dieser Tage beim Obersten Wahlrat CNE
genau diesen Komplex. Ergebnis: Die Sozialversicherung hat tatsächlich die
Zugehörigkeit aller BürgerInnen zu verschiedenen sozialen Kategorien automatisiert,
so dass sämtliche Abstimmungswilligen neben den KandidatInnen ihres Wahlkreises
auch die entsprechenden sektoriellen Kandidatinnen (landesweit) problemlos
wählen können. M. a. W., hätte sich die Rechte mit eigenen KandidatInnen an der
Konstituante beteiligt, und hätte sie tatsächlich heute die Mehrheit der Leute
hinter sich, hätte sie gewinnen können. Das dumme frühere Gerede über chavistische
Wahlbetrüge mittels des Wahlsystems ist hundertmal wiederlegt worden, übrigens
auch von den Rechten selber. Zum einen hatte sie nach dem dem Sieg in den Parlamentswahlen
Ende 2015 mit einem Schlag diese Dauerpropaganda eingestellt. Zum anderen vertraute
sie die Organisation ihrer Primärwahlen zur Ermittlung der eigenen
KandfidatInnen regelmässig dem CNE an, wohlwissend, dass ihre Kontrollpersonen
den gesamten Wahlprozess im Detail überprüfen konnten. (Wahlbetrug mit
Stimmenkauf oder Erpressungen, wie ihn die Rechte 2015 in Amazonas realisiert
hat, wird davon natürlich nicht betroffen.)
Die Frage
stellt sich, warum die Rechte die allen Lügen zum Trotz absolut verfassungskonforme
Einberufung der Konstituante nicht als Chance hatte nutzen wollen. Entweder waren
sie oder ihre Kommandozentrale in Washington sich eines Wahlsieges nicht so
sicher, oder aber es ging darum, den Chavismus mit Gewalt auszumerzen, was ein
wieder umkehrbarer Wahlsieg nicht garantieren kann. Der Gebrauch einer tatsächlich
oft faschistischen Gewalt deutet in die zweite Richtung.
Anyway,
morgen wird uns das gewohnte verlogene Gehechel gegen den Chavismus serviert
werden. Die diversen „ausgewiesenen DemokratInnen“, von der hyperventilierenden
österreichischen rechten Aktivistin Hanna Silbermayr in SRF und NZZ bis zu den
meisten Thinktank-„ExpertInnen“, die in diesem Geschäft aktiv sind, finden es
auch nicht unter ihrer Würde, das rechte „Plebiszit“ von Mitte Juli als klaren
Ausdruck des Willens der VenezolanerInnen anzupreisen. Wir haben zum „Plebiszit“
berichtet (Venezuela: Die Resultate vom
Sonntag: Reifer Chavismo, medial aufgeblasene Rechte). Die behauptete 7.5 Millionen-Beteiligung ist ein
Witz. Selbst bei absolut unrealistischen Annahmen (s. Link) hätten höchstens
etwa 4.5 Millionen ihre Stimme abgeben können. In Zonen des Mittelstands und
aufwärts war die Wahlbeteiligung am Vormittag tatsächlich gross, in anderen,
viel bevölkerungsreicheren Gebieten dagegen nicht. Am Nachmittag herrschte
ohnehin weitgehend Ruhe. Zudem gab es kein Wahlregister, also alle, die
wollten, konnten so oft abstimmen, wie sie gerade Zeit hatten. Die Chavistas
legten den Mitschnitt eines Telefongesprächs vor, in dem sich zwei Verantwortliche
des rechten Oppositionsbündnis in Aragua daruaf verständigen, ihren eigenen
(obskuren) Angaben von 347‘000 Stimmzetteln noch weitere 50‘000 hinzu zu rechnen,
damit „die Zahlen aus Caracas aufgehen“. Im Ausland sind 101‘000
VenezolanerInnen als stimmberechtigt registriert, nach MUD-Angaben beteiligten
sich aber 693‘000. Das militant rechte Portal Infobae,
ein Dauerorgan der MUD, bestätigte die zuvor von der MUD angekündigte
Verbrennung aller angeblicher Abstimmunterlagen, „um die Leute vor Repression
zu schützen.“ Dem chavistischen Führungskader Jorge Rodríguez war zudem noch
aufgefallen, das in den von der MUD doch so eifrig benutzten Social media nicht
ein Video von einer Auszählung zu sehen war. Und vieles mehr.
Noch diese erfreuliche
Mitteilung von Walter Suter im Telefongespräch gestern Abend: Die Chavistas
sehen ruhig in die Zukunft, sie sind sich eines Sieges gewiss.
Die letzten
Tage scheinen tatsächlich ein wenig darauf hinzuweisen, dass die Rechte – geplagt
von massiven internen Widersprüchen, mit einem radikalisierten, bewaffneten aktionistischen
Flügel, der zunehmend die eigene begüterte Basis abschreckt – sich in eine
Sackgasse verrannt hat. Ihr „Generalstreik“ gegen die Konstituante dieser Tage
war z. B. ein Flop, im Gegensatz zur real beeindruckenden Grossmobilisierung
vorgestern für die Wahl. Wir werden (allerdings nicht über die hiesigen Medien)
sehen, ob es ihr gelingt, heute nennenswert zu mobilisieren oder ob sie sich
darauf „beschränken“ wird, bewaffnete Aktionen gegen Menschen, die in die
Stimmlokale strömen, zu untgernehmen. Etwas schwierig, nachdem vorgestern selbst
das UNO-Menschenrechtshochkommissariat, unter Leitung des jordanischen Prinzen
und ehmaligen Polizeichefs Zeid Ra’ad Al Hussein sonst voll auf
US-Linie, gestern dazu aufgerufen hat,
das Wahlrecht der VenezolanerInnen zu respektieren. Ob und vorallem wie Washingtons
„internationale Gemeinschaft“ an ihrer Stelle die Kastanien aus dem Feuer holen
wollte, ist unklar. Bestimmt wird es zu einer Eskalation kommen, die, begleitet
von einer Intensivierung des Wirtschaftskriegs, auf bewaffnete Elemente (nicht
nur) in Venezuela setzen wird. Einen Vorgeschmack der kommenden Wirtschaftsaggression
liefern einige Airlines. Aus „Sicherheitsgründen“ hat Air France knallfall ihre
Venezuela-Flüge suspendiert. Die zweitgrösste lateinamerikanische
Fluggesellschaft, Avianca, hat unter der Nennung eben dieses Motifs ihre Flüge ebenfalls
von einem Tag auf den anderen eingestellt.
Schlange
stehen heute für Stimmabgabe im an Kolumbien angrenzenden Mérida. Hier haben bewaffnete Kommandos
vorgestern vier Wahllokale inklusive der Abstimmungscomputer zerstört.Quelle: CiudadCSS.
|