Vom Epos einer Wahlbeteiligung

Freitag, 4. August 2017



(zas, 4.8.17) Bevor wir uns dem Druck beugen, auf die andauernde Desinformationskampagne eingehen zu müssen  - aktuell die sich mit Bestimmtheit wider alle Evidenz durchsetzende Propaganda von der Wahlfälschung - doch noch zwei Zeugnisse von unten zur Dynamik der Wahl zur Verfassungsgebenden Versammlung ANC vom 30. Juli 2017.
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Communiqué aus La Pedregosa
Das Wahlrecht gehört zu den grundlegenden Menschenrechten, das unter keinen Umständen verweigert werden darf. Nur allein schon deswegen, weil sich, wird es verweigert, Schüsse durchsetzen können. Und mit Schüssen wurde uns gestern das Wahlrecht genommen, Schüsse, die zwei Verletzte forderten.
Wir, BewohnerInnen des Sektors San Rafael de la Pedregosa im Staat Mérida, wollen unsere tiefe Unzufriedenheit ausdrücken, weil wir unser Wahlrecht nicht haben ausüben dürfen, und unsere Freude, dass wir auf der Strasse für dieses Rechte  gekämpft haben, bis wir von bewaffneten Killern im Sold der Opposition vertrieben wurden. Wir denunzieren diese Mörder von Leben und Träumen … diese Kleinstgruppe, die zur traurigsten Klasse von Armen wird, arm an Bewusstsein, arm an Herz… die ihre Herkunft für ein paar Brosamen der Reichen verraten, die die Schwächsten angreifen, um den Mächtigsten zu dienen. Und wir denunzieren ihre faschistischen Herren, die traurigste Klasse der Privilegierten, die mit ihrem Geld, ihren Kenntnissen und ihren Talenten unterdrücken, statt sie in den Dienst aller zu stellen, damit wir alle an ihnen wachsen.
In der Nacht von Samstag, dem 29. August, beschlossen wir, auf die Anweisungen der Volksorganisation in Sachen Mobilisierung und Sicherheit zu warten. Wir hatten einen Plan B vorbereitet, falls gewisse Bedingungen nicht gegeben wären. Früh morgens am 30. erreichte uns die Nachricht, dass die Barrikaden weitergingen und ein sicheres Durchkommen nicht gegeben sei. Deshalb aktivierten wir Plan B, der vorsah, über den Berg ins nächste Wahlzentrum zu gelangen. So wie wir, ursprünglich 50 Leute, uns dem Berg näherten, schlossen sich weitere an, bis wir fast 200 waren, darunter Schwangere und Betagte, die es schwer hatten, sich fortzubewegen.
Wir erfuhren aus verschiedenen Quellen, dass sie uns an einem bestimmten Punkt am Berg mit Schusswaffen erwarteten, so dass wir beschlossen, auf die Hauptstrasse zurückzukehren. Auch dort warteten sie auf uns, so dass wir uns zu einer Kreuzung begaben, um uns dort mit Stöcken und Steinen zur Wehr zu setzten. Nicht lange danach wurde ein Compañero, der eine Aufklärungsaufgabe hatte, in der Strasse Las Turbinas angeschossen. Wenige Minuten darauf kam eine bewaffnete Gruppe an, die auf uns schoss. Hier begann der miese Zauber. Dabei wurde ein weiterer Compañero verletzt, am Bein. Glücklicherweise hatten wir schon den graduellen Rückzug beschlossen, und viele verletzbarere Personen hatten sich schon diskret in ihre Häuser und Sektoren zurückgezogen. Die staatlichen Sicherheitskräfte kamen nie. Sie konnten nicht, wie wir später erfuhren, denn sie wurden aus Gebäuden im Sektor der Brücke von la Pedregosa unter Beschuss genommen.
Wir wollen Folgendes klarstellen:
Wenn ihre Absicht war, uns einzuschüchtern – denn offensichtlich versuchten sie nicht zu überzeugen – verstärkt die erlebte Brutalität und Gewalt unsere politischen Überzeugungen und spornt uns an, unsere kommunale Organisation zu vertiefen. Lasst sie keinen Moment daran zweifeln, dass sie uns gestärkt und unser politisches Bewusstsein vertieft haben, und dass sie uns in allen Bereichen zu einer stärkeren Bildung und Organisation veranlassen.
In der eingangs beschrieben Logik der Stimme oder Kugel fordern wir von unseren lokalen, regionalen und nationalen Behörden, unsere grundlegenden Menschenrechte zu garantieren. Dies bedingt, die Antisozialen, die uns angegriffen haben, festzunehmen und insbesondere auch die intellektuellen Autoren dieser niederträchtigen Aktionen.
Diesem Dokument kommt der Wert einer formalen Anschuldigung zu und wir wollen, dass die Defensoría del Pueblo [eine staatliche Stelle mit der Ermittlungsbefugnissen in vielen gesellschaftlichen Bereichen; entfernt vergleichbar mit einer Ombudsstelle] dies so versteht und die entsprechenden Untersuchungen aufnimmt.
Unsere Unterschriften sind Stimmabgaben
Consejo Comunal Comuna San Rafael.
Hier ist auch ein Bericht einer Frau zu finden, die beschreibt, wie ihre Gruppe frühmorgens heimlich und voller Angst in einem rechts dominierten Stadtteil von Caracas aufbrach, um ins Wahlzentrum Poliedro wählen zu gehen, wo sie tausende anderer Menschen traf, die es unter den gleichen Bedingungen bis in dieses Zentrum geschafft hatten.
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Die Leute von Palo Gordo
Palo Gordo ist ein kleines Dorf in den Bergen des Staats Táchira nahe der kolumbianischen Grenze. Seit Ankündigung der Wahl zur ANC am 1. Mai haben Oppositionelle mit zwei Barrikaden die Verbindungen zwischen Dorf und der Hauptstadt von Táchira, San Cristóbal, gekappt. Claudia Torres de Useche berichtet: „Seit drei Monaten benutzen sie die Social Media, um uns zu sagen, dass sie uns töten, wenn wir wählen gingen.“ Die Maskierten setzten später selbst gebastelte Bazookas und verschieden-kalibrige Waffen ein, um die Installation des Wahlzentrums in der Schule erfolgreich zu verhindern.
Ab 3 h früh rätselten die Chavistas im Dorf per SMS, was zu tun sein. Sie kamen zu keinem Beschluss. Schon schien die Sonne, da hörte die Compañera draussen ein Stimmengewirr. Es war eine Gruppe von Grossvätern und –müttern. Einer von ihnen rief: „Lasst uns wählen gehen!“ Sie hatten gehört, dass der Oberst Oscar Álvarez von der Guardia Nacional das Coliseo eingenommen hat, eine Installation im Ersatzwahllokal. Claudia denkt, dass die Mobilisierung grosser Gruppen spontan erfolgte. „Wir hatten keine Zeit, das zu organisieren. Aber wenn die Grossväter entschlossen waren, zu Fuss zum Wahllokal zu gehen, dann wir natürlich auch!“
Die Ersten, die loszogen, waren die, die vor einer Schiesserei, die ihr Weitergehen auf der Strasse unmöglich machte, in den Fluss flüchteten. 
 
Zwei Flüsse überqueren, um wählen zu können. Bild: Alba Ciudad.
Die Gruppe, in der die Familie von Claudia ging, wusste, dass weiter vorne die Barrikaden waren. Die Leute bewaffneten sich mit Steinen und Stöcken. „Wir haben schon beschlossen, wählen zu gehen, und diese zehn Arschlöcher sollten das nicht verhindern.“ Als sie ein paar Dutzend Meter von der Barrikade weg waren, zeigten die Vermummten ihre Waffen und schossen in die Luft. „Und da begannen die Männer zu rennen“, schreibt Alba Ciudad, „aber nach vorne. Die, die geschossen haben, bekamen Angst und zogen sich zurück, als sie sahen, dass die Leute keine Angst hatten.“
Mitten drin in diesem Durcheinander kamen Guardias Nacionales auf Motos an. Das beendete die Sache. Die Frauen räumten die Barrikaden weg, und eine halbe Stunde später ging der Marsch weiter, bis zum Coliseo. Dort, sagt Claudia, „kamen die Leute aus verschiedenen Dörfern der Gegend an, zu Fuss. Es herrschte eine grosse Freude. Wir umarmten uns, wir sangen. Wir schauten uns in die Augen und es war, auch wenn Sie mir nicht glauben, wie wenn wir in die Augen von Chávez blickten“. Claudia ist Christin. Ein Grossvater bat um einen Moment der Ruhe und sagte, sie hätten eine Heldentat vollbracht. Er zitierte Simón Bolívar: „Um den Sieg zu erringen, war es immer nötig, den Weg der Opfer zu beschreiten.“
Aufstieg zum Coliseo. Bild: Alba Ciudad.

 Im Wahllokal gab es eine Vollversammlung und sie beschlossen, den Heimweg zu organisieren. Nachdem der Letzte seine Stimme abgegeben hatte, ging es los. „Was die Unruhestifter nicht wussten“, sagt Claudia, „ war, dass an unserer Spitze die Motorisierten der Guardia waren. Sie versuchten uns anzugreifen, aber sie flohen dann, und wir kehrten siegreich auf der Hauptstrasse des Dorfes zurück.“ Doch die Guardia zog sich dann zurück. Später warnten Nachbarn die dorfbekannte chavistische Familie von Claudia: „Geht nicht raus! Acht Typen bauen eine Barrikade.“  Die Familie verschanzte sich im Haus, und die Morddrohungen begannen. „Diese Typen wechselten sich ab. Einige gingen, andere kamen. Sie tranken viel Milche, lokalen Schnaps.“ Um 2 h morgens gingen sie weg, nachdem sie auf die Hauswand schrieben : „Scheisschavistin, du bist markiert 666“.
Am nächsten Tag wurden die Leute von Palo Gordo gewahr, dass die Bilder, wie sie den Fluss durchquerten und über die Berge gingen, um wählen zu können, über die Social Media auf der ganzen Welt verbreitet wurden. 
Über die Berge. Bild: alba Ciudad.

Claudia Torres meint: „Wir haben nichts derartiges geplant. Wir machten, was wir machten, in der Überzeugung, dass zu wählen unsere historische Verantwortung war. Und ja, wir machten es aus Liebe zur Bolivarischen Revolution. Das Einzige, um das ich Präsident Maduro bitte, ist, dass er uns hilft, woanders zu wohnen, denn unser Leben ist in Gefahr.“
Die "satanistische 666" kommt bei Einschüchterungsaktionen nicht selten in Gebrauch. Bild: Alba Ciudad

Dieser Bericht ist eng angelehnt an Palo Gordo: El pueblo cruzó ríos y montañas para votar en la Constituyente, 3.8.17, Alba Ciudad.
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Ein  bewegendes Video über die Leute von Palo Gordo, von denen einige zwei Flüsse durchqueren und sich im Berggestrüpp verbergen mussten, und andere den oben beschriebenen Wahlgang erlebt hatten.