(zas,
22.4.18) Wir erhalten von FreundInnen drüben widersprüchliche Aussagen.
Allgemein ist die Rede von rund 30 Toten im Zusammenhang mit den Unruhen, wobei
die Zahl sich laufend erhöht, aber vorderhand auch mit Vorsicht aufzunehmen
ist. Unter den Toten befindet sich eine Reihe von protestierenden StudentInnen,
andererseits sind nach Angaben aus sandinistischen Kreisen mindestens vier
Polizeimitglieder, darunter eine Kommissarin, umgekommen.
Es scheint
klar, dass gegen die Anfang letzte Woche angekündigte Reform des Rentenwesens (s.
u.) am Donnerstag eher linke StudentInnen auf die Strassen gingen. In León, der
zweitgrössten Stadt des Landes, wissen wir von MedizinstudentInnen, die friedlich
protestierten und von, wie sich ein Compañero ausdrückte, „Paramilitärs“ der sandinistischen Parteijugend angegriffen wurden.
Zwei ähnliche Vorfälle anderswo – stets mit der „sandinistischen Jugend“ als
Negativkraft – sorgten für grosse Empörung. Umso mehr, als diese Juventud Sandinista als arrogant und privilegiert wahrgenommen
wird, seit geraumer Zeit. Umgekehrt
wissen wir aus Matagalpa, dass es der sandinistischen Leitung vor Ort gelungen
ist, eine Konfrontation zwischen den beiden Pro- und Contra-Mobilisierungen zu
verhindern (es gab Familien, die teils hier, teils dort mitmarschierten.) In
Sachen Schlägertrupps gibt es diverse Aussagen, wonach Strassenbanden bezahlt
wurden, um loszuprügeln und jetzt die Polizei anzugreifen. In diesem
Zusammenhang wird als Mitorganisator auch Humberto Ortega erwähnt, Bruder von
Daniel Ortega, mit diesem aber verfeindet, Armeeminister in den 80er Jahren der
Revolution, danach offen nach rechts und ins Business abgedriftet.
Tatsache
ist, die Situation ist massiv eskaliert. Da sind zum einen die Toten, die vom
medialen Mainstream meist schlicht alle als Repressionsopfer der Regierung
dargestellt werden. Das ist sicher nicht richtig so. Abgesehen von den vier
erwähnten PolizistInnen ist etwa ein Journalist, der gestern Nacht in
Bluefields mit einem Kopfschuss getötet wurde, kaum das Opfer von
Polizeirepression. Wie auf Youtube
zu sehen ist, ging er nämlich hinter vorrückenden Polizisten her, als ihn
die Kugel traf. Doch es ist klar, dass die Polizei wiederholt Schusswaffen
eingesetzt hat und dass vermutlich eine Mehrheit der Ermordeten auf ihr Konto geht.
Leider war das sanfte Bild der Polizei der letzten Jahre, die im Umgang mit
rechten Demos etc. meist sehr behutsam vorgegangen ist, nur die eine Hälfte der
Medaille. Die andere ist klar ihre Korruption und Arroganz im Alltag, die sie
zunehmend verpönt gemacht hat.
Schon
gestern und vorgestern wurden in verschiedenen Landesteilen FSLN-Büros,
BürgermeisterInnenämter, Einrichtungen der Sozialversicherung INSS (zuständig
für Rentenwesen und einen Teil des staatlichen Gesundheitssystems) angegriffen,
verwüstet, teilweise niedergebrannt. Offenbar starb dabei mindestens ein
Mensch, dessen verkohlte Leiche gefunden wurde. Während einige Elemente
tatsächlich klar für eine Entladung gesellschaftlicher Wut sprechen, dürfte die
rasante Eskalation damit nicht zu erklären sein. Auch wenn der Diskurs der
Friedfertigkeit in breiten Teilen der Bevölkerung nicht verfängt, ist doch die
an den Tag gelegte organisierte Militanz in so kurzer Zeit kaum spontan
entstanden. Es sieht so aus, dass die Proteste gezielt für ein „venezolanisches“
Modell ausgenutzt werden: extrem militante Strassenmobilisierungen, viele Tote,
Isolierung und Sturz der Regierung bzw. im Fall von Venezuela jetzt schleichende
Militarisierung des Wirtschaftskriegs. Mutmasslich wird sehr bald aus den USA
zu hören sein, der Gesetzesvorschlag Nica Act, der das Land international
finanziell isolieren soll, werde beschleunigt verabschiedet. Vergessen wir
nicht: Nach Angaben der US-Regierungsagentur
USAID hat Washington in den Jahren 2016 bis 2018 $ 64 Millionen „für“
Nicaragua ausgegeben, davon $ 31.9 Millionen allein für den ominösen Bereich „Governance“.
Doch dürfte
es nur bedingt richtig sein, die Vorkommnisse allein über den Kamm „Farbenrevolution“
zu scheren. Die rechten Parteien haben seit Jahren keinen Fuss auf den Boden gekriegt
(weil sie gegen die Politik Ortegas, venezolanische Hilfsgelder für Sozialprogramme
einzusetzen und gleichzeitig einen Deal mit den Unternehmervereinen und den Kirchen
abzuschliessen, nichts aufbieten konnten). Aber nicht nur die sehr ambivalente
Protestbewegung gegen das Megaprojekt eines interozeanischen Kanals hatte
gezeigt, dass es gesellschaftlich Raum für Protest und Unruhe gibt. Die
offiziöse Vision von Frieden, Freude, Eierkuchen hat mental und praktisch eine miese
autoritäre Komponente. So könnten die Berichte, die jetzt vom Aufbegehren von im
Prinzip linken StudentInnen reden, durchaus einen wichtigen Nerv treffen. Ein
alter Freund, eine Weile mitten drin in den zentralen sandinistischen Zirkeln, meinte
heute, das Fass war zum Brunnen gegangen, bis es brach, eine gesellschaftliche
Revolte sei am Kommen gewesen, unklar blieb bloss ihr Zeitpunkt und Anlass.
Aktuelle
Situation:
Soeben hat
Daniel Ortega den Rückzug des Rentendekrets vom letzten Montag bekanntgegeben.
Ob das reicht, nach den Toten die Lage zu beruhigen???
Die Lage
ist sehr konfus. Heute kam es vorallem in Managua zu massiven Plünderungen.
Viele GeschäftsinhaberInnen haben allerdings schon gestern versucht, ihre Läden
zu verbarrikadieren. Nach Angaben eines Freundes in Managua kam es daraufhin
auch zu einer Gegemobilisierungen in Monseñor Lezcano und anderen Stadtteilen:
QuartierbewohnerInnen stellten sich vor die Läden und Supermärkte, um sie zu
schützen. Das Video zeigt eine solche Aktion, definitiv keine eines
Schlägertrupps.
Beunruhigend
ist hingegen ein Video, in dem wir einen Polizeioffizier sehen, wie er heute im
Riesenmarkt Mercado Oriental die applaudierenden HändlerInnen aufruft, sich
gegen die Angriffe zu verteidigen. Es zirkulieren auch schon Videos von bewaffneten
HändlerInnen des Oriental.
Vor zwei Stunden
erreichte uns die Nachricht, dass die Armee das Spital Solidario schützt, das
geplündert werden sollte. Von Radio La Primerísima haben wir gehört, dass sie ihre
UnterstützertInnen aufgerufen haben, zum bedrohten Sender zu kommen. Offenbar
sind eine Reihe von nicht-rechten Medien gefährdet. Andererseits erreicht uns
gerade ein Strassenvideo über einen mit Kopfschuss ermordeten Jugendlichen, laut
einem erregten Kommentar eines Umstehenden kam der Schuss aus dem Bürgermeisteramt.
Die
Rentenfrage und die Falle
Wir haben
das jetzt annullierte Dekret vom letzten Montag im Internet nicht gefunden.
Laut Medienberichten sah es für die ArbeiterInnen eine Rentenbeitragserhöhung von
0.75 Prozent und für die Patrons von 2 % sowie um 1.5 % gestiegene Einzahlungen
der Regierung vor. Für Wut hat aber in der Bevölkerung insbesondere eine
Kürzung der Renten um 5 Prozent gesorgt. Einigen Angaben zufolge sollte diese
Kürzung aber nur bei sehr hohen Renten (bis $1500) greifen.
In den
Jahren der sandinistischen Revolution wurde eine sog. „beschränkte Rente für
Menschen eingeführt, die mitten in der Informalität der Arbeitsverhältnisse nie
die Chance hatten, genügend lang in das INSS einzuzahlen, um nach 750
Einzahlungswochen rentenberechtigt zu werden. Dies wurde gleich zu Beginn der der
neoliberalen Regierungen von 1990-2006 abgeschafft. In den neoliberalen Jahren
zwangen die Regierungen das INSS wiederholt zur Vergabe von faulen, nie zurückgezahlten
Krediten oder zu „Aufwandsentschädigungen“ zugunsten von führenden
PolitikerInnen u. ä. Mit dem erneuten Regierungsantritt des Frente Sandinista
im Januar 2007 änderte sich dies. Die Minimalrente wurde fast vervierfacht, eine
Reihe von unter dem Neoliberalismus abgeschafften Massnahmen wie
Rentenberechtigung für Kriegsopfer wurde wieder eingeführt. Der für das INSS
springende finanzielle Punkt war aber die Wiedereinführung der „beschränkten
Rente“ plus zusätzlich verbesserten Zugang zu Gesundheitsversorgung und Nahrungsmittel)
für jene, die keine 750 Wochen lang einbezahlt hatten.
2017 hatte
das INSS rund 2.4 Mrd. Córdobas (rund $ 78 Mio.) mehr ausgegeben als
eingenommen, was die zukünftige Rentenauszahlung gefährdet. Im gleichen Jahr
erkannten der IWF und die Weltbank, dass es Nicaragua überraschend gut gehe, ausser
einem Problem: Die Betagten leben länger. Der Fonds forderte quasi ultimativ
die Erhöhung des Renteneintrittalters von 60 auf 65 Jahren und der
Beitragsdauer von 750 auf 1500 Wochen sowie die Liquidierung der „beschränkten
Rente“, der Zahlungen an Kriegsopfer und der 13. Monatsrente Ende Jahr.
Was tat
Ortega? Er konnte nicht mehr auf venezolanische Gelder zurückgreifen wie in der
Vergangenheit. Er berief die tripartite Kommission ein. Die Unternehmerverbände
waren vom IWF-Konzept begeistert, die Gewerkschaften liefen Sturm. Ortega
ordnete das Dekret vom letzten Montag an, mehrheitlich zugunsten der Lohnabhängigen:
keine Streichungen von „beschränkter Rente“ etc., keine Erhöhung von Renteneintrittsalter
und Beitragsdauer. Er hatte die Reaktion des Unternehmerverbandes COSEP falsch
kalkuliert. Der rief gleich zum grossen „Sozialprotest“ auf.
Viele
StudentInnen und andere liefen in die Falle.
Das
jahrelang erfolgreiche Modell der Konfliktregulierung mittels venezolanischer
Solidarität für Sozialprogramme einerseits und Schmusekurs mit den Patrons ist
gescheitert. Vielleicht erkennt man jetzt im Frente die Schrift an der Wand.
Dem Vernehmen nach sind zahlreiche in den letzten Jahren „kalt gestellte“
Militante des Frente seit gestern angegangen worden, um auf den Strassen für
Orientierung zu sorgen. Wenn das aber nicht Ausdruck eines tieferen Wandels
ist, könnte die Zeit des Regierungssandinismus in Nicaragua bald vorbei sein.