Nicaragua: Lügen und Verhandlungen

Sonntag, 7. April 2019


Das oppositionelle Lügenschloss bricht zusammen

Giorgio Trucchi, 5. April 2019*
Das IKRK präsentierte gestern die abgestimmte Liste der im Rahmen der  letzten April begonnenen soziopolitischen Krise gefangen genommener Personen.
Das Rote Kreuz nennt die Zahl von 290 Personen (von denen schon über 200 in Hausarrest entlassen wurden). Das entlarvt die dreisten Lügen der in der Alianza Cívica por la Justicia y la Democracia (ACJD) und der Unidad Nacional Azul y Blanco (UNAB) organisierten Oppositionssektoren, die von nationalen und internationalen Menschenrechtsorganisationen übernommen worden sind.
Berichten, Kommuniques und einer in den affinen Medien und Netzwerken entfesselten Kampagne zufolge oszillierte die Zahl der „politischen Gefangenen“ zwischen 600 und 900. Auf der Basis falscher Daten – die Rede ist auch von über 1000 Verschwundenen – wurden internationale Kampagnen lanciert und weitere und schärfere Sanktionen gegen das Land gefordert.
An dem Tag, an dem die Opposition und diese nationalen und internationalen Organisationen den Mut aufbringen, ihre Zahlen mit jenen der (parlamentarischen) Wahrheitskommission abzugleichen, bricht ihr Lügenschloss zusammen.

Destruktive Logik
Leider können die radikalsten Oppositionssektoren wieder ihre destruktive Logik durchsetzen und erneut Voraussetzungen für den Bruch der Verhandlungen schaffen. Sie zeigen damit ihren absoluten politischen Unwillen, eine Verhandlungslösung für die Krise zu finden.
Sie haben - ohne Mobilisierungskapazität und nur sich selber vertretend (sie haben nie erklärt, wer sie ernannt hat und in wessen Namen sie reden und Entscheidungen fällen, die die ganze Gesellschaft betreffen) – am 3. April den Dialog mit den Regierungsvertretern suspendiert und mit dem Aufruf zu einer Mobilisierung einen neuen „Medienzirkus“ in Gang gesetzt.
Bleiben angesichts dieses Szenarios, in dem die Lügen platzen und die Einsamkeit und Inkonsistenz einer Opposition offenkundig wird - heute haben der Permanente Rat der OAS und deren Interamerikanische Menschrechtsorganisation CIDH diesem politischen Kadaver neuen Sauerstoff zugeführt – noch Fragen, warum sie nie zulassen werden, dass die Verhandlungen Erfolg zeitigen? Einer Opposition, die von Sektoren der internationalen Gemeinschaft und abhängigen Menschenrechtsorganisationen am Leben gehalten wird.
*             5.4.19: Nicaragua: Se derrumba castillo de mentiras opositoras

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Zu den Verhandlungen
(zas, 6.4.19) In einem gewundenen Artikel (Cuarenta nombres de presos politicos no coinciden en la lista conciliada) zitiert heute La Prensa den ACJD-Vertreter José Pallaís, ehemaliger Vizeminister der neoliberalen Chamorro Regierung, wonach die Allianz im Laufe des Tages ein Treffen mit dem IKRK abhalten werde, um dieses dazu anzuhalten, die Namen von 40 Gefangenen in seine Abklärungen mit der Regierung einzubeziehen, was es bisher angeblich nicht gemacht habe. Die Oppositionsallianz habe die Namen von 578 Gefangenen präsentiert, wovon die Regierung 288 anerkenne, aber von den verbleibenden 290 Personen habe das IKRK die Angaben der Regierung gegenüber nicht thematisiert. Es gelte nun, zu untersuchen, was mit diesen Personen los sei, ob sie z. B. im Ausland weilten. M. a. W., bisher wurde behauptet, aber nicht untersucht. Interessanterweise gibt das Allianzsprachrohr La Prensa zu den anderen 250 Personen weiter keinen Ton von sich gibt, sondern fordert vom IKRK bloss Auskunft über den angeblichen Ausschluss von 40 Leuten. Vom IKRK, das das Mandat der bisherigen Verhandlungsrunden zur Organisierung der ausgehandelten Freilassung aller im Zusammenhang mit den Unruhen Verhafteten „im Rahmen der rechtlichen Ordnung“, wie es verschieden interpretierbar heisst, angenommen hat, gibt es keine öffentliche Aussage zum Thema. Die Regierung hatte stets von 290 Inhaftierten (und teilweise Verurteilten) gesprochen, die o. e. Wahrheitskommission von rund 350.
Die Verhandlungen wurden Ende Februar überraschend in geheimen Treffen zwischen Regierungsmitgliedern und führenden Wirtschaftsmagnaten beschlossen. Neben der Gefangenenfreilassung sollten sie auch Themen wie die Wahlrechtsreform beinhalten, über deren Grundzüge sich die Regierung mit der OAS schon vor den Unruhen letztes Jahr ins Einvernehmen gesetzt hatte. Im Gegenzug sollte sich die Opposition für ein Ende der US-Sanktionen einsetzen.
Ein Teil der Opposition, insbesondere die von Washington und europäischen NGOs finanzierte „Sandinistische Erneuerungsbewegung“ MRS samt ihrem „linken“ Flügel um Leute wie Mónica Baltodano und Julio López, lief von Beginn weg Sturm gegen die Aufnahme von Verhandlungen mit der „Diktatur“. Parallel schlug die rechtsradikal dominierte katholische Bischofskonferenz eine Einladung zur Begleitung der Verhandlungen als Zeugen zurück, da sie auf eine erneute Rolle als Dirigentin des Prozesses wie in seiner ersten Version von Mai bis Juli aspirierte (dass die evangelischen Kirchen eine entsprechende Einladung angenommen hatten, scheint den Negativentscheid der Bischofsmehrheit mitbestimmt zu haben. Der vom Papst entsandte Nuntius, massgeblich am Zustandekommen des Dialogs beteiligt, sowie die von Daniel Ortega eingeladene OAS-Delegation übernahmen nun den Part als Zeugen. Eine virulente Kampagne der Rechten gegen die „Komplizenschaft“ des Nuntius beendete erst eine ihn klar stützende Erklärung Bergoglios.
Die MRS-Kreise, empört, dass ihnen nicht wie bei den „Dialog“-Runden letztes Jahr eine Starrolle zwecks Sprengung jeglichen vom Regierungssturz jetzt sofort unterscheidbaren Vorschlags zugestanden wurde (der Grossunternehmerverband COSEP leitet die rechte Delegation), organisierten an den letzten drei Samstagen „Grossmobilisierungen“  - primär im grössten Einkaufszentrum von Managua, dem Metrocentro. Ihre Mobilisierungskapazität hat nach den schlimmen Ereignissen von letztem Jahr dramatisch abgenommen. Zudem verbietet die Polizei jede Demo, die nicht mit Routenplanung und Verantwortlichen angekündigt wird. Das ist repressiv, aber angesichts der „Demokultur“ dieser Kreise so unverständlich auch nicht. Immerhin kam es bei solchen Demos nach den heissen Umsturzmonaten zu Morden – an Sandinistas.
An den ersten zwei Samstagen wurden im Metrocentro von kleinen Gruppen, die sich nur innerhalb des Einkaufszentrums bewegten, mehrere mutmassliche Sandnistas tätlich angegriffen. Schritten daraufhin die Polizeikräfte ein – in einem Fall verprügelten sie widerlich einen schon wehrlosen Mann – war der zurecht geschnittene Videobeweis zuhanden der sanktionsbegierigen Washingtoner Gemeinschaft erbracht: Verhandlungen sind bloss Zeitverlust, einzig Zwangsmassnahmen taugen etwas. Am Samstag, dem 30. März, kam es zu einer schlimmen Szene. Ein älterer Besucher von Metrocentro wurde als Sandinist erkannt und von mehreren Oppositionellen tätlich angegriffen. Er zog im Gemenge seine Pistole, drei Oppositionelle erhielten glücklicherweise nur oberflächliche Schussverletzungen, selber wurde er in kritischem Zustand hospitalisiert. Unterdrückung der Demonstrationsfreiheit, paramilitarismus – die Allianz hatte den Vorwand, die Verhandlungen zu „suspendieren“.
Heute tagte der Permanente Rat der  OAS. Zufrieden zitieren die rechten Medien den OAS-Vertreter an den Verhandlungen, Luis Angel Rosadilla, ehemaliger uruguayischer Verteidigungsminister, wonach man in wichtigen Verhandlungspunkten „keinen Millimeter weiter“ sei. Jetzt braucht es, betonen die rechten Kräfte, schärfere Sanktionen.
Es ist klar, dass die Rechte im Land zurzeit in der Defensive ist, gerade auch aufgrund ihrer im Ausland (auch von „linken“ Kräften) widerspruchslos verdrängten Verbrechen letztes Jahr. Ihre Stärke ist Washington, insbesondere, was die durch Sanktionen zu verschärfende, letztes Jahr provozierte Wirtschaftskrise betrifft. Die Schwäche des FSLN ist, dass er zum Präsidialpaar Ortega/Murillo keine Alternative aufgebaut hat. Allerdings sind in der letzten Zeit oft kritisch-unorthodoxe aussagen von Sandinistas zu hören, Resultat offenbar der vielen Diskussionen unter den Mitgliedern nach den Ereignissen des letzten Jahrs. Tut sich da was im FSLN?
Ob die Verhandlungen wirklich auf Eis sind oder demnächst wieder aufgenommen werden, scheint unklar. Es gäbe von links tatsächlich auch Fragezeichen dazu zu setzen, nicht nur bedingungslose Unterstützung. Wie etwa soll verhindert werden, dass dabei ein Règlement zwischen Regierung und Wirtschaftsbossen herauskommt und die Motive, die im April viele Menschen auf die Strasse gebracht haben, ausgeklammert bleiben? Andererseits ist der tiefe Wunsch der meisten Nicas angesichts der Monate der Angst und der gravierenden Wirtschaftskrise nach einer halbwegs gütlichen Regelung eindeutig; sie setzen auf die Verhandlungen.