Samuel Weber, Ökumenisches
Büro für Frieden und Gerechtigkeit
Im Rahmen meiner Dienstreise
hielt ich mich vom 27. April bis 11. Mai zwei Wochen lang in Nicaragua auf. Die
Einreise von Costa Rica aus über den Landweg erfolgte ohne Probleme. Angesichts
der angespannten Lage und um mögliche Nachteile für meine
Gesprächspartner*innen auszuschließen sind die meisten Aussagen anonymisiert.
Die Tragödie von Carlos Marx
In der Hauptstadt Managua angekommen verbrachte ich die ersten drei Tage bei einer
befreundeten Familie im Barrio Carlos Marx. Dieses liegt direkt an der UPOLI
(Technische Universität) und spielte im
Zeitraum der Gewalt in Nicaragua seit dem 18. April 2018 eine wichtige Rolle.
In Carlos Marx steht auch das Haus, in dem am 16. Juni 2018 sechs Menschen
durch Brandstiftung ums Leben kamen. Ich hatte dort in mehreren Situationen die
Möglichkeit, Gespräche mit Betroffenen zu führen. Laut deren Aussagen lässt
sich folgendes Bild zeichnen.
Von Anbeginn der Proteste war
Carlos Marx ein durch Barrikaden abgesperrtes Viertel (es gab dort bis zu 37
Tranques). Die Bewohner*innen konnten dieses nur unter Problemen und Angst
betreten oder verlassen. Die UPOLI war ebenfalls in Teilen besetzt. Von da aus
suchten bewaffnete und kriminelle Gruppen regelmäßig das Viertel heim. In
dieser Zeit kam es zu Plünderungen und Brandstiftung von Geschäften bzw. zur
Zerstörung von öffentlichem und privaten Eigentum. Neben dieser Gewalt wurden
besonders die Mitglieder der sandinistischen Basis mit dem Tod bedroht und
angegriffen.
Die Lehrerin Miriam Talavera
konnte von ihrem Haus aus die Kreuzung beobachten, an welcher die Colchoneria
(Manufaktur von Matratzen) steht, die am Morgen des 16. Juni angezündet wurde.
Zum Zeitpunkt des Ausbruch des Feuers waren die Tranquistas auf der Straße,
während sich die Menschen des Viertels aus Angst in ihren Häusern
eingeschlossen hatten. Die Polizei hatte an diesen Tagen aufgrund der
Barrikaden keinen Zugriff auf das Viertel.
Als sie das Feuer sieht, ruft
sie einen bekannten der sandinistischen Basis an, der die Feuerwehr informiert.
Diese benötigt aufgrund der Tranques einige Zeit, um den Ort des Unglücks zu
erreichen. Als diese dann doch eintrifft, kann Miriam Talavera beobachten, wie
die Tranquistas die Feuerwehrleute daran hindern, das Feuer zu löschen. Sie
sieht, wie zwei Feuerwehrautos gestohlen und und am Straßenrand abgestellt
werden, während das Haus weiter in Flammen stand. In diesen Momenten fassen
sich die in ihren Häusern eingeschlossenen Bewohner*innen ein Herz und
versuchen das Feuer mit Eimern und Wasser zu löschen. Für sechs Personen jedoch
kommt jede Hilfe zu spät. Miriam Talavera flüchtet am selben Tag mit ihren
Kindern aus dem Viertel, weil auch ihr damit gedroht wurde, ihr Haus
anzuzünden. Am 16. Juni ereigneten sich
jedoch noch weitere Vorfälle in Carlos Marx.
Zwischen 9 und 10 Uhr morgens
wurde der Sandinist Francisco Aráuz Piñeda von einem Tranque aus erschossen. Aussagen eines
Anwohners zufolge mit einem AK-47. Danach wurde seine Leiche mit Benzin
übergossen und angezündet. Videos von dem Vorfall finden sich im Internet.
Gegen 17 Uhr wurde der kleine Laden von Auxiliadora Sotelo Robles von
bewaffneten Tranquistas angegriffen und geplündert. Am 24. Juni wiederholte
sich dieser Vorfall. Bis heute wird sie von Mitgliedern der Opposition in
Nicaragua bedroht. Eine Nachbarin berichtet, dass traumatisierte Frau im Zuge
der Ereignisse massiv an Gewicht verloren habe.
Wenige Tage zuvor ereignete
sich in Carlos Marx ein weiterer Vorfall. Leonel Morales ist Student und
Präsident der UNEN (Unión Nacional de Estudiantes de Nicaragua). Er beteiligte
sich an den Protesten gegen die Reform der Sozialversicherung. Als das Dekret
bezüglich der INSS zurückgenommen wurde und die Proteste zunehmend gewalttätig
und kriminell wurden, distanzierte er sich von der Sache. Im Dialog
repräsentierte er die Studenten*innen auf Seite der Regierung.
Seine Kritik am Vorgehen der
Opposition wurde ihm jedoch zum Verhängnis. Am 13. Juni wurde Morales aus der
Wohnung seiner Freundin mit Waffengewalt entführten und an mehreren Tranques
sowie in den Räumen der UPOLI misshandelt. Danach wurde er mit einem Auto
weggefahren und in einen Straßengraben geworfen. Als es ihm gelingt aufzustehen
wird er mit drei Schüssen niedergestreckt. Wie durch ein Wunder überlebte er
den Vorfall schwer verletzt. (https://youtu.be/fcZY4PZM3_s)
An den Tranques und der
Gewalt in dem Viertel beteiligten sich Jugendliche und Kriminelle aus dem
Viertel. Es wurden aber auch Banden aus anderen Stadtteilen eingeladen. Auch
wird berichtet, dass für die Präsenz an den Tranques Geld bezahlt wurde. Die
Abmachung während des Dialogs, die Polizei von den Straßen abzuziehen,
erleichterte die Aktivitäten dieser Banden erheblich.
Die UPOLI fungierte zu der
Zeit als Rückzugspunkt und Bastion dieser kriminellen Gruppen.
Die absurde Gewalt der
Regierung
Später hatte ich die
Gelegenheit mit einem Vater von drei Studenten zu sprechen, die an den
Protesten der Uninversidad Nacionál de Ingería (UNI) teilgenommen haben. Dabei
wird deutlich, dass auch die Regierung, besonders an den ersten Tagen der
Proteste, durch einen an Absurdität grenzenden Einsatz von Gewalt, die Wut und
den Hass innerhalb der Bevölkerung mit hervorgerufen hat. Es wird geschildert,
dass zu Beginn der Demonstrationen gegen die Reform der Sozialversicherung wie
gewöhnlich versucht wurde, die Proteste mit Schlägertrupps aufzulösen. Als sich
dann jedoch die Student*innen mit Steinen gewehrt hatten und die UNI besetzen,
reagierte die Polizei zunehmend mit dem Gebrauch von Schusswaffen. Laut
Schilderungen kamen auch Scharfschützen und Maschinengewehre zum Einsatz. Nachdem die UNI dann gestürmt
wurde, soll es diesen Schilderungen zufolge die Polizei selbst gewesen sein,
die dann Teile der Einrichtung zerstört hatte. Nach wie vor bleibt es ein
Rätsel, was die Staatsmacht, zu einer solchen Überreaktion bewogen hat.
Mein Gesprächspartner selbst
ordnet sich keiner politischen Richtung zu. Trotz einiger Hoffnungen zu Beginn
hat ihn die Regierung von Daniel Ortega enttäuscht, wobei er auch kein
Vertrauen in die anderen Parteien hat. Besonders kritisch sieht er die Rolle
der MRS (Movimiento de Renovación Sandinista) und die der sogenannten Gruppen
de Zivilgesellschaft. Diese hätten zu der Zeit als die Technische Universität
(UPOLI) besetzt war, die Protestierenden mit Material zum Bau von Morteros und
Waffen versorgt. Allerdings vertreten deren Mitglieder seiner Meinung nach
nicht die Interessen der Bevölkerung, sondern verfolgen durch die Einmischung
in die Proteste eigene Machtinteressen. Ähnlich kritisch sieht er auch die
Rolle der diversen Menschenrechtsorganisation, die bereits seit Jahren jegliche Neutralität
aufgegeben hätten und klar auf Seite der Opposition stünden. Richtige
Menschenrechtsgruppen hingegen, müssten die Opfer auf Seiten der Sandinisten
wie die der Polizei genau so behandeln wie die Opfer der Opposition. Trotz
dieser kritischen Haltung ist für ihn klar, dass die Regierung Ortega keine
Zukunft mehr in Nicaragua haben kann. „Eine Regierung die auf unbewaffnete
Student*innen schießt, das geht nicht. Das kann einfach nicht sein!“ Trotz der
Angst um seine Söhne, wollte er ihnen nicht verbieten, an den Demonstrationen
teilzunehmen. Jedoch fragte er sich immer wieder: „Was werde ich machen, wenn
sie eines meiner Kinder töten. Wir werde ich reagieren?“
Eindrücke bei den Menschen
auf dem Land
Auf dem Land finden sich
verschiedene Meinungen und Perspektiven hinsichtlich der Ereignisse des letzten
Jahres. Eindeutig ist, dass die Tranques Ausgangspunkt extremer Gewalt waren
und wenig bis gar nichts mit friedlichen Protesten zu tun hatten. Schusswechsel
dort waren so normal, dass sie von meinen Gesprächsparter*innen fast beiläufig
erwähnt wurden. Nicht nur in den armen Stadtvierteln im Süden Matagalpas wird
auch dort offen Geschildert, dass dort bezahlte Kriminelle, Alkoholiker und
Drogensüchtige eingesetzt wurden. Woher das Geld für die Bezahlung kam ist
nicht klar. Es ist aber kein Geheimnis, dass die Barrikaden in vielen Fällen
von der politischen Rechten organisiert und dirigiert wurden. Zum Teil dürfte
das Geld dort auch direkt durch kriminelle Aktivitäten erwirtschaftet worden
sein.
Wie geschildert wurde war ein
Teil der Bevölkerung auch nicht bereit der Gewalt, die durch die Proteste
ausging, tatenlos zuzusehen. Stattdessen organisierte man sich und versucht,
öffentliche Gebäude vor der Zerstörung zu bewahren. In diesem Zusammenhang
schildert ein Gesprächspartner, wie sein Freund bei der Verteidigung eines
Rathauses von einer Kugel der Tranquistas schwer verletzt wurde.
Andererseits wird aber auch
immer wieder darauf hingewiesen, dass es in der Vergangenheit aufgrund der
intoleranten Haltung der Regierung immer schwieriger wurde auch legitime
Anliegen und soziale Forderungen auf die Straße zu bringen. Auch wird immer
wieder die Meinung formuliert, dass angesichts der extremen Gewalt und der
weitaus besseren Bewaffnung der Regierungsseite, die Gewalt von Teilen der
Proteste in gewisser Weise durchaus nachvollziehbar sei, bzw. nicht ausreiche
um diese zu delegitimieren. Als bedrückend wird auch die nach wie vor hohe
Anzahl der Inhaftierten gesehen. Es entsteht
der Eindruck, dass zahlreiche Verhaftungen und Verurteilungen willkürlich bzw.
aus politischen Motiven vorgenommen wurden. In einigen Fällen werden auch
persönliche Streitigkeiten mit hohen sandinistischen Funktionären vermutet.
Auch kann nicht ausgeschlossen werden, dass zahlreiche Zeugen bei den Prozessen
für belastenden Aussagen bezahlt oder bedroht worden seien. Deutlich zu spüren
ist das Misstrauen gegenüber der Polizei und der Justiz. Zu oft haben sich in
der Vergangenheit Aussagen der Regierungsseite als falsch herausgestellt.
Eine Realität in der es
schwer fällt, die Guten und Bösen eindeutig auszumachen
Allgemein stellt sich die
Situation vor Ort als eine hochkomplex Realität dar, in der es sehr schwierig
erscheint, die Guten und die Bösen eindeutig auszumachen. Wie so oft sind es
allerdings die ärmeren Teile der Bevölkerung, die am meisten unter der Krise zu
leiden haben. Neben dem Schaden durch zerstörte Infrastruktur wie
Krankenstationen, Rathäuser oder Sportplätze trifft die Menschen die
wirtschaftliche Lage und die Verteuerung der Produkte. Andererseits hat der
Konflikt zahlreiche Gemeinden und sogar Familien tief gespalten. Einem
kommunalen Radio hat die lokale Verwaltung mit dem Entzug der Lizenz gedroht,
sollte dort zu den Protesten gegen die Regierung aufgerufen werden. Andererseits
haben die Anhänger der Alianza Civica (Bündnis von Oppositionsgruppen) damit
gedroht das Radio anzuzünden, würde dort nicht klar gegen die Regierung
Stellung bezogen. Es gab Nächte bei denen Bewaffnete und Vermummte von den
Tranques in der Nähe des Radios aufgetaucht sind. Passiert ist jedoch zum Glück
nichts.
Leben mit den Wunden der
Konfliktes
Überparteilich arbeitenden
Organisationen wie das Movimiento Comunal Nicaragüense arbeiten daran, zum
Beispiel durch Initiativen für eine Kultur des Friedens und der Gewaltfreiheit
die Einheit der Gemeinden zu erhalten und Konflikte zu überwinden.
Trotz aller Schwierigkeiten
sind die Anstrengungen der Regierung, die wirtschaftlichen Folgen für die
Bevölkerung abzumildern und die Sozialprogramme aufrecht zu erhalten
unübersehbar. Gerade das Ministerium für Gesundheit zeigt Präsenz durch
Aufklärungskampagnen, kostenlosen Impfungen und dem Einsatz mobiler Kliniken.
Auch die Programme für die Schulspeisungen laufen weiter, was von vielen
Menschen auf dem Land explizit honoriert wird.
Äußerlich scheint sich das
Nicaragua 2019 von dem Nicaragua 2017 nicht großartig zu unterscheiden. Das
Leben geht seinen Gang und es gibt wieder ein gewisses Maß an Sicherheit. Auch
das Auswärtige Amt hat seine Reisewarnungen für das mittelamerikanische Land
aufgehoben. Niemand mit dem man spricht, möchte eine Wiederholung der
Ereignisse des Jahres 2018.
Dennoch sind lassen sich
hinter dieser Oberfläche die Wunden des Konfliktes nur schwer verdecken. So
patrouillieren in einigen Städten Nachts mit Maschinengewehren bewaffnete
Männer auf Motorrädern die Straßen. Oft sind diese wenig qualifiziert für ihrer
Tätigkeit und gehen sehr willkürlich gegen die Bevölkerung vor.
Demonstrationen, auch wenn sie konkreten Anliegen dienen, und nicht den Sturz
der Regierung im Sinn haben, können nach wie vor nicht durchgeführt
werden.
Vom Dialog der derzeit in der
Hauptstadt Managua stattfindet ist kein großer Durchbruch zu erwarten. Zu
hoffen ist lediglich, auf die Freilassung der Gefangenen. Diese wäre kein
Resultat der Macht und des Einflusses der Opposition sondern scheint lediglich von
der Gnade der Regierung abzuhängen. So hat die Alianza Civica politisch
keinerlei Druckmittel in der Hand. Faktisch haben deren Vertreter*innen auch
wenig Einfluss auf die im Dialog thematisierten und von den den USA und EU
angedrohten Sanktionen. Die in den Verhandlungen anwesenden Akteure
repräsentieren darüber hinaus eher die Interessen einer kleinen Elite als die
der Bevölkerung. Selbst wenn es gelingen sollte im Jahre 2021 mehr oder weniger
transparente Wahlen durchzuführen, muss befürchtet werden, dass die unterlegene
Seite den Sieg der jeweils anderen nicht anerkennen wird. Angesichts der
polarisierten Lage sind bei einem Machtwechsel auch Racheaktion gegen Menschen
die vermeintlich dem Sandinismus nahestehen, keineswegs auszuschließen.