(zas, 30.4.19) Wenn ein namhafter Thinktank Russland der
Verantwortung für den Tod von 40'000 Menschen in der Krim praktisch überführt
hätte, wie denkst du, wäre das internationale Medienecho gewesen? Wenn ein
namhafter Thinktank das zu den US-Angriffen in Venezuela täte, wie denkst du, wäre
das Medienecho? Die Antwort gibt uns Berichterstattung der letzten Tage mit
ihrem Schweigen.
Ende letzter Woche veröffentlichte der progressive
Washingtoner Thinktank Center for Economy and Policy Research (CEPR) den Bericht
Economic Sanctions as Collective
Punishment: The Case of Venezuela von
CEPR-Co-Direktor Mark Weisbrot und Jeffrey Sachs, demzufolge die US-Sanktionen seit
August 2017 mit grösster Wahrscheinlichkeit mehr als 40'000 Menschenleben
gefordert haben. Beide sind Ökonomen, beide werden in den USA von den Mainstreammedien
gerne zitiert – nicht in diesem Fall. Sachs ist ein Starökonom, heute Berater
des UNO-Generalsekretärs, früher berüchtigt wegen seiner zentralen
Beratertätigkeit in Russland für Gorbatschow und Jeltsin in Sachen schockartige
Einführung der freien Marktwirtschaft mit dem Resultat enorm gesunkener
Lebenserwartung für die Unterklassenbevölkerung. Ihr Papier ist ein Muss. Nicht,
weil die Erkenntnis neu wäre, dass diese Sanktionen mörderisch sind (und das
sein müssen, sonst verfehlten sie ihren Zweck), sondern weil einerseits in
aller gewünschten Kürze wesentliche ökonomische Mechanismen und Resultate der
Sanktionen prägnant beleuchtet werden, und vor allem weil wohl zum ersten Mal eine
leider plausible Zahl der Todesopfer genannt und begründet wird.
Wie kommen die Autoren auf die Zahl von 40'000 Toten? Sie
schreiben: «Der Nationalen Erhebung zu den
Lebensbedingungen» (span. ENCOVI) zufolge, einer jährlichen Erhebung von drei venezolanischen
Universitäten, stieg die allgemeine Sterblichkeitsrate von 2017 zu 2018 um 31
%. Die bedeutet eine Zunahme um mehr als 40'000 Todesfälle. Dies käme sogar in
einem bewaffneten Konflikt einem erheblichen Verlust von Leben in der
Zivilbevölkerung gleich, und es ist praktisch sicher, dass die US-Sanktionen
einen substantiellen Beitrag zu diesen Todesfällen geleistet haben.».
Warum? Zur Klärung
dieser Frage behandelt das Papier in kurzer und prägnanter Form zwei zentrale
Sanktionenbündel: jenes von August 2017 und das von letztem Januar. Zum ersten
sagen sie: «Die Sanktionen von August
2017 verboten der venezolanischen Regierung, Geld in den US-Finanzmärkten zu
leihen. Das hinderte die Regierung zum
einen an jeglicher Schuldenrestrukturierung, denn eine solche erfordert Schuldenrestrukturierung erfordert das
Auflegen neuer Bonds im Tausch für bisherige. Obwohl die August-Sanktionen technisch
nur das US-Finanzsystem betrafen, zeitigten sie faktisch massive Auswirkungen
auch ausserhalb des US-Finanzsystems. Erstens, weil die Restrukturierung mit
Gruppen von Anleihenhaltern verhandelt wird, die unweigerlich US-Anleihenhalter
einschliessen, und zweitens, weil die Finanzinstitutionen ausserhalb des
US-Finanzsystems gute Gründe für die Annahme hatten, dass weitere Sanktionen
sie betreffen könnten. Das war in den nächsten anderthalb Jahren auch
tatsächlich der Fall.»
Sachs und Weisbrot zitieren in diesem Zusammenhang Reuters vom
28. März 2019 (US Orders Foreign Firms to Further Cut Down on Oil Trades): «Die USA haben weltweit Ölhandelshäuser und
Raffinerien angewiesen, den Handel mit Venezuela weiter zu reduzieren oder
selber Sanktionen zu gewärtigen, sogar wenn die Handelsbeziehungen von den
veröffentlichten US-Sanktionen nicht verboten werden, sagten drei mit der Materie
vertraute Quellen (…) Das Office on Foreign Assets Control (OFAC) des Finanzministeriums
kündigte Anfang Februar ein Verbot der Benutzung des US-Finanzsystems für
Öldeals mit Venezuela nach April an (…) Aber diese Woche hat das US-State
Department ausländischen Firmenn telefonisch mitgeteilt, dass die Reichweite
der Sanktionen weiter gehe.» Selbst die halb-staatliche russische Gazprom
habe deswegen ihre Beziehungen mit PDVSA abgebrochen. Die auch wegen der seit
2016 massiv fallenden Erdölpreise in die Bredouille geratene staatliche
Erdölgesellschaft PDVSA wollte gerade ihre Schulden restrukturieren, um nicht binnen
zwei Jahren $ 7.1 Mrd. an Schulden begleichen zu müssen. Der Dollaresel des
Landes, die US-Filiale CITGO von PDVSA, durfte fortan keine Gewinne mehr nach
Venezuela repatriieren (im Vorjahr noch $ 2.5 Mrd.). Vorallem aber sackte exakt
mit Beginn der Sanktionen die Ölförderung um das Dreifache des wegen der tiefen
Weltmarktpreise verursachten Rückgangs von 2016 ein – die fehlenden Kredite
wirkten sich nun auf Unterhalt und produktive Investitionen aus. Der Rückgang kostete
2018 $ 6 Mrd. Er betrug in diesem Jahr 30.1 %, 2017 waren es noch 11.5 % gewesen.
Zur Situierung der vielbeschworenen humanitären Krise: Das Import-abhängige
Venezuela gab 2018 insgesamt $ 10 Mrd. für Einfuhren aus, allein $ 2.6 Mrd. für
Nahrung und Medikamente. Ein weiteres Problem war die im August 2017 schon hohe
Inflation (die, von den Autoren nicht erörtert, zu einem wesentlichen Teil über
Wechselkursmanipulationen gigantischen Ausmasses verursacht worden war.) Doch
sie schreiben etwas anders Interessantes: «Der
Verlust so vieler Milliarden an Devisen und Regierungseinkommen war
höchstwahrscheinlich der Hauptschock, der die Wirtschaft in die Hyperinflation
trieb. In der Geschichte haben Hyperinflationen gemeinsam, dass sie von einem grossen
externen Schock bei Regierungseinnahmen und Zahlungsbilanzen ausgelöst werden,
was in Venezuela nach der Umsetzung dieser Sanktionen der Fall war.» (Jeffrey Sachs gilt nach einer von ihm
konzipierten antisozialen Rosskur in Bolivien 1985, bei der die Hyperinflation
binnen zehn Tagen beendet wurde, als ausgewiesener Spezialist in der Materie.)
Die Autoren gehen weiter auf in den Medien kaum erwähnte Weiterungen
der Sanktionen im September 2017 ein, die offiziell nicht unter diesem Titel
liefen. Das US-Finanzministerium warnte damals,
«alle venezolanischen
Regierungsinstitutionen einschliesslich der Staatsunternehmen erscheinen als
verletzbar durch Korruption und Geldwäscherei», weshalb US-amerikanische (und
implizit generell westliche, s. o. ) Finanzinstitutionen regulatorische
Verpflichtungen zur Vermeidung von Involvierung via den Handel von Wertpapieren
der venezolanischen Institutionen einhalten müssten. Die Folge war, dass Venezuela
einen Grossteil seiner internationalen Bankverbindungen verlor (auch bei UBS
und CS) mit dramatischen, «vielleicht
noch wichtigeren» Auswirkungen als die August-Sanktionen auf die Wirtschaft
und damit die Lage der Menschen.
Die Sanktionen von Januar 2019 zerschnitten die Beziehungen
Venezuelas mit seinem immer noch grössten Ölmarkt – den USA (2018: 35.6 % aller
venezolanischen Ölexporte). Die Autoren rechnen deshalb mit einem «beispiellosen» BIP-Einbruch von 37.4 %
im laufenden Jahr (2018: 16.7 %). Ging im zweiten Semester 2018 die
venezolanische Ölproduktion um 24'000 Fass pro Tag zurück, fiel sie von Januar
auf Februar 130'000 Fass/Tag. Im März reduzierte sich die Produktion gar um 289'000
Fass/Tag auf 431'000 Fass/Tag. Im Resultat wird für das laufende Jahr ein Exporteinnahmeverlust
zwischen 21 % und 67. % veranschlagt. Hinzu kommen Beschlagnahmungen
venezolanischer staatlicher Ressourcen wie Gold im Wert von $1.2 Mrd. durch die
Bank of England oder die Abtrennung
Venezuelas vom System der für den internationalen Zahlungsverkehr unentbehrlichen
Korrespondenzbanken im Ausland u. v. a.
«Auf der anderen Seite,
dem Kauf von Importgütern», ist weiter zu lesen, «hat die Administration Trump der öffentlichen Gesundheit und
Sicherheit der Bevölkerung einen schweren Schlag mit der Verhinderung seiner
Zahlungsmöglichkeiten für die Importe versetzt, die es noch mit dem
verbleibenden Cash Flow bezahlen könnte. Das schränkt natürlich den Zugang der
Bevölkerung zu essentiellen Importgütern im Bereich Gesundheit und Ernährung
ein.»
Zu der dramatischen Erhöhung der Sterblichkeitsraten von
2017 auf 2018 halten die Autoren fest,
dass 2018 nach Angaben der Pharmabranche 85 % der Medikamente fehlten, oder
dass, gestützt auf Angaben rechter Organisationen im Gesundheitsbereich, mehr
als 300'000 Menschen wegen Abhängigkeit von antiretroviralen oder Krebsmedikamenten
oder Dialysebehandlungen sowie 4 Millionen mit Diabetes und Bluthochdruck wegen
des Mangels an Medikamenten gefährdet seien. «Diese Zahlen allein», schreiben sie, «garantieren, dass die Sanktionen von 2019, die weit härter sind als die
zuvor umgesetzten, für zehntausende von Menschen, die das Land nicht für die Suche
nach Medikamenten anderswo verlassen können, ein Todesurteil darstellen.» Diese
noch gar nicht erfasste verschärfte Bedrohung für das Leben der «verletzbaren
Bevölkerung» - laut UN-Bericht Kinder und Jugendliche, Arme oder extrem Arme,
schwangere oder stillende Frauen, Alte, Indigene, Menschen mit Behinderung,
LGBTI-Menschen – betonen die Autoren mehrmals. Zum Beispiel im Schlusssatz
ihres Papiers: «Die Sterberate in diesem
Jahr wird, falls die Sanktionen in Kraft bleiben, fast sicher weit höher sein
als alles, was wir bisher gesehen haben. Dies wegen des beschleunigten
Niedergangs der Ölförderung und damit der Verfügbarkeit von essentiellen Importen,
sowie wegen der beschleunigten Senkung der Einkommen pro Person.»
Natürlich ist in den Todesdokumenten der 40'000 nicht «Sanktion»
als Todesursache festgehalten. Es gibt aber, betonen Weisbrot und Sachs, keine
andere plausible Erklärung für die exakt mit den Sanktionen abrupt zunehmende
Sterblichkeitsquote. (Die üblichen Behauptungen - chavistische Misswirtschaft,
Kleptokratie etc. – wären logisch nur unter der Bedingung überhaupt
diskutierbar, dass gesagt würde, bis 2017 habe es diese Missstände so gut wie
nicht gegeben.)
____
Die systematische Zerstörung der Wirtschaft, das bewusst in
Kauf genommene Sterben Unzähliger, das Leiden Vieler mehr, das ist Terrorismus.
Und wenn man die unsäglich dumm oder verlogen, im
Expertenmodus in den Medien vorgetragenen Kommentare zur Machtgeilheit eines
Maduro, zur Inkompetenz der sozialistischen Regierung etc. in diesen Kontext
stellt, kommt vielleicht eine Ahnung von Grauen auf. Eine massenmörderische
Zielorientiertheit gepaart mit oberflächlichem Smalltalk, mit orchestriertem medialen
Verwedeln, dessen PropagandistInnen, ob bewusst oder nicht, Rädchen in der
Vernichtungsmaschinerie sind. «Es», der Mord, läuft mit ihnen dann besonders
geschmiert, wenn sie sich in ihrer moralischen Entrüstung ob der chavistischen
Herzlosigkeit suhlen.