(zas,
30.6.19) In Jena gibt es eine offizielle Städtepartnerschaft mit der
nicaraguanischen Stadt San Marcos. Der folgende Text stammt aus ihrem Umfeld. Wir erhielten ihn von der Städtepartnerschaft Biel-San Marcos
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Das
erste, was vielen Sandinisten zu Beginn der Krise auffiel, war eine
große Verunsicherung, es gab und gibt viel Desinformation,
Manipulation, vor allem über die sog. Sozialen Netzwerke.
Der
entscheidende Punkt scheint mir die Desinformation, Verwirrung,
Manipulation zu sein. Vor allem über die „sozialen Medien“ wurde
viele Desinformationen verbreitet, die vor allem die Jugend erreicht
haben. Zum Beispiel gab es auf beiden Seiten schwarze Listen und die
Namen einiger Leute tauchten auf beiden auf. Eine Studentin war in
Europa, soll aber antisandinistische Aktivitäten angeführt haben.
Im
April 2019 hat das Internationale Rote Kreuz seinen Bericht
korrigiert (Quelle: Nicanotes): statt über 1.000 gab es „nur“
290 politische Gefangene, von denen 200 bereits wieder aus dem
Gefängnis (im Hausarrest) sind. Es gibt auf oppositionsnahen
Blogs (Confidential, Trinchera de la noticia) nachweislich falsche
Daten und Behauptungen; regierungsnahe Blogs (Informe Pastrán)
blenden bestehende Probleme weitestgehend aus.
Viele
Leute sind bis heute sehr unzufrieden, und das war eine der Ursachen
der Unruhen. Der Hauptgrund ist die Korruption. Beispiel: ein Betrieb
wird seit Jahren von einem alten Kader gut geführt. Plötzlich wird
der entlassen und durch einen Menschen aus dem engeren Kreis des
Präsidenten ersetzt, der verdient jetzt 2.000 $ statt 800. Rafael
Solis (Richter am Verfassungsgericht, der sich der Opposition
angeschlossen hat) war einer der korruptesten Funktionäre.
Gespräche:
Ein
Kassierer in einem Mikrobus: Wir werden alle aufpassen, dass so etwas
nicht wieder passiert. Früher sind wir 4-5 Mal am Tag nach Managua
gefahren, heute manchmal nur zwei Mal. Als es die Straßensperren
gab, mussten wir riesige Umwege fahren, um die Arbeiter in die
Hauptstadt zu bringen, obwohl viele Gringos und Japaner ihre Firmen
geschlossen haben und viele Menschen arbeitslos wurden. In La Concha
mussten wir 300 C$ zahlen, um durchgelassen zu werden. Wir haben uns
nicht bewaffnet, aber viele Frauen und Jugendliche waren sehr wütend
wegen der Situation. Es ist gut, dass die Armee nicht eingegriffen
hat, nur die Polizei und die Paramilitärs. Azul y Blanco ist eine
Erfindung der CIA.
Eine
Studentin: Ich war während der heißen Phase nicht in Nicaragua,
habe mich währenddessen über soziale Netze informiert, und als ich
zurückgekommen bin, hat sich meine Meinung über die Unruhen total
gewandelt. Das war keine Revolution und kein Aufstand. Jetzt glaube
ich, dass diese Bewegung keine wirkliche Opposition ist, es ist eine
Mischung aus Kriminellen, Söldnern und sehr wenigen Leuten, die
politisch etwas ändern wollen.
Die
tranques waren anfangs ein Ausdruck der Unzufriedenheit der Leute,
sie wollten den Transport und die Wirtschaft stören, um die
Regierung auf sich aufmerksam zu machen. Zu Beginn waren Studenten an
den Straßensperren, später kamen NROs und haben Führer eingesetzt,
diese bezahlt und auch Waffen verteilt.
Ein
Liberaler: das, was ihn während der Einnahme von Masaya am meisten
beeindruckt hat: es waren unglaublich viele Drogen und viel Geld im
Umlauf. In einigen Städten wurden die Stadtverwaltungen
abgefackelt; das hat nur diejenigen erfreut, deren Heiratsunterlagen
jetzt weg sind.
Ein
katholischer Pfarrer: Die meisten Gruppen der Opposition sind so weit
von der Realität entfernt, dass sie nicht an einer Einigung
interessiert sind. Es gibt viel Angst und Repression, im Moment
herrscht ein Zustand der gespannten Ruhe. Der Bischof hat angewiesen,
dass die sozialen Projekte der Kirche nicht gestoppt werden sollen;
sie sollen das wenige Geld, das sie haben, für das Volk einsetzen
(RH: zumindest in San Marcos gibt es keine sozialen Projekte der
Kirche, sondern von Bibelkreisen etc.=Zivilgesellschaft). Nicht die
Kirche hat die Regierung angegriffen, sondern die Regierung die
Kirche. Die Regierung hat am 19. 07. 2018 ihren Angestellten
verboten, in die Kirche zu gehen (zwei Katholiken sagen mir, dass das
eine Lüge ist). Der Pfarrer spricht von friedlichen Protesten, ohne
zu erklären, wer Polizeistationen angegriffen und Stadtverwaltungen
niedergebrannt hat.
In
einer katholischen Gemeinde in Corinto: Sie haben einen eigenen
Fernsehkanal, dessen Sendungen lokal ausgestrahlt werden. Sie
haben auch Programme, die live gesendet werden und bei denen jeder
sprechen kann, der will. Es gibt keine Beschränkungen, lediglich
redaktionelle Kommentierungen.
Ein
ehemaliger Bürgermeister (FSLN): Die Leute waren unzufrieden, weil
Posten (Lehrer, Ärzte) mehr nach Parteibuch als nach Fähigkeit
besetzt wurden. An der Atlantikküste wurde viel gemacht (Straßen,
Hospitäler, Schulen), aber das hat auch Glücksritter, Holzhändler
usw. angelockt. Die Regierung hat beim Waldbrand im Naturschutzgebiet
Indio Maíz zu spät und falsch reagiert. Im Moment gibt es keine
Bewegung, weil sich beide Seiten in ihren Positionen eingegraben
haben. Die Zusammensetzung von Azul y Blanco ändert sich ständig.
Wenn es vorgezogene Wahlen gäbe, schätzt er das Ergebnis 50:50,
wenn die Opposition wie 1990 eine Union bildet.
Ein
aktiver Politiker (FSLN): Solange Daniel an der Macht ist, gibt es
ein einigermaßen konstruktives Verhältnis mit den USA: der
Handel floriert, es gibt Frieden und Sicherheit, die
Eigentumsverhältnisse im Land werden nicht angetastet.
Die
Alianza Civil wird vom Volk auch deshalb nicht respektiert, weil sie
keine der ursprünglichen Forderungen der Demonstrationen (Änderungen
im Sozialsystem, Umweltschutz) in den Dialog mit der Regierung
eingebracht hat.
Ein
Sandinist: Nicaragua wird in den kommenden 3-5 Jahren ein sehr
instabiles Land sein.
Die
FSLN ist heute totalitärer als sie jemals war, es wird nichts mehr
gemacht, was nicht von oben kommt. Die Jugend bekommt keine
politische Bildung.
Daniel
garantiert, dass es ein ruhiges Verhältnis mit den USA gibt. Für
die FSLN-Mitgliedschaft ist der Erhalt der Errungenschaften der
Revolution wichtiger als die Regierung.
In
der zweiten Runde des Dialogs sind die Wortführer die Wirtschaft und
die Banken; die ersten, die gesprochen haben, waren Vertreter der
fünf reichsten Familien des Landes.
Daniel
hat clever reagiert: er wusste, dass Studenten keine tranques machen
und dass die Rechte nicht genug Leute dafür zusammenbekommt. Und
wirklich erzählen die meisten Menschen, dass an den Straßensperren
hauptsächlich Alkoholiker, Drogenabhängige, gewöhnliche Kriminelle
usw. waren; Studenten hat man dort nicht gesehen. Bei einigen heißen
die Oppositionellen nur „los vandálicos“. Auch bei einfachen
Leuten gab es viel Ärger über die tranques und die Unruhen, weil
sie nicht zum Studium kamen, ihre Geschäfte behindert wurden etc.
Eine
Krankenschwester: natürlich geht es vielen Menschen hier besser als
noch vor Jahren. Aber vieles von dem, was gemacht worden ist, würde
von oben angeordnet und nicht mit den Leuten besprochen.
Ein
Sandinist, der bei den Paramilitärs war: Alles kam so sehr
überraschend, dass wir es uns nicht anders erklären können, als
dass es vorbereitet war. Unzufrieden war nur die Mittelschicht, die
Kinder reicher Familien. Anfangs sind einfache Leute zu den
Barrikaden gegangen, später waren es fast nur noch Kriminelle. Die
ärmeren Menschen haben schnell gemerkt, dass sie unter den
Straßensperren nur leiden und durch die Demonstrationen nichts
gewinnen.
Die
Polizei war weder in der Lage noch dafür ausgerüstet, die tranques
zu beseitigen. Deswegen hat die Regierung nicht gleich mit den
Räumung begonnen, damit es nicht so viele Opfer gibt.
Für
die FSLN war die Krise ein Schock, von dem sie sich nur langsam
erholt. Vor uns steht jetzt die Aufgabe, mit der politischen Bildung
der Mitglieder, vor allem der Jugendlichen, zu beginnen. Wir müssen
entscheiden, ob wir eine Kader- oder eine Massenpartei sein wollen.
Eine
Deutsche, die seit Jahren in Nicaragua lebt: Die meisten Menschen
haben unter der Krise gelitten, zeitweise gab es nicht genug Essen.
Als die Straßensperren geräumt wurden, haben die Polizei und die
Paramilitärs vorher in die Luft geschossen, damit jeder weiß, was
passiert. So haben sie Opfer vermieden, nur an wenigen Orten gab es
dabei Verletzte. Als die Sperren geräumt wurden, hat man gesehen,
dass die Jugendlichen nicht in die benachbarten Stadtviertel
geflüchtet, sondern weit weg gerannt sind; sie waren nicht in der
Bevölkerung verankert.
Eine
Verkäuferin auf dem Kunstgewerbemarkt Masaya: Im Juni ist hier fast
der ganze Markt abgebrannt, weil es auf der benachbarten Straße eine
Auseinandersetzung zwischen der Polizei und Azul y Blanco gab. Wer
das Feuer ausgelöst hat, wissen wir nicht. Wir haben von der
Regierung inzwischen einen Kredit bekommen, damit wir unsere
Geschäfte wieder eröffnen können.
Ein
paar Tage später wollte die Opposition den populären Markt in
Masaya überfallen und anzünden. Da haben die Verkäufer auf
dem Markt sich mit Macheten und Knüppeln bewaffnet und ihre Stände
rund um die Uhr verteidigt. Es gab viele Plünderungen von Geschäften
und Supermärkten.
persönliche
Zusammenfassung:
Es
ist alles komplett anders, als es in der BRD in der Presse, auch der
linken, berichtet wurde.
Aus
eigentlich nichtigen Anlässen (eine Demonstration von Menschen, die
von IWF-Maßnahmen betroffen waren, wurde von der Polizei
auseinandergetrieben; Demonstrationen gegen die zögerliche
Reaktion der Regierung auf einen Waldbrand im Naturschutzgebiet
wurden verboten) hat sich in kurzer Zeit eine praktisch landesweite
Krise entwickelt. Diese war sehr vielschichtig und hat viele
unterschiedliche Akteure; es gibt dabei kein „Gut“ und kein
„Böse“. Es war für alle überraschend, wie schnell sich
die Demonstrationen ausgeweitet haben und in Gewalt umgeschlagen
sind. Zweifellos hat die Regierung unangemessen auf die
Demonstrationen reagiert, was ein Symptom dafür ist, dass sie
sich vom Volk entfernt hat. Der darauffolgende Gewaltausbruch wurde
von den Rechten, von Reichen, teilweise von der Kirche gefördert -
und es würde mich doch sehr wundern, wenn nicht auch die CIA über
internationale NROs dahinterstecken würde.
Als
eine Ursache für die Unzufriedenheit sehe ich die großen sozialen
und wirtschaftlichen Unterschiede, die es in Nicaragua noch
immer gibt: vielen Leuten geht es besser als vor Jahren und es wurde
viel für die Verbesserung der Infrastruktur und der
Lebensbedingungen getan. Aber Wenige konnten ihren Reichtum extrem
steigern, für Viele hat sich der Standard nur wenig verbessert. Da
es dabei keine politische Bildung gibt, ist es für viele Leute nicht
ersichtlich, wohin die Entwicklung geht. Die Gerechtigkeit, von der
so viel gesprochen wird, bezieht sich m. E. weniger auf die von uns
Europäern so hoch gehaltenen Menschenrechte (Presse- und
Meinungsfreiheit usw.) als auf gleiche Entwicklungschancen für alle.
Man
kann nicht sagen, dass es sich bei den Demonstrationen,
Straßensperren und Angriffen auf staatliche Einrichtungen um eine
Oppositionsbewegung gehandelt hat. Aus einem Wutausbruch hat sich
erstaunlich schnell organisierte Kriminalität entwickelt.
Ebensowenig hat die Regierung adäquat reagiert. Die Niederschlagung
von Demonstrationen, die Entlassung von Angestellten, die auf
irgendeine Weise mit Azul y Blanco in Verbindung gebracht wurden, das
Arbeitsverbot für Ärzte, die Verwundete auf beiden Seiten versorgt
haben, das alles zeugt nicht von Souveränität. Was man der
Regierung zugute halten kann, ist das lange Gewährenlassen der
vandálicos an den Straßensperren und dass sie nicht - wie von
einigen gefordert - sofort die Armee zur Säuberung eingesetzt hat.
Heute muss man leider sagen, dass die Regierung das nicht beherzigt,
was Che uns gelehrt hat: implacable en el combate, generoso en la
victoria“.
Azul
y Blanco ist keine Opposition, sondern eine Ansammlung Unzufriedener,
vor allem aus der Mittelschicht. Sie sind nicht auf vorgezogene
Wahlen vorbereitet, weil sie weder ein Programm noch Politiker und
erst recht keinen Plan zur Lösung der Probleme des Landes haben. Die
Forderung nach Daniels Rücktritt ist politisch genauso unreif
wie die PEGIDA-Losung: Merkel muss weg! Vorgezogene Neuwahlen und ein
Rücktritt des Präsidenten würden der Verfassung widersprechen und
das Land ins Chaos stürzen. Ich frage mich, wieso das aus linker
Sicht wünschenswert sein sollte. Bei allem, was an der Politik der
FSLN zu kritisieren ist: es gibt keine progressive Alternative für
das Land!
Bezeichnend
ist, dass die Alianza Civil am 17. 04. 2019 zum Jahrestag der Unruhen
in Managua eine Demonstration machen wollte, dafür aber nicht
genügend Leute zusammengekriegt hat. Ähnlich wie in der BRD
wird hier den alten Politikern und Funktionären, den Parteien wie
auch den Massenmedien weniger geglaubt als dem, was man in den
sozialen Medien liest. Das ist vor allem bei den Jugendlichen so.