Julio Robles
Seit dem 21. November erlebt Kolumbien Volksmobilisierungen,
die jeden Tag grösser werden. Die Dauer der Bewegung beeindruckt in einem Land,
das bisher für Gewalt und militärische Konfrontationen bekannt war.
In Kolumbien hat es stets kämpferische Volksbewegungen
gegeben. Ihre Kriminalisierung hatte zum Entstehen der Guerillas geführt. Zu
den klassischen Volksbewegungen wie jener der Studierenden oder der
Gewerkschaften kommen heute neue Gruppen, Organisationen und unorganisierte
Bevölkerungssegmente hinzu, die zu den privilegierteren und traditionell protest-fremden
Schichten gehören.
Der innere Feind ist weg; wen also kann Präsident Duque für
die soziale Katastrophe verantwortlich machen, welche die KolumbianerInnen seit
Jahrzehnten durchmachen? Jedenfalls nicht mehr die Guerilla der FARC-EP. Man
muss bis nach 1977 zurückgehen, um eine solche landesweite Mobilisierung zu
finden.
Zwei Momente können zum Verständnis dieser Veränderungen
beitragen:
1. 1.
Trotz eines Friedensabkommens und der
Demobilisierung des Gros der FARC-Guerilla hat der Staat das Abkommen nicht
respektiert und überzieht die Demobilisierten und vor allem die Volksbewegung
weiter mit Gewalt. Die Statistiken[1]
zeigen, dass die Verletzung der Menschenrechte in dem Jahr seit Vertragsabschluss
im Vergleich zu den letzten vier Jahren des Kriegs zugenommen hat.
Verletzungen, wie sie während mehr als 50 Jahren unter dem Vorwand des Kriegs ignoriert
oder gleich gerechtfertigt wurden.
2. 2.
Mit der Demobilisierung der Guerilla und im
Wissen um ihren Sieg im Plebiszit fühlten sich die heute regierenden Kräfte zu
einer neuen neoliberalen Offensive ermutigt. Diese trifft heute nicht mehr nur
die Volkssektoren.
Dies in einem regionalen Kontext, der diesen Kräften als
«günstig» erscheint, denn Lateinamerika erlebt eine neue neoliberale Offensive.
Die Wahl von Chávez und danach von Lula, Correa, Evo etc. hatte die
imperialistische neoliberale zugunsten einer progressiven nationalen
Entwicklungspolitik beendet. Die Nationalisierungen strategischer Sektoren
hatten die Privatisierungen ersetzt und die Bodenschätze wurden für die soziale
Entwicklung der Länder eingesetzt. So konnten in diesen Jahren die
Lebensbedingungen in Bolivien oder Ecuador massiv verbessert werden. In
Kolumbien hatte es keine BürgerInnenrevolution und keine Umwälzung der
staatlichen Politik gegeben, aber die Guerilla der FARC-EP schränkte ab 1994
gewisse neoliberale Offensiven der nationalen und transnationalen Oligarchien
ein. Dem Staat ist die Demobilisierung der grössten Guerilla in Lateinamerika
gelungen. Damit steht der jetzigen Regierung die Bahn frei für Angriffe auf die
Rechte der ArbeiterInnen und auf die staatlichen Güter, die den Orientierungen
der OECD, der Weltbank und des IWF gehorchen.
Die Wirtschaftsmassnahmen, gegen welche sich die
Gewerkschaften erhoben haben (u. a. Reformen des Arbeitsrechts, des
Rentensystems und der Steuerpolitik) betreffen eine neoliberale Politik, wie
wir sie auch in Europa kennen: Arbeitsmarktflexibilisierung mit der Einführung
von Stundenarbeitsverträgen und der Senkung des Mindestlohns, Privatisierung
zahlreicher staatlicher Einnahmequellen, Reorganisierung und Privatisierung des
Rentenwesens, Erhöhung der Strompreise bei gleichzeitiger Steuersenkung für
Grossunternehmen. Mehr oder weniger das, was zurzeit die Leute in Frankreich
auf die Strasse treibt.
Das verbindet sich mit dem Bruch der Abkommen zur Beendigung
des studentischen Streiks von 2008; der andauernden Ermordung von
Führungspersonen der indigenen und bäuerischen Gemeinschaften im Kampf gegen erlittene
Gewalt und für die Wiedererlangung ihres Landes oder der anhaltenden Praxis des
Paramilitarismus. Alle diese Elemente brachten zahlreiche und unterschiedliche
Bevölkerungssektoren zusammen, die im Lauf der Proteste über die genannten
Forderungen hinaus zwei gemeinsame Punkte entdeckten: die Ablehnung der
Korruption und die Einhaltung des Abkommens mit der FARC bzw. im Fall der
Guerilla des ELN die Aushandlung eines solchen. Die Bevölkerung registriert das
Erstarken der nicht-demobilisierten Guerillas und die Wiederbewaffnung von
wichtigen Sektoren, die die Friedensabkommen unterzeichnet haben, mit Sorge.
Der ursprünglich
im Encuentro Nacional de Emergencia de
las Organizaciones Sindicales y Sociales (Nationales Nottreffen der
gewerkschaftlichen und sozialen Organisationen) vom 4. Oktober geplante
Protest nur für den 21. November hält bis heute an. Aber das ist nicht das Werk
der Organisatoren, die von der Bevölkerung «überrannt» wurden – einige hatten
zur Beendigung der Bewegung aufgerufen, bevor sie sich weiter anschliessen
mussten. So z. B. der Präsident des Gewerkschaftsbundes Central General de
Trabajadores, Julio Roberto Gómez, für den die Sache mit dem Protest am 21.
November erledigt war. Die Bevölkerung selbst schuf spontan die
«Streikkomitees» auf verschiedenen territorialen Ebenen. Letzten 6. und 7. Dezember
fand in Bogotá das Encuentro Nacional Sindical, Social,
Popular y Étnico (Nationales gewerkschaftliches, soziales und
ethnisches Treffen), eine Art Ratsversammlung, statt. Mehr als 2000 Delegierte
beschlossen dort, die Forderungen auszuweiten, neue Aktionen durchzuführen, das
«Nationale Streikkomitee» als Ansprechinstanz vor der Regierung zu legitimieren
und mit den Mobilisierungen bis zur Erfüllung der Forderungen fortzufahren.
Auch wenn die organisierte Volksbewegung mit ihrer Präsenz die Entscheidungen
beeinflusst, kann man nicht sagen, dass sie die ganze Führung innehabe. Die
spontanen, nicht-traditionellen Strukturen gewinnen jedes Mal mehr an Gewicht.
8.12.19: Strassenkonzert als Protest in Bogotá. |
Die Antwort von Regierung und Staat bestand erst mal in
Unnachgiebigkeit und Gewalt. Es gab hunderte von der Polizei Verletzte und
Verhaftete. Man redet von drei Toten, zusätzlich zu dem am 23. November von der
Polizei ermordeten jungen Studenten Dilan Cruz. Dieser Mord provozierte eine
allgemeine Ablehnung der Bevölkerung und brachte noch weitere Sektoren auf die
Strasse. Die Regierung musste in Sachen Verhandlungen der Forderungen
nachgeben; sie ernannte Delegierte für die Gespräche mit dem «Streikkomitee».
Aber bis heute befleissigt sie sich einer Verzögerungspolitik, während sie im
Parlament die Kräfte der Bourgeoisie aller Rechtsparteien (von denen einige
sagten, sie würden die Proteste unterstützen) neu sammelt, um das neoliberale
Massnahmenpaket durchzubringen.
Die aktuellen Mobilisierungen markieren ohne Zweifel einen
Wendepunkt in der kolumbianischen Geschichte der Volksmobilisierung, aber noch
ist die Runde nicht beendet. Wir werden darauf später eingehen.
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(zas) Für eine Darstellung aktueller Ereignisse s. Proteste
in Kolumbien gehen mindestens bis Januar weiter.
[1] Seit Vertragsunterzeichnung am 24. November
2016 sind 927 BewegungsaktivistInnen und 191 Demobilisierte umgebracht worden.
Quelle: Fundación Paz y Reconciliación.