Kolumbien: Zur Dynamik der Proteste

Samstag, 14. Dezember 2019


Julio Robles
Seit dem 21. November erlebt Kolumbien Volksmobilisierungen, die jeden Tag grösser werden. Die Dauer der Bewegung beeindruckt in einem Land, das bisher für Gewalt und militärische Konfrontationen bekannt war.
In Kolumbien hat es stets kämpferische Volksbewegungen gegeben. Ihre Kriminalisierung hatte zum Entstehen der Guerillas geführt. Zu den klassischen Volksbewegungen wie jener der Studierenden oder der Gewerkschaften kommen heute neue Gruppen, Organisationen und unorganisierte Bevölkerungssegmente hinzu, die zu den privilegierteren und traditionell protest-fremden Schichten gehören.
Der innere Feind ist weg; wen also kann Präsident Duque für die soziale Katastrophe verantwortlich machen, welche die KolumbianerInnen seit Jahrzehnten durchmachen? Jedenfalls nicht mehr die Guerilla der FARC-EP. Man muss bis nach 1977 zurückgehen, um eine solche landesweite Mobilisierung zu finden.
Zwei Momente können zum Verständnis dieser Veränderungen beitragen:
1.     1.  Trotz eines Friedensabkommens und der Demobilisierung des Gros der FARC-Guerilla hat der Staat das Abkommen nicht respektiert und überzieht die Demobilisierten und vor allem die Volksbewegung weiter mit Gewalt. Die Statistiken[1] zeigen, dass die Verletzung der Menschenrechte in dem Jahr seit Vertragsabschluss im Vergleich zu den letzten vier Jahren des Kriegs zugenommen hat. Verletzungen, wie sie während mehr als 50 Jahren unter dem Vorwand des Kriegs ignoriert oder gleich gerechtfertigt wurden.
2.     2.   Mit der Demobilisierung der Guerilla und im Wissen um ihren Sieg im Plebiszit fühlten sich die heute regierenden Kräfte zu einer neuen neoliberalen Offensive ermutigt. Diese trifft heute nicht mehr nur die Volkssektoren.
Dies in einem regionalen Kontext, der diesen Kräften als «günstig» erscheint, denn Lateinamerika erlebt eine neue neoliberale Offensive. Die Wahl von Chávez und danach von Lula, Correa, Evo etc. hatte die imperialistische neoliberale zugunsten einer progressiven nationalen Entwicklungspolitik beendet. Die Nationalisierungen strategischer Sektoren hatten die Privatisierungen ersetzt und die Bodenschätze wurden für die soziale Entwicklung der Länder eingesetzt. So konnten in diesen Jahren die Lebensbedingungen in Bolivien oder Ecuador massiv verbessert werden. In Kolumbien hatte es keine BürgerInnenrevolution und keine Umwälzung der staatlichen Politik gegeben, aber die Guerilla der FARC-EP schränkte ab 1994 gewisse neoliberale Offensiven der nationalen und transnationalen Oligarchien ein. Dem Staat ist die Demobilisierung der grössten Guerilla in Lateinamerika gelungen. Damit steht der jetzigen Regierung die Bahn frei für Angriffe auf die Rechte der ArbeiterInnen und auf die staatlichen Güter, die den Orientierungen der OECD, der Weltbank und des IWF gehorchen.
Die Wirtschaftsmassnahmen, gegen welche sich die Gewerkschaften erhoben haben (u. a. Reformen des Arbeitsrechts, des Rentensystems und der Steuerpolitik) betreffen eine neoliberale Politik, wie wir sie auch in Europa kennen: Arbeitsmarktflexibilisierung mit der Einführung von Stundenarbeitsverträgen und der Senkung des Mindestlohns, Privatisierung zahlreicher staatlicher Einnahmequellen, Reorganisierung und Privatisierung des Rentenwesens, Erhöhung der Strompreise bei gleichzeitiger Steuersenkung für Grossunternehmen. Mehr oder weniger das, was zurzeit die Leute in Frankreich auf die Strasse treibt.
Das verbindet sich mit dem Bruch der Abkommen zur Beendigung des studentischen Streiks von 2008; der andauernden Ermordung von Führungspersonen der indigenen und bäuerischen Gemeinschaften im Kampf gegen erlittene Gewalt und für die Wiedererlangung ihres Landes oder der anhaltenden Praxis des Paramilitarismus. Alle diese Elemente brachten zahlreiche und unterschiedliche Bevölkerungssektoren zusammen, die im Lauf der Proteste über die genannten Forderungen hinaus zwei gemeinsame Punkte entdeckten: die Ablehnung der Korruption und die Einhaltung des Abkommens mit der FARC bzw. im Fall der Guerilla des ELN die Aushandlung eines solchen. Die Bevölkerung registriert das Erstarken der nicht-demobilisierten Guerillas und die Wiederbewaffnung von wichtigen Sektoren, die die Friedensabkommen unterzeichnet haben, mit Sorge.
Der ursprünglich im Encuentro Nacional de Emergencia de las Organizaciones Sindicales y Sociales (Nationales Nottreffen der gewerkschaftlichen und sozialen Organisationen) vom 4. Oktober geplante Protest nur für den 21. November hält bis heute an. Aber das ist nicht das Werk der Organisatoren, die von der Bevölkerung «überrannt» wurden – einige hatten zur Beendigung der Bewegung aufgerufen, bevor sie sich weiter anschliessen mussten. So z. B. der Präsident des Gewerkschaftsbundes Central General de Trabajadores, Julio Roberto Gómez, für den die Sache mit dem Protest am 21. November erledigt war. Die Bevölkerung selbst schuf spontan die «Streikkomitees» auf verschiedenen territorialen Ebenen. Letzten 6. und 7. Dezember fand in Bogotá das Encuentro Nacional Sindical, Social, Popular y Étnico (Nationales gewerkschaftliches, soziales und ethnisches Treffen), eine Art Ratsversammlung, statt. Mehr als 2000 Delegierte beschlossen dort, die Forderungen auszuweiten, neue Aktionen durchzuführen, das «Nationale Streikkomitee» als Ansprechinstanz vor der Regierung zu legitimieren und mit den Mobilisierungen bis zur Erfüllung der Forderungen fortzufahren. Auch wenn die organisierte Volksbewegung mit ihrer Präsenz die Entscheidungen beeinflusst, kann man nicht sagen, dass sie die ganze Führung innehabe. Die spontanen, nicht-traditionellen Strukturen gewinnen jedes Mal mehr an Gewicht.
8.12.19: Strassenkonzert als Protest in Bogotá.
 Die Antwort von Regierung und Staat bestand erst mal in Unnachgiebigkeit und Gewalt. Es gab hunderte von der Polizei Verletzte und Verhaftete. Man redet von drei Toten, zusätzlich zu dem am 23. November von der Polizei ermordeten jungen Studenten Dilan Cruz. Dieser Mord provozierte eine allgemeine Ablehnung der Bevölkerung und brachte noch weitere Sektoren auf die Strasse. Die Regierung musste in Sachen Verhandlungen der Forderungen nachgeben; sie ernannte Delegierte für die Gespräche mit dem «Streikkomitee». Aber bis heute befleissigt sie sich einer Verzögerungspolitik, während sie im Parlament die Kräfte der Bourgeoisie aller Rechtsparteien (von denen einige sagten, sie würden die Proteste unterstützen) neu sammelt, um das neoliberale Massnahmenpaket durchzubringen.
Die aktuellen Mobilisierungen markieren ohne Zweifel einen Wendepunkt in der kolumbianischen Geschichte der Volksmobilisierung, aber noch ist die Runde nicht beendet. Wir werden darauf später eingehen.
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(zas) Für eine Darstellung aktueller Ereignisse s. Proteste in Kolumbien gehen mindestens bis Januar weiter.


[1] Seit Vertragsunterzeichnung am 24. November 2016 sind 927 BewegungsaktivistInnen und 191 Demobilisierte umgebracht worden. Quelle: Fundación Paz y Reconciliación.