Deutsche Welle feuert Schriftsteller J.P. Cuenca wegen dessen Kritik an Brasiliens Präsidenten. Auf Telepolis antwortet Cuenca der Sendeleitung
Mehr als 100 Erstunterzeichner aus Deutschland und Brasilien haben in einem offenen Brief an die Deutsche Welle den Rausschmiss des brasilianischen Schriftstellers João Paulo Cuenca scharf kritisiert. Zuvor sprach der Auslandssender dem 42-Jährigen ohne vorherige Rücksprache und öffentlich die Kündigung einer regelmäßigen Kolumne im portugiesischsprachigen Angebot aus, nachdem er auf seinem privaten Twitter-Account den rechtsradikalen Präsidenten des südamerikanischen Landes, Jair Bolsonaro, kritisiert hatte. Die Deutsche Welle warf Cuenca daraufhin "Hassrede und Aufstachelung zur Gewalt" vor; der so Geschasste wehrte sich ebenfalls auf Twitter.
Während die Entlassung im Bolsonaro-Lager für Begeisterung sorgte, formiert sich Widerstand gegen die Entscheidung der Sendeleitung. Der offene Brief wurde von zahlreichen Journalisten und dem Vizepräsidenten des PEN-Clubs Deutschland, Ralf Nestmeyer, unterzeichnet.
Dabei ist nicht unwahrscheinlich, dass die Verantwortlichen im Hauptsitz des Senders in Bonn erstens einer Kampagne der brasilianischen Rechtsextremisten auf dem Leim gegangen sind und zweitens den Tweet nicht verstanden haben. Denn Cuenca schrieb über den Kurznachrichtendienst: "Die Brasilianer werden erst frei sein, wenn der letzte Bolsonaro an den Gedärmen des letzten Pfarrers der Universalkirche erhängt wird."
Harter Tobak, sicher, aber eben auch die Paraphrasierung eines historischen Zitats. Anfang des 18. Jahrhunderts hatte der Franzose Jean Meslier, der sich vom katholischen Priester zum Religionskritiker gewandelt hatte und der frühen Aufklärung zugerechnet wird, das Zitat in seinem Werk "Mèmoire" angeführt: "Il serait juste que les grands de la terre et que tous les nobles fussent pendus et étranglés avec les boyaux de prêtres", also etwa: "Es wäre gerecht, dass alle Großen der Erde und alle Adligen mit den Gedärmen der Priester erhängt und erwürgt werden sollten."
Cuencas Bolsonaro-Abwandlung bezog sich - ähnlich motiviert - auf die massive Unterstützung der amtierenden brasilianischen Regierung für die Igreja Universal do Reino de Deus. Diese sektenähnliche evangelikale Massenbewegung gehört zu den wichtigsten Unterstützern der Bolsonaro-Führung - und wurde dafür unlängst mit Millionenmitteln aus der Staatskasse bedacht.
Cuencas Kritik daran grämte die Bolsonaro-Führung offenbar ebenso, wie sie sein öffentlicher Rauswurf freute. Der Kongressabgeordnete und Präsidentensohn Eduardo Bolsonaro beglückwünschte den deutschen Auslandssender auf Twitter persönlich zu der Entscheidung. Zuvor hatten Vertreter des Bolsonaro-Lagers eine massive Kampagne gegen Cuenca gestartet.
Auf den Rausschmiss und den Jubel bei Brasiliens Rechtsextremisten reagierten nun deutsche und brasilianische Wissenschaftler, Journalisten, Künstler sowie Aktivisten. Man könne darüber diskutieren, ob Cuencas Spiel mit dem historischen Zitat gelungen oder geschmacklos, schlecht formuliert oder schlecht kontextualisiert war, schreiben sie in dem offenen Brief, der Telepolis vorab vorlag: "Wenn man das Werk von João Paulo Cuenca kennt, kann dieser Satz jedoch nicht als Aufstachelung zum Hass interpretiert werden. Aus diesem Grund hat die einseitige Entscheidung der Deutschen Welle bei uns Besorgnis in Bezug auf Meinungsfreiheit und Zensur ausgelöst." Die Deutsche Welle solle ihre Entscheidung überdenken, schließlich sei Cuenca eine "unverzichtbare Stimme, um die Verbrechen gegen die Menschenrechte, antidemokratische Maßnahmen und Machtmissbrauch brasilianischer Politiker anzuprangern".
Telepolis bat Cuenca, seine Version der Geschehnisse aufzuschreiben. Hier seine Replik an die Deutsche Welle, exklusiv und erstmals auf Deutsch:
Wenn sich ein Sendechef an den Gedärmen eines Schriftstellers erhängt, hat der brasilianische Faschismus gewonnen
João Paulo Cuenca
1. Am Dienstag vorletzter Woche, am 16. Juni, las ich, dass die brasilianische Bundesregierung 30 Millionen Reais (gut 4,88 Millionen Euro) für Radio- und Fernsehsender evangelikaler Pastoren freigegeben hat, die Präsident Jair Bolsonaro unterstützen. Und bevor ich mir einen Kaffee machen ging, postete ich auf Twitter, zwischen Anführungszeichen: "Der Brasilianer wird erst dann frei sein, wenn der letzte Bolsonaro in den Gedärmen des letzten Pastors der Universalkirche erhängt wird."
Für die Zwecke der Satire habe ich eine bekannte Redewendung aus dem 18. Jahrhundert paraphrasiert, die Voltaire und Diderot, zwei Vertretern der Aufklärung, zugeschrieben wird. Eigentlich aber wurde sie von dem französischen Abt Jean Meslier (1664-1729) verfasst. Der Satz, der sich ursprünglich auf Könige und Priester berief, wurde mehrfach abgewandelt wieder aufgegriffen. Er wurde zum geflügelten Wort, das sich Anarchisten, Liberale, Anarchokapitalisten, Umweltschützer - Menschen von links und rechts - aneigneten.
Einige brasilianische Beispiele. Im Jahr 2015 veröffentlichte der linke Intellektuelle Vladmir Safatle in der Folha de São Paulo diese Variante: "Sie (die Korruption) wird erst dann enden, wenn der letzte korrupte PT-Politiker in den Gedärmen des letzten korrupten PSDP-Politikes erhängt wird."
Eine schnelle Google-Suche zeigt, dass der Hauptideologe des Bolsonarismus, der rechtsextreme Denker Olavo de Carvalho, die Konstruktion mindestens zweimal verwendet hat: "Der Kapitalismus wird erst dann überwunden sein (...), wenn der letzte Marxist an den Gedärmen des letzten 'homo oeconomicus' erhängt wurde." Und: "Die Welt wird erst dann glücklich sein, wenn der letzte Bildungsminister an den Gedärmen des letzten Funkeiro (DJ des in Favelas beliebten Rio-Funk) erhängt wird."
In Internetforen des Ubuntu-Betriebssystems gibt es eine kuriose Version: "Computer werden erst an dem Tag frei sein, an dem der letzte Windows-Nutzer in den Gedärmen des letzten Mac-Benutzers aufgehängt wird." Ebenfalls aus dem Jahr 2018 stammt der Tweet: "Brasilien wird an dem Tag ein entwickeltes Land sein, an dem der letzte YouTuber an den Gedärmen des letzten Unternehmer-Coaches erhängt wird."
Mein Favorit ist keine dieser Varianten, sondern eine Version, die im Mai 1968 in den Straßen von Paris zu lesen war: "Nachdem wir den letzten Bürokraten an den Gedärmen des letzten Soziologen erhängt haben, werden wir dann immer noch Probleme haben?"
Diejenigen, die mich verleumderisch beschuldigt haben, "die Hinrichtung des Präsidenten zu fordern", scheinen Schwierigkeiten mit dem Verständnis von zwei Dingen zu haben: erstens was eine Metapher ist, zweitens der metaphorische Aussage von Mesliers Satz: Die Kirche und der Adel (oder andere "Familien" wie sie) müssen sich im Namen des Volkes von der republikanischen Macht fernhalten.
2. Das Chaos, das meine sozialen Netzwerke rasch erfasste - eingeschlossen Drohungen von physischer Gewalt und von Gerichtsverfahren - ist das Ergebnis sozialer Mechanismen, die unter dem Bolsonarismus perfektioniert und konsolidiert wurden. Ein Ergebnis war die umgehend einsetzende und sehr erfolgreiche Diffamierungskampagne, die zu meinem Rausschmiss bei der Deutschen Welle Brasilien führte, wo ich bis dahin Kolumnen veröffentlichte.
Die Vertreter des Regierungskabinetts des Hasses und ihre (Internet-)Robots identifizieren ihre Ziele schnell und gehen umgehend zum Angriff über. Es handelt sich um einen relativ wirksamen und billigen Mechanismus der psychologischen Nötigung und Zensur. Es geht hier alleine darum, Gegenstimmen zum Schweigen zu bringen - und diesmal kann der brasilianische Neofaschismus sich auf die Komplizenschaft einer deutschen öffentlich-rechtlichen Anstalt stützen, der Deutschen Welle.
Da die redaktionellen Verantwortlichen in Bonn gebildete Erwachsene mit uneingeschränkten kognitiven Funktionen sind, die meine antifaschistischen Texte in den letzten Monaten gelesen und bearbeitet haben, glaube ich, dass sie wissen, was eine Metapher ist. Ich bot ihnen noch an, einen Text oder eine Notiz zur Klärung des Satzes zu verfassen. Aber sie kamen dem zuvor und veröffentlichten eine ungeschickte und verlogene Notiz, in der sie mich eines Verbrechens bezichtigten, das ich nicht begangen habe: Hassrede.
Daher bleibt nur ein Zweifel: Entweder haben sie dem Druck des Regierungskabinetts des Hasses in Brasilien nachgegebe, oder die Tentakel dieser Regierung reichen über das am besten ausgestattete (und am wenigsten gebildete) Außenministerium in der Geschichte des Landes bis nach Deutschland.
3. Der Lärm der faschistischen Horden, die nun die Entscheidung der Deutschen Welle feiern, zeigt auf, in welchem Maße die Botschaft falsch ist, die das Unternehmen aussendet. Noch gravierender: Sie macht Nötigung und Zensur für die Künstler und Intellektuellen, die sich gegen die Regierung stellen, zu einem Normalzustand, der für die andere Seite, die keine Wahlmöglichkeiten hat, nicht besteht.
Ganz im Gegenteil. Wie bereits erwähnt, unter anderem in Kolumnen für Deutsche Welle Brasilien, haben die Regierung Bolsonaro und ihre Unterstützer die Hassrede in Brasilien in die "neue Normalität" verwandelt. Es wäre ironisch, wenn es nicht tragisch wäre: Die gewählte Regierung, die versprach, auf Gegner zu schießen, und deren Mitglieder und Anhänger Parolen wiederholen und Nazi-Fahnen tragen, beschuldigte mich fälschlicherweise des Verbrechens, das sie täglich begeht.
Und nun hat sich die Deutsche Welle in den Chor ihrer Verleumdungskampagne eingestimmt.