Honduranische Träume

Donnerstag, 6. Januar 2022

 

Dana Frank*

Lasst uns zuerst feiern. (…) Xiomara Castro wird die erste Präsidentin in der Geschichte von Honduras sein, und das mit der historisch höchsten Stimmenzahl. Ihr Erdrutschsieg ist das Ergebnis von zwölf Jahren schwieriger Organisierung gegen das mit dem Putsch von 2009 installierte Regime. Aber auch im Moment des Sieges bleiben die HonduranerInnen nach zwölf Jahren Repression und Leiden verletzt. Die Herausforderungen für Castro sind schlimmer als schlimm. Dahinter wird das US-Imperium sichtbatr, dem der mögliche Verlust einer ihrer folgsamsten Nationen droht.

(…..)

Castro identifiziert sich öffentlich als demokratische Sozialistin. Ihr Programm verspricht, die Armut anzugehen, die Polizei mit einer Community-Orientierung zu verändern und die Gewalt gegen Frauen und die LGBT-Community zu beenden. Aber vieles in ihrer Agenda ist Mainstream. Sie will die Auswüchse des Neoliberalismus eindämmen und stellt einen funktionierenden Staat in Aussicht, der Grunddienstleistungen wie Gesundheitsversorgung, Strom und Erziehung liefert. Nachdem mehrere Regierungen internationale Kreditinstitutionen als private Geldautomaten benutzt haben, ist die Verschuldung des Landes astronomisch. Xiomara Castro hat schon ihren Wunsch nach einer Neuverhandlung der Rückzahlungsbedingungen ausgedrückt.  Sie heisst offenbar ausländische Investitionen willkommen und hat sich schon mit der Handelskammer getroffen. Auf ihrer Linken ist sie aber den Basisbewegungen, die ihren Sieg ermöglicht haben und eine grundlegendere Umwälzung der honduranischen Gesellschaft anstreben, zu Rechenschaft verpflichtet. Bis anhin unterstützt sie deren Forderung nach einer Konstituante, die einer Neugründung des Landes von unten dienen kann. Aussenpolitisch macht sie deutlich, dass sie eine breite Reihe globaler Bündnisse ihrer eigenen Wahl eingehen will inklusive Anerkennung von Venezuela, Cuba und China.

Was immer ihre Ziele sind, Castro wird versuchen müssen, ohne parlamentarische Mehrheit zu regieren. Sogar in Koalition mit dem gewählten Vize-Präsidenten Salvador Nasralla und seinen Verbündeten wird es für Castro schwierig werden, viele Gesetze aus der Zeit nach dem Putsch, die Staatsgeheimnisse absichern, die Überwachung ausdehnen, Dissens unterdrücken und Drogenhändlern und Regierungsfunktionären Straffreiheit gewähren, aufzuheben. Andere Schlüsselreformen werden es noch schwerer haben. Castro will die ZEDE – Sonderwirtschaftszonen, in denen die Verfassung nicht gilt – abschaffen, aber dies wird mindestens bis zur nächsten Wahl des Obersten Gerichts durch das Parlament 2023 gehen. Jede Antikorruptionsagenda wird vom Generalstaatsanwalt abhängen, der auch bis 2023 im Amt bleiben wird.

Sie wird auch mit Machenschaften konfrontiert sein, die Präsident Hernández zu seinem Schutz in Gang setzen kann. Im Oktober 2019 war sein Bruder Tony im Southern District of New York (SDNY) wegen Geldwäsche, Waffendeals, Drogenhandel und anderen Delikten zu einer lebenslänglichen Strafe verurteilt worden. Dieses und folgende Verfahren sind voll von Hinweisen auf den Präsidenten, der eine Million Dollar Bestechungsgelder vom Chapo Guzmán, dem berühmten mexikanischen Kartellchef, erhalten haben soll. Er hat einen bekannten Todesschwadronführer als nationalen Polizeichef eingesetzt und ihm Mordanweisungen gegeben. Man nimmt an, dass die New Yorker Staatsanwaltschaft Hernández anklagen wird, sobald er nicht mehr im Amt ist. Aber der jetzige Generalstaatsanwalt Óscar Chinchilla, der in New Yorker Prozessen Kollaborateur der Drogenhändler bezeichnet wird und sowohl mit Hernández wie mit US-Offiziellen eng liiert ist, könnte seine Auslieferung blockieren.

Armee und Polizei stellen für Castro die ernsthafteste, möglichweise tödliche inländische Gefahr dar. Sie bleiben loyal zu Hernández, der seine Kumpane in Spitzenpositionen platziert hat. Der jetzige Sicherheitsminister, Julian Pacheco Tinoco, ist im SDNY viermal als Beteiligter im Drogenhandel genannt worden, und die beiden höchsten Polizeioffiziere haben Narkos protegiert. Unterlagen in den New Yorker Prozessen enthüllen, dass mit dem Präsidenten liierte Narkos staatliche Militärbasen, Flugzeuge und Helikopter benutzt und Dutzende von Soldaten zur Überwachung von internationalen Lieferungen eingesetzt haben. Die Sicherheitskräfte haben eine lange Tradition der Repression friedlicher Demonstrationen und der Ermordung von AktivistInnen. Sie haben unter dem Vorwand der Covid-Massnahmen das ganze Land noch mehr besetzt. Sie sind an enorme Macht gewöhnt und könnten jederzeit die Macht übernehmen oder Chaos provozieren.

Aber die grösste Drohung für die Kapazität der Präsidentin, das Land nach eigenen Vorstellungen zu regieren, kommt von den USA. Nicht nur haben die USA den Sturz ihres Gatten unterstützt, sondern sie haben während zwölf Jahren die honduranischen Sicherheitskräfte trainiert, ausgerüstet, finanziert und beim Drogenhandel der Führung weggeschaut. Während zwölf Jahren haben sie eine Regierung unterstützt, die Indigene, Afro-Indigene und bäuerische AktivistInnen kriminalisiert und umgebracht hat. Leoparden ändern ihr Muster nicht; sie finden neue Strategien, um ihre Beute zu fangen.

Am 30. November beeilte sich Blinken, Castro anzuerkennen und die honduranischen WählerInnen für ihr «Engagement für den demokratischen Prozess» zu loben. Es ist wichtig, den historischen Moment festzuhalten, in dem die USA ihre Unterstützung des Nachputsch-Regimes beendete. Eine Woche vor den Wahlen hatte Brian Nichols, Assistant Secretary of State for Western Hemispheric Affairs, in Honduras führende Regierungs- und Armeekader getroffen. Er scheint ihnen das Aufruhrgesetz über die Manipulation von Wahlresultaten vorgelesen und sie instruiert zu haben, Castro gewinnen zu lassen. Aber es ist ungewiss, wie weit darüber hinaus das State Department einen Kontrollverlust der Eliten und Sicherheitskräfte akzeptiert und welche Zugeständnisse es von Castro möglicherweise erhalten hat, um ihre Wahl zu gestatten.

Wie ist das vorläufige Akzeptieren Castros durch das State Department zu erklären?  Erstens kann ihr grosser Vorsprung in den Umfragen es den USA schwer gemacht haben, eine weitere von der Nationalpartei gestohlene Wahl zu legitimieren – insbesonders, wenn eine Gruppe von Kongressmitgliedern um Jan Schakowsky, Hank Johnson, Patrick Leahy und Jeff Merkley stetig Druck auf die US-Regierung ausgeübt hat, ihre Unterstützung der honduranischen Sicherheitskräfte zu beenden. Zweitens sind die Demokraten zurecht besorgt, dass die Republikaner die Migrationsfrage benutzen werden, um 2022 und 2024 die Wahlen zu gewinnen. Sie wissen, dass eine weitere Präsidentschaft des Partido Nacional die Migrationsursachen nicht beenden würde. Die Vergangenheit lehrt uns, dass die USA jetzt Druck auf Castro ausüben werden, um Verbündeten die Zuständigkeit für eine Reihe entscheidender Fragen zu überlassen, während sie Castros eigene Regierungsfähigkeit subtil in Frage stellen. Nasralla, der während vieler Jahre den USA nahegestanden ist, hat schon angefangen, die Autorität der gewählten Präsidentin zu unterminieren, mit seiner Erklärung, dass sie China, Venezuela und Kuba nicht anerkennen und keine Konstituante einberufen werde.

Der Versuch der Biden-Administration, Castro zu managen, gilt dem Ziel, die Operationen der US-basierten Multis in der Region zu schützen und auszuweiten, ob im Bereich Textilien, Agroexport oder Extraktivismus. Über die Interessen eines spezifischen Unternehmens hinaus will sie regionale Bedingungen für das Gedeihen aller Unternehmen schaffen. Das machte ein im Mai 2021 lanciertes Programm, der «Call to Action to the Private Sector to Deepen Investment in the Northern Triangle”, deutlich – angeblich im Dienste eines Migrationsstopps. Die Administration kündete damals an, mit PepsiCo, MasterCard, Nespresso und anderen Mammutmultis für deren Investitions in der Region zu arbeiten.

Die wirtschaftlichen Ziele der Administration werden vom Südkommando der US-Armee (Southcom) durchgesetzt, das enge Beziehungen zu den von den USA finanzierten, ausgebildeten und ausgerüsteten honduranischen Truppen unterhält, mit ihnen geheimdienstlich im Austausch steht und öffentlich deren Führungskader lobt. Selbst wenn das State Department zurzeit keine Alternative zu Castro sieht, bleibt das Southcom eine Maschine mit eigenem Motor, geölt mit Milliarden von den Rüstungsunternehmen. Es hat mehrmals seine Bereitschaft demonstriert, vor «Feinden» zu warnen, um mehr Macbenutzen wird, um mehr Macht und Geld vom Kongress zu erlangen, und es hat sich begeistert in den Neuen Kalten Krieg mit China gestürzt. Wir wissen noch nicht, wie die Southcom-Führung auf Castros Sieg reagiert und welche Signale es in die honduranische Armee sendet.

In seiner neuen Haltung der Unterstützung von Castro hat das State Department öffentlich ihre Bereitschaft zu Korruptionsbekämpfung begrüsst. Aber seine Definition von «Korruption» ist höchst selektiv. Als 2015 hunderttausende HonduranerInnen gegen den Hernández-Diebstahl von Millionen im Gesundheitssystem protestierten, blockierten die USA die Forderung nach einer UNO-Kommission. Sie organisierten dagegen eine viel schwächere Institution unter OAS-Ägide, um die Kontrolle zu behalten, das Regime weisszuwaschen und gleichzeitig zu disziplinieren. Die jüngst vom State Department auf Geheiss des Kongresses publizierte Liste korrupter Individuen hat Hernández, seinen Chefberater, den Parlamentsvorsitzenden, den Generalstaatsanwalt und den Sicherheitsminister fleissig ausgelassen. Wir können davon ausgehen, dass die USA weiter «Antikorruptions»-Initiativen nutzen werden, um zu bestimmen, welche Figuren bestraft und welche protegiert werden sollen, und so zu versuchen, die honduranische Regierung nach ihren Interessen auszurichten.

In der Zwischenzeit wird die Administration Biden das Land weiterhin mit unkontrollierten Milliarden «humanitärer» und «Entwicklungshilfe» fluten.  Uns fehlen Analysen der ganzen Ziele und des Impacts dieser «soft power»-Programme, in denen gutmeinende FunktionärInnen zwischen der USAID, Thinktanks, Universitäten, State Department, Kongressbüros, NGOs und privaten Vertragspartnern zirkulieren – alle mit demselben Werkzeugkasten aus den Master-Programmen und deren Mentoren. Woraus genau bestehen ihre «Governance»-Programme? In Honduras bedeutete «Demokratieförderung» zum Teil, Führungskader aufzubauen, die US-Interessen dienen, Aufbau von Institutionen beinhaltete auch korruptes Personal aus Justiz, Staatsanwaltschaft und Polizei mit technischen Fähigkeiten aufbessern, «Kriminalitätsprävention» eine repressive Polizei mit krimineller Befehlskette bei gleichzeitiger Marginalisierung von in ihren Comunidades schon wirkenden AktivistInnen. Soft Power – ein scheinbar gütiger Imperialismus – ist geschichtlich gut dokumentiert rassistisch und basiert auf der in die Zeit der Expansion des US-Imperiums in die Philippinen und die Karibik zurückgehenden Grundvorstellung, dass «kleine braune Völker sich nicht selber regieren können» und der Bevormundung durch die überlegenen Weissen bedürfen.

Seit der Wahl Bidens widmen sich die USA zunehmend der «Unterstützung der Zivilgesellschaft», was heisst, dass Dutzende von Millionen Dollar in Marionettenorganisationen wie die evangelikale Asociación para una Sociedad más Justa (Vereinigung für eine gerechtere Gesellschaft) fliessen; diese Gruppe marschiert im Takt der US-Politik und gilt als Hernández-nah. Auch private Fonds spielen mit, wie die Seattle International Foundation, deren DirektorInnen eng mit dem State Department zusammengearbeitet haben. Sie lobbyiert im Kongress und stellt zunehmend honduranische und US-Medienleute und andere AkteurInnen der Zivilgesellschaft zur Schau, mit dem Ziel, sogenannte unabhängige JournalistInnen und SolidaritätsaktivistInnen in die Agenda der Administration zu integrieren. Führungskader dieser beiden Organisationen werden in den US-Mainstreammedien routinemässig als Honduras-ExpertInnen zitiert.

Tatsächlich riesige Herausforderungen! Nach Castros unglaublichem Sieg müssen wir einmal mehr die harte Arbeit der Solidarität wieder aufnehmen, die sozialen Bewegungen unterstützen, die von ihrer neuen presidenta die Erfüllung ihrer Träume für die Zukunft von Honduras fordern werden, und die Profitphantasien der USA zurückweisen.

 

Dana Frank in einem honduranischen Lokalsender zum Thema der Frauenbewegungen.

 ·        * Newleftreview.org, 14.12.21: Honduran Dreams. Die Autorin ist eine seit vielen Jahren in der Solidarität mit den Kämpfen in Honduras engagierte US-Historikerin. Einige Einführungsabschnitte zur Geschichte der US-Unterstützung – unabhängig von der Parteifarbe des jeweiligen Präsidenten - für den Putsch 2009, die folgenden Wahlbetrüge und die enorme Korruption fehlen in dieser Übersetzung.