Umfragen in Venezuela sind anders

Sonntag, 7. Oktober 2012


von Mark Weisbrot
Polling in Venezuela is Different

(5.10.12) Ich werde nie den Tag des Absetzungsreferendums gegen Chávez 2004 vergessen. Ich sass im BBC-Studio in Washington, zwischen einem TV- und einem Radiointerview, und der Fax spie die Mitteilung eines der damals einflussreichsten Umfrageinstitute der Demokratischen Partei aus: Penn, Schoen, Berland and Associates (PSB). Exit Poll Results Show Major Defeat for Chavez war der Titel. Sie behaupteten, die enorme Anzahl von 20'000 WählerInnen in 267 Wahllokalen befragt und herausgefunden zu haben, dass Chávez mit 59:41% abgewählt worden war.
Ich schaute die Produzentin, die mir das Fax gegeben hatte, ziemlich perplex an. Hat dieses Unternehmen keinen Ruf? Können sie einfach Scheisse bauen und es gibt keine Konsequenzen?
Offenbar konnten sie es. Das reale Ergebnis beim Referendum war so ziemlich das Gegenteil: 58:41% gegen die Absetzung. Die Organisation der Amerikanischen Staaten und das Carter Center hatten die Wahl beobachtet und klar gestellt, dass sie ohne Zweifel sauber waren. Die Wahrscheinlichkeit, dass PSB angesichts des realen Resultats zufällig auf ihr Ergebnis kommen konnte, betrug weniger als 1 zu 10 hoch 490, wenn Sie sich etwas so Unwahrscheinliches vorstellen können.
Die Produzentin legte die Pressemitteilung auf die Seite und sagte: „Ich mach damit nichts ohne eine zusätzliche Quelle.“
Das bringt uns zu den Präsidentschaftswahlen vom Sonntag. Die letzten Umfragen ergeben eine grosse Spannbreite, die von einem 4%-Vorsprung für Capriles bis zu 27.7 Punkten Vorsprung für Chávez reicht. Durchschnittlich führt Chávez mit 11.7% vor seinem Rivalen Henrique Capriles.
Mein Kollege David Rosnick fertigte eine statistische Analyse der jüngsten Umfrageergebnisse an, um die auf der Basis von 2004-2012 ermittelten Verzerrungen der verschiedenen Umfrageinstitute heraus zu filtern. Der adjustierte Vorsprung erweitert sich auf 13,7 Punkte für Chávez, während Capriles eine Chance von 5.7% hat, die Wahlen zu gewinnen.
Doch die meisten Medien suggerieren trotzdem eine knappe Ausmarchung. Es ist nicht so schlimm wie 2004, als die meisten wichtigen Medien  sich mit der Behauptung eines Kopf-an-Kopfrennens beim Referendum lächerlich machten. Es gibt Fortschritt in der Geschichte. Es gibt auch einige Journalisten und Analystinnen, die im Interesse von InvestorInnen genauer berichten – der venezolanische Bondmarkt weist in letzter Zeit dank der Hoffnung auf einen Sieg von Capriles einige Anzeichen von irrational exuberance (irrationaler Überschwang) auf. Sie sagen, dass Chávez vermutlich gewinnen werde.
Ernsthafter ist, dass die venezolanische Opposition bei den letzten Wahlen stets einen „Plan B“ gehabt hat, nämlich, einen Wahlbetrug zu behaupten und die Leute auf die Strasse zu bringen. Wir werden nie wissen, wer PSB für jene Exit Polls bezahlt hat, aber ich wette, es war Teil des „Plans B“ – wenn auch nicht unbedingt mit anderen politischen AkteurInnen koordiniert. Es gab sogar eine akademische Forschung, die unter Vernutzung von Verschwörungstheorien, die die 9/11-Phantasien des Films Loose Change und die PSB-Exit Polls als vernünftig erscheinen lassen, behauptete, statistische Beweise dafür zu haben, dass die Wahl gestohlen worden sei. Das Carter Center setzte ein unabhängiges Gremium akademischer StatistikerInnen zur Überprüfung der statistischen „Beweise“ ein, das natürlich herausfand, dass letztere nicht existierten.
Aber diese Behauptungen hatten eine wichtige Wirkung in Venezuela – wo die Opposition die Parlamentswahlen von 2005 mit der Begründung boykottierte, das Referendum von 2004 sei manipuliert gewesen. Ein Grossteil der lateinamerikanischen Medien brachte ebenfalls die Verschwörungstheorien.
Und jetzt, am Sonntag? Chávez gab seine gewohnte Erklärung ab, dass er die Resultate auf jeden Fall akzeptieren werde, Capriles liess sich weniger darauf verpflichten. Gut für die Wahlbehörden ist, dass die Obama-Administration – wie die Bush-Administration 2004 – keinen Ärger will, der die Ölpreise vor den US-Präsidentschaftswahlen ansteigen lassen könnte. Und es ist unwahrscheinlich, dass Capriles und die meisten seiner Verbündeten etwas organisieren werden, wenn Washington die Resultate anerkennt. Die Wahlen kurz vor jenen in den USA anzusetzen, war etwas vom Geschicktesten, was die venezolanischen Behörden tun konnten, um die Integrität der Wahlen zu garantieren.
Aber es gibt Elemente der Opposition, die sagen, Capriles muss die Wahlen gewinnen und die Strassengewalt ankündigen, wenn die Wahlen „gestohlen“ werden. Also sind „Plan B“-Aktionen weiterhin möglich.
Die Umfragegeschichte von 2004 hat ein Happy End. 2006 legte PSB „Kopf-an Kopf“-Vorwahl-Umfragen vor, die niemand glauben konnte (Chávez gewann die Wahlen mit 62.8% der Stimmen). So feuerte Mark Penn Doug Schoen. Penn war danach Hillary Clintons Chefstratege bei ihrer Präsidentschaftsbewerbung 2008, wo er Weisheiten zum Besten gab, wie der „Mangel an amerikanischen Wurzeln“ des „unwählbaren“ Obama zu verwerten sei. Penn wurde zum Rücktritt als Chefstratege gezwungen, als bekannt wurde, dass er der kolumbianischen Regierung beim Lobbyieren für ein „Freihandels“-Abkommen mit den USA half.
Doug Schoen hat soeben ein neues Buch über die „Krise in der amerikanischen Politik“ veröffentlicht. Es heisst „Hopelessly Divided“ und wird von solchen Koryphäen wie Michael Bloomberg und Bob Shrum glühend empfohlen. Ich hoffe, sie überprüfen die statistischen Angaben, die der Autor gebraucht.
Ist das nicht ein grosses Land? Egal, was immer du anstellst, es gibt immer eine neue Chance. Nun, für einige jedenfalls.