Venezuela: Warum die Hetze in den Medien?
Sonntag, 7. Oktober 2012
(zas, 7.10.12) Natürlich ist der chavistische Wahlsieg nicht gesichert, kann die Rechte gewinnen. Tatsächlich ist in den Jahren 2006 bis 2010 der chavistische Stimmenanteil um rund 14 Prozent zurückgegangen - das Phänomen des sogenannten „Einfrierens der chavistischen Stimmenquote“. (Nach aktuellen Meldungen ist die Wahlbeteiligung bisher, Mittagszeit in Venezuela, äusserst hoch; wieweit das wem zugute kommt und ob das allenfalls die Gefahr des „Einfrierens der chavistischen Stimmenquote“ neutralisiert, sollten wir bald wissen.) Die Leute wählten nicht rechts, sondern blieben aufgrund verschiedener Enttäuschungen und Ermüdungen zuhause. Allerdings ist in Bezug auf die heutigen Wahlen zu sagen, dass die Person von Chávez, diesen Trend jeweils durchbrechen konnte. Die Parlamentswahlen letztes Jahr hat der Chavismus knapp verloren.
Mehr als die sogenannt Unentschiedenen, die offenbar längst nicht mehr die oft genannten 30 Prozent ausmachten, dürfte für Chávez ein anderes Phänomen ins Gewicht fallen. Viele in der chavistischen Basis sind wegen realen Problemen frustriert. Die Korruption etwa ist nicht bloss ein Phänomen des Staatsapparates und des mittleren Kaders, sondern betrifft manchmal auch wichtige Figuren der chavistischen Partei PSUV. Andere gravierende Probleme stellen sich beim Durchziehen gross angekündigter Regierungsvorhaben, wie Chávez in einer erfreulich selbstkritischen Tendenz in der letzten Zeit mehrmals offen zugab. Oder ein weiteres Problem, anderen verwandt, der vom chavistischen Apparat immer wieder an den Tag gelegte Paternalismus im Zusammenhang mit den indigenen Völkern. Der alte Gewerkschaftskämpfer Santiago Arconada Rodríguez schreibt in seinem schönen Artikel „El proceso“ (Rebelión, 6.10.12) dazu: „Es gibt einen Kampf gegen das für indigene Belange zuständige Ministerium Minpi, das im übelsten Missionsstil die Rechte der indigenen Völker auf (…) seine Kultur, die nicht die westliche der Bodenschatzförderung ist, aberkennt und zum Beispiel das tiefe und immense Quellgebiet der Sierra de Perijá, in dem das Land der Barí, der Yupka, der Japreria und der Wayúu liegt, in eine Mine verwandeln will … Was aber nicht möglich ist, ist, gegen den Prozess zu sein. Am 7. Oktober werde ich dafür stimmen, dass der Prozess weiter geht. Dass er in Venezuela weitergeht, in Lateinamerika und in der Welt. Kann sein, dass der Prozess nicht gut weiss, wohin er geht, aber eines weiss er, er will nicht zum Kapitalismus (…) Chávez steht dafür, dass der Prozess weiter geht“.
Die Rechte hat verstanden
Das ist die Frage, die heute in Venezuela beantwortet wird. Das ist die Frage, die manchmal auch angeblich linke SchreiberInnen nicht kapieren (wollen). Das ist die Frage, die im Gegensatz rechte SchreiberInnen perfekt kapieren. Ihre dominierende Berichterstattung folgt einem Skript, das heute, morgen oder übermorgen auf den Totalangriff gegen den Prozess in Lateinamerika und Venezuela setzt. Deshalb die monotone Behauptung, die Umfragen liessen ein knappes Ergebnis erwarten. Umfragen, die im Schnitt (pro- und antichavistische) einen 10%-Vorpsrung von Chávez prognostizieren… (s. den letzten Beitrag auf diesem Blog). Man vergleiche dies mit der Tonlage bei den US-Wahlen: Wenn Romney 2 oder 3 Punkte hinter Obama liegt, hat er Gegenwind und muss seine letzte Chance packen, das Ruder doch noch herumzuwerfen. Dass Resultate nicht immer den Umfragen ensprechen, stimmt, tut aber nichts zur Sache.
Diese Insistenz auf verzerrter Wahrnehmung hat seinen Grund: Sollten die Umstände „günstig“ sein – sagen wir, nur ein knapper Sieg von Chávez – ist das Terrain vorbereitet für eine massiv verschärfte Destabilisierungskampagne. Sei es mittels des in Venezuela breit ventilierten Szenarios, dass die Rechte noch vor Wahlschluss „Exit Polls“ verbreitet, die ihr den Sieg zusprechen, was dann von der Medieninternationalen aufgenommen und verstärkt würde. Vorgabe für aggressive diplomatische und andere internationale Einmischungen. Oder eine dauernde Infragestellung der Legitimität eines Chávez-Sieges in internationalen Gremien etc.(s. dazu Venezuela: Destabilisierungsoptionen der USA).
Natürlich gibt es da auch gegenläufige Einflüsse. Dem Nationalen Wahlrat CNE kann eigentlich kaum jemand Betrugsabsichten vorwerfen. Zig mal haben Carter Center, OAS, EU die Professionalität des CNE bestätigt. Die Wahlbeobachtungsdelegation der südamerikanischen Staatengemeinschaft Unasur betont die Glaubwürdigkeit des CNE. Am 17. September 2012 zitierte Global Atlanta den früheren US-Präsidenten Jimmy Carter und Chef des Carter Centers so: „Von den 92 Wahlen, die wir untersucht haben, würde ich sagen, dass der Wahlprozess in Venezuela der beste in der Welt ist“, während übrigens die USA „einen der schlechtesten Wahlprozesse in der Welt haben, und dies fast gänzlich wegen des exzessiven Geldflusses“.
Ganz so einfach wird also eine Destabilisierungskampagne via Betrugsbehauptung nicht werden.
Würde Chávez verlieren, wären die Konsequenzen für den Prozess in Venezuela und in Lateinamerika zweifellos dramatisch. Es würde eine massive Eskalation der schon laufenden Angriffe auf die Emanzipationskräfte im Südkontinent bewirken. In Venezuela, wo die Rechte keine zwei Sekunden zögern würde, die tiefgehenden Soziareformen abzuschaffen versuchen, würde es höchstwahrscheinlich zu militantem Widerstand kommen, nicht einfach seitens der chavistischen Partei, sondern der angegriffenen Unterklassen.
Die Wirtschaftslage
Natürlich wird der venezolanischen Wirtschaft seit 1999 permanent ihr Untergang vorausgesagt. Das jetzige Insistieren auf diesem Szenario soll aber noch zsuaätzlich die Botschaft vom „Ende des Chavismus“ betonen. Nehmen wir stellvertretend den NZZ-Artikel „Hugo Chávez hat Venezuela zugrunde gerichtet“ vom 4.10.12. Der Schreiber stimmt uns gleich auf Depression ein: „… die bis vor kurzem noch vollen Auto-Showrooms der Luxusmarken (sind) meist leer“. Den einen Satz, den er der Armutsreduktion von 49 auf 28 Prozent unter Chávez widmet, relativiert er gleich mit dem Hinweis, sie sei kaum nachhaltig. Das stimmt, wenn die Rechte heute gewinnt. Er erschüttert uns mit Untergangsmeldungen: „Verdoppelt haben sich die Bruttoschulden in vier Jahren auf 120 Mrd. $. Trotz hohen Öleinnahmen steuere der Staatshaushalt auf ein Defizit in Relation zum Bruttoinlandprodukt von 20% zu, erwartet Daniel Volberg von Morgan Stanley. Die Deviseneinnahmen sind in vier Jahren von 43 Mrd. $ auf 25 Mrd. $ geschrumpft.“ Nur, wo ist das Problem? Zur Aussenschuld Venezuelas hält das Center for Economic and Policy Research (Washington) in seinem lesenswerten Papier Venezuela’s Economic Recovery: Is it Sustainable? vom September 2012 etwa fest, dass die Zentralregierung 2011 ganze 3.4 Prozent ihrer Exporterträge (dieses Jahr mutmasslich 4.1 Prozent) für den Schuldendienst habe aufwenden müssen – angesichts der gesicherten Öleinnahmen kein Problem. Der staatliche Ölkonzern Pdvsa, der eine eigene Rechnung betreibt, warf für die gleiche Sache letztes Jahr 1.5 Prozent seiner Einkünfte auf. Die geschrumpften Deviseneinnahmen, die Morgan Stanley scharf machen, haben vor allem mit der globalen Wirtschaftskrise zu tun, als deren Ursache bisher nicht chavistisch-staatliche „Misswirtschaft“ gegolten hat. Die innere Staatsverschuldung in der Höhe von 11.4 Prozent des BIP ist auch kein grosses Problem, u.a. weil Venezuela über eine eigene Währung verfügt. Der Regierung bleibt viel Raum, notfalls, etwa für Stimulierungsprogramme, massiv mehr innere Schulden aufzunehmen. Es stimmt, die Deviseneinnahmen sind gesunken – infolge der grössten internationalen Wirtschaftskrise. Trotz einer Rezession 2009/10 (der Ölpreis war um die Hälfte gesunken), wächst die Wirtschaft seit April 2010 wieder, und dies in relativ vielen Sparten. Und es handelt sich hier definitiv nicht einfach (nur) um zerstörerisches Wachstum: Allein letztes Jahr liess die Regierung 150'000 Wohnungen für Unterklassen und untere Mittelschicht bauen, dieses Jahr steigerte sie diese Tätigkeit. Oft gehört ist auch das Argument einer unmittelbar bevorstehenden Hyperinflation. Quatsch. Zwar war die Inflation in den Chávez-Jahren mit durchschnittlich 22 Prozent tatsächlich hoch, doch gelang es in den letzten 12 Monaten, sie bei gleichzeitig anziehender Wirtschaft auf 13.7 Prozent zu drücken. In den Jahren vor Chávez lag sie bei 34 Prozent.
Eine Kritik an der Wirtschaftslage, die von links zu hören ist, betrifft die horrend hohe Nahrungsimportquote. Sie greift zu kurz, wenn sie nur darauf verweist, dass auch heute diese Rate wie zu Beginn der Chávez-Zeit bei 70 Prozent liege. Es ist zu berücksichtigen, dass die nationale Nahrungsproduktion unter Chávez immerhin um 40 Prozent gestiegen ist, aber auch die weniger arm gewordenen Unterklassen heute mehr essen als früher – que bueno! Dass mehr möglich gewesen wäre, ist klar. Es gibt eine Linie konsequenter Sabotage der Nahrungssouveränität durch Teile des chavistischen Apparates, die entsprechende positive Bemühungen anderer Teile des Staatsapparates behindern. Ein Problem, stellvertretend für andere. Den Kampf hier zu verstärken, setzt voraus, dass heute Chávez gewinnt.