El Salvador: Wie ein Klima der Konfusion erzeugen?

Montag, 23. Dezember 2013




(22.12.13) In El Salvador können wir einen nicht alltäglichen Blick auf eine wenig bekannte Art der imperialen Politik werfen. Nächsten Februar stehen hier Präsidentschaftswahlen an, der FMLN hat Chancen, sie zu gewinnen. Die früher regierende Rechtspartei ARENA liegt in den meisten Umfragen mehrere Punkte zurück, die dritte Option um den letzten Staatspräsidenten, den mittlerweile mit ARENA verkrachten Tony Saca, ist abgehängt. Um im ersten Durchgang zu gewinnen, braucht die Siegerpartei 50 Prozent plus eine der gültigen Stimmen (50+1), sonst kommt es am 9. März 2014 zum Stichentscheid zwischen FMLN und ARENA.

ARENA setzt auf eine Kampagne der Angst, der Unsicherheit – die Strassenbanden als Liebkind des FMLN, die Ex-Guerilla als (ehemalige?) Mordmaschine, der FMLN als Feind der USA und damit Verhinderer von Arbeitsplätze schaffenden Investitionen. Der FMLN befleissigt sich dagegen eines ruhigen, sachlichen Tones für seine Vorschläge für die Wirtschaftsankurbelung und Herstellung von Sicherheit unter Betonung der menschlichen, quasi grossväterlichen Stärken seines Präsidentschaftskandidaten Salvador Sánchez Cerén, des ehemaligen Guerillakommandanten Leonel González. Was immer von dieser Kampagne im Einzelnen zu halten ist (für meinen Geschmack etwas zuviel christliche Familienwerte und dgl.), sie kommt relativ gut an bei den Leuten. Der Frente ist jetzt laut einigen Umfragen nahe an die angestrebte Limite von 50+1 herangekommen.

Doch es gibt Methoden, Unsicherheit, Angst bei den Leuten zu erzeugen, also das, auf was die ARENA-Kampagne abzielt. Da wären einmal die democracy friends aus dem Norden. Washington hat mit der Regierung Funes 2011 eine sogenannte Partnership for Growth (PfG) abgeschlossen. Dabei handelt es sich um eine Modalität, mit der bisher vier Länder der sogenannten mittleren Einkommensklasse für die Bedürfnisse der US-Multis zugerichtet werden sollen. Als einen Haupthinderungsgrund für einen Wirtschaftsboom im Land hat Washington im Rahmen der PfG wenig überraschend zuwenig Rechtssicherheit für US-InvestorInnen ausgemacht, ein Missstand, dem mit einem von Staatspräsident Mauricio Funes brav übernommenen Gesetzesvorschlag für sogenannte Public Private Partnerships (PPP) begegnet werden soll. Das grundlegende Merkmal der von Washington und Brüssel global vorangetriebenen PPP besteht darin, dass der jeweilige Staat zentrale Projektkosten und die Risiken übernehmen und der Multi den Grossteil der Gewinne einstreichen soll. Usual game. Der FMLN war als einzige der Parteien dagegen, ein Absegnen der Vorlage durch die parlamentarische Mehrheitsrechte war deshalb absehbar. Also ging der Frente daran, eine Zustimmung zur PPP-Vorlage an die Bedingung zu knüpfen, dass zentrale Bereiche wie die öffentlichen Spitäler, die Wasserversorgung, die Nationaluni, das Gefängniswesen u.a. von den PPP ausgenommen werden. Es gelang ihm, diese Punkte im Parlament, wo vor den Wahlen keine Kraft als begeisterte Privatisierungsfans dastehen wollte,  durchzubringen.

"Gesundheit ist das Recht aller" - der FMLN beharrt darauf.
Der Grossunternehmerverband ANEP maulte auf, Funes protestierte, "die Botschaft" zeigte sich ungehalten. Die ANEP pilgerte schleunigst nach Washington, um dort angedachte "Gegenmassnahmen" zu unterstützen. Dann vergingen die Wochen, die Monate … bis zum Beginn der intensivsten Wahlkampfphase. Auf tritt "die Botschafterin". Ein sogenanntes Hilfsprogramm der US-Regierung zur Erschliessung der östlichen Pazifikküste im Wert von $227 Mio. soll nämlich die Handelsinfrastruktur und Massnahmen für das Erlernen von Englisch durch die zukünftigen Arbeitskräfte der anzusiedelnden Multizudienern sowie zur "Vereinfachung" von Inverstitionsregulierungen garantieren. Am 22. November 2013 liess die US-Botschafterin unmissverständlich verlauten, ohne die Liquidierung aller vom FMLN eingebrachten PPP-Mindestschutzmechanismen werde die Manna nicht fliessen. Die Funes-Gruppe in der Regierung, sonst ARENA spinnefeind, drängte darauf mit dieser Partei und dem Unternehmerverband ANEP auf eine beschleunigte "Reform" der PPP-Regulierung, die rechten Medien verbreiteten Entsetzen: Der FMLN vertieft die Feindschaft mit den USA, vertreibt die Investoren und stürzt das Land in eine Wirtschaftskrise ersten Ranges!

Links die Lehrerin, die US-Botschafterin Mari Aponte, rechts erklärt der gelehrige Schüler, Alex Segovia, der Topshot der salvadorianischen Regierung in Wirtschaftsfragen, die Vorzüge von PPP. Quelle: La Prensa Gráfica

US-Botschafterin Mari Aponte heizte damit das von ARENA so beschworene Klima der "Beunruhigung" richtig an. Ein FMLN-verursachter US-Wirtschaftsboykott von El Salvador – das ist in diesem Land der drängenden wirtschaftlichen Not und massiven Deinvestitionen der einheimischen Elite ein nicht zu unterschätzendes "Argument", erst recht, weil bis zu einem Drittel der salvadorianischen Bevölkerung in den USA lebt.

Wahlen wiederholen, verändern, …?
Und dann gibt es die bewährte Verfassungskammer des Obersten Gerichts, über deren zunehmende Machtausweitung wir vor einem Monat geschrieben haben (El Salvador: Justiz gegen Veränderung). Was das Schüren von Unsicherheit betrifft, setzt sie "der Botschaft" noch eins drauf.  Die Kammer, das sind vier Magistraten und eine von ihnen bestimmte Ersatzperson. Zwei der vier sind überhaupt nur mit illegalen Mischeleien (ihre Namen standen nicht auf der massgeblichen KandidatInnenliste) ins Oberste Gericht gelangt, und einer dieser beiden, Rodrigo González, hatte bei seiner Nominierung gelogen und eine Verurteilung wegen häuslicher Gewalt verschwiegen. Dieser Caballero geruhte am 12. Dezember 2013 der Öffentlichkeit mitzuteilen, die Wahlen müssten eventuell wiederholt werden, falls ein Kandidat gewinne, dessen Kandidatur von der Verfassungskammer nachträglich als verfassungswidrig erklärt würde!

3-1-1=?
Hintergrund: Gegen die Kandidaturen von Sánchez Cerén vom FMLN und Saca von der "zweiten" Rechtspartei sind mehrere Einsprüche bei der Kammer hängig. Als jetziger Vizepräsident des Landes könne Sánchez Cerén nicht für die Präsidentschaft kandidieren; bei Saca wird anderes ins Feld geführt. Die Kammer hatte vor kurzem beschlossen, diese Anträge erst nach den Wahlen zu beurteilen, um die "Wahlruhe nicht zu stören". Die einzige Einsprache gegen den ARENA-Kandidaten hat die Kammer vorgängig abgewiesen. Saca scheint keine Chancen auf einen sieg zu haben, also irrelevant. Bleibt der Frente-Kandidat.
FMLN-Präsidentschaftskandidat Salvador Sánchez Cerén an Veranstaltung in San Miguel

Die "Erwägung", die Wahlen allenfalls wiederholen zu lassen, hat massiv Wellen geschlagen. Die Reaktionen von González' Kollegen lassen sich, abgesehen von der nie erläuterten Behauptung, der Mann sei aus dem Zusammenhang herausgerissen zitiert worden, so zusammenfassen, dass eine Wahlrepetition, falls von der Kammer so beschlossen, zwar eine Perspektive sei, doch eigentlich eine nicht sehr schöne, jedenfalls nur eine Möglichkeit unter nie skizzierten anderen. Die Kammer könnte die Anträge abweisen, beispielsweise. Oder sie könnte sich vielleicht auf den Standpunkt stellen, ein allfälliger Wahlsieg des Frente sei nicht anzufechten (bei Präsidentschaftswahlen hat sie vor einiger Zeit die Parteiwahl akzeptiert), aber Sánchez Cerén müsse seinem vorgesehenen Vize, Óscar Ortiz, Platz machen. (Órtiz repräsentiert den "moderaten" Minderheitsflügel im FMLN. Im präsidialistischen salvadorianischen System würde eine Regierung Órtíz wohl eher die Linie der jetzigen Administration Funes fortführen, als die Sozial- und Wirtschaftsreformen zu vertiefen.)


Das Wahlmass aller Dinge
Das sind Spekulationen. Zwei Dinge aber stehen fest: Die Kammer hat wesentlich mehr zur Erzeugung eines von ARENA so angestrebten Unsicherheitsklimas punkto Wahlszenarien beigetragen als erklärte Standardinstitutionen der Rechten. Und sie hat ihre Machtbefugnisse erneut "selbstherrlich" ausgebaut. Bisher galt nämlich, zumindest dem Anspruch nach, in Sachen Wahlen, was in der Verfassung steht. Demnach ist das Oberste Wahlgericht die letzte Instanz, die über die Kandidaturen entscheidet. Nun hat sich die Kammer auch diese Kompetenz angeeignet. Sie geriert sich erklärtermassen schon lange als eigentliches Verfassungsgericht mit viel weiter gehenden Kompetenzen als jene einer blossen Verfassungskammer. Im Kern beinhaltet dies die usurpierte Kompetenz, in eigener Regie Verfassungsänderungen durchzuführen (getarnt als von allen Staatsgewalten und BürgerInnen zu befolgende "Interpretationen" der Verfassung), was ich etwas komprimiert im Correos 170 (Chaos grinst um die Ecke) und präziser in La variante salvadoreña beschrieben habe. Gerade gestern zitierte die Prensa Gráfica den erwähnten González mit der Aussage, bei seiner Kammer handle es sich um ein Verfassungsgericht. Auch wenn die Verfassung, sich selbst offenbar falsch interpretierend, festhält, dass alle Kammern des Obersten Gerichts gleichrangig sind, von daher per se keine allen anderen Staatsgewalten übergeordnete Instanz existiert.  Bis zu Beginn dieser Wahlkampagne wäre die Vorstellung, dass die Verfassungskammer als oberste Wahlinstanz amtiere, absurd erschienen. Jetzt tut die Rechte so, als ob die Vierer-Kammer selbstverständlich das Mass aller Dinge sei.

Machtusurpation als Mittel zur Verfassungsreform von oben
Es vergeht kaum eine grössere Zeitspanne, in der die Kammer ihre Machtbefugnis nicht auf ein neues Gebiet ausweitet. Auf die Parlamentswahlen 2012 setzte sie durch, was manchen als Acquis der "Demokratie" gilt: WählerInnen können innerhalb der Parteiliste ihre KandidatInnen frei auswählen, sie bringen ihr Kreuz nicht mehr beim Parteisymbol an, sondern bei einem Individuum auf der KandidatInnenliste. Übliches Argument: Damit werde die Macht der Parteileitungen zugunsten jener der WählerInnen zurückgebunden und die Chancengleichheit der KandidatInnen gewährt. Da nimmt man doch gerne in Kauf, dass dort, wo Parteien nicht einfach bloss Sprungbretter für Karrieren, sondern tatsächlich TrägerInnen gesellschaftlicher Alternativprojekte sind, genau diese Eigenschaft unsichtbar gemacht werden soll. Du stimmst jetzt für Gesichter, nicht mehr ein Programm. Und klar, die Kapitalmedien werden alles daran setzen, dich darüber "aufzuklären", welche KandidatInnen der betreffenden Partei nichts taugen und welche, medial "populär" gemacht, gewählt werden sollen. Nämlich die schwächsten Glieder in der linken Kette.

Wie immer, die salvadorianische Verfassung sah dummerweise expressis verbis das Parteiwahlsystem und nicht jenes der individuellen Wahl vor. Die Verfassungskammer "interpretierte", also schrieb also die Verfassung neu so, dass sie das Gegenteil von dem sagt, was in ihr steht: individuelle Wahl. Wie immer die Haltung zur inhaltlichen Frage, in El Salvador kennt die Verfassung genau einen Weg ihrer Veränderung: Eine Zweidrittelmehrheit einer dreijährigen Legislative verabschiedet eine Verfassungsreform, die vom nächsten Parlament mit einfacher Mehrheit bekräftigt werden muss, um Gültigkeit zu erlangen. Doch das ist nur die Verfassung, die Macht sieht anders aus: Als die Parlamentsmehrheit um den FMLN gegen die von der Verfassungskammer durchgedrückte Verfassungsreform an den zentralamerikanischen Gerichtshof gelangte, schrie nicht nur die nationale Rechte samt assortierter "Zivilgesellschaft",  sondern auch die "internationale Gemeinschaft" entsetzt ob solcher "Missachtung der Unabhängigkeit der Justiz" auf, von Washington über die UNO-Menschenrechtskommissarin bis zu den einschlägigen internationalen Medien. Schliesslich entsprach das Prozedere der Kammer genau den Vorstellungen des State Departments, dessen Verlängerung NDI (Internationale Stiftung der Demokratischen Partei) ihren Finanzempfängern in der salvadorianischen "Zivilgesellschaft" die "Reform" vorformuliert hatte. 

Das war 2011. Jetzt hat die Kammer wieder zugeschlagen und gleich auch noch die Kompetenz des Parlaments zur Verfassungsveränderung für die Fälle abgeschafft, in der die Legislative anderer Meinung als die Kammer ist. Am 16. Dezember 2013 erklärte sie eine Verfassungsänderung für verfassungswidrig, die das Parlament als Antwort auf ihr Diktat in Gang gesetzt hatte und die noch vom nächsten Parlament, also frühestens 2015, hätte bestätigt werden müssen: die Wiedereinführung der Parteiwahl. Ein absolutes Novum, nicht ganz nebensächlich in einem System der sogenannten repräsentativen Demokratie: Die Verfassung darf das von der Verfassung dafür vorgesehene Organ nur dann verändern, wenn, was von der Verfassung nicht so vorgesehen ist, die Veränderung den vier Magistraten der Kammer genehm ist.

Beschränkte Macht
Wer macht sich stark für die "Unabhängigkeit" dieser Verfassungskammer? Washington (plus der Grossunternehmerverband ANEP, ARENA und deren "zivilgesellschaftlicher" Anhang). Andernfalls wären die Vier schon längst weg vom Fenster, entsorgt wie jene ihrer honduranischen Amtskollegen, die meinten, eines der diktatorialen Gesetzesvorhaben des damaligen Parlamentspräsidenten und heutigen Wahlbetrugssiegers nicht mittragen zu müssen. Sie wurden subito, obwohl putschtreu, durch Willfährigere ersetzt. Ein kaum wahrnehmbares verlegenes Hüsteln der "internationalen Gemeinschaft" war die Folge, längst verdrängt von ihren Lobpreisungen des neuen Putschpräsidenten. Beim Entscheid war es ja auch um ein innovatives Vorhaben gegangen: die Errichtung, nach Vorgaben eines US-Starökonomen, von künstlichen Städten in "unbewohnten Randgebieten" mit eigener Justiz und Verfassung der darin investierenden internationalen Financiers.

Immerhin: Wie sehr sich auch "die Botschaft" und ihre Gerichtskammer anstrengen, eine Stimmabgabe für den FMLN als frustrierend unsicher erscheinen zu lassen, macht es doch den Eindruck, dass sich sehr viele Menschen nicht mehr einfach ins Bockshorn jagen lassen. Schlecht für die democracy von oben, gut für die Befreiung der Leute. Ob es für den nächsten Schritt der Emanzipation reicht, werden wir bald sehen.