Honduras: Das Dilemma von Libre

Mittwoch, 4. Dezember 2013




(zas, 4.12.13) In Honduras nimmt das gesellschaftliche Drama seinen Lauf. Das Oberste Wahlgericht TSE hat den Kandidaten des Partido Nacional, den bisherigen Parlamentspräsidenten Juan Orlando Hernández,  mit über 36.83 % der Stimmen (1'133'509)und damit fast 8 Prozent Vorsprung auf Xiomara Castro (28.78 % oder 885'894 Stimmen), Kandidatin der mit der Resistencia verbundenen Partei Libre (Libertad y Refundación) zum neuen Präsidenten erklärt. Gleichzeitig bestätigte das TSE sein Angebot an Libre, die Akten nachzuzählen – dabei werde es keine Veränderungen des Resultats geben.

Am letzten Samstag ist José Antonio Ardón, bekannt als Emo 2, in der Nacht nahe seines Hauses in einem Unterklassenquartier der Hauptstadt mit vier Schüssen ermordet worden. Emo 2 gehörte wie mehrere andere seit dem Putsch Ermordete der legendären motorizada de la resistencia an, jenen waghalsigen Kleinmotorradfahrern, die in den "heroischen Monaten" des Widerstandes nach dem Putsch von Juni 2009 eine Art Demoschutz, Erkundungsstaffel in Sachen Dispositiv der Sicherheitskräfte und Kommunikationsstaffetten zwischen Demoteilen und Demoleitung waren. Seine Leiche wurde an der von Libre am Sonntag  organisierten Demo gegen den Wahlbetrug mitgeführt, begleitet von den sichtlich erschütterten Xiomara Castro und Mel Zelaya, ihrem Mann.

Emo Dos

 
Xiomara und Mel mit dem Sarg von Emo 2




Tegucigalpa, 1.12.13: Libre-Demo


Das Statement von Libre
In den letzten Tagen sind immer mehr Nachrichten zu einem Wahlbetrug im Rechenzentrum des TSE veröffentlicht worden (s. El Libertador, 28.11.13). Letzten Freitag verlas die Libre-Exponentin im Beirat des TSE, Rixi Moncada, ein Parteidokument mit Angaben zum Wahlbetrug (englisch hier, auf Spanisch ist im Netz keine Transkription zu finden, Video hier). Einige Befunde:  

1. Der Vergleich zwischen 14'593 physischen Akten der insgesamt 16'000 Wahltische (MER) mit jenem im elektronischen Rechen- und Veröffentlichungssystem des TSE (SIEDE) ergibt: 82'000 Stimmen zu viel gezählt für den Partido Nacional, dafür zu wenig gezählt für Libre 55'720, für die neue Antikorruptionspartei PAC 34'183, für den Partido Liberal 29'063, für weitere Parteien: 13'307. Diese Änderungen seien bei der Übertragung ins Rechenzentrum erfolgt.

2. Scans. Angeblich würde das Rechenzentrum des TSE nur jene von den spezifischen Scannern in den Wahlzentren übermittelten Wahltisch-Akten akzeptieren, die zur Übermittlung genau dieser Wahltisch-Akten programmiert worden seien. Tatsächlich akzeptierte das Rechenzentren aber auch Akte, die von den kommunalen Wahlgerichtsinstanzen eingescannt worden seien. Zudem zeigen die ATX-Nummern (Scanner-Zentrum) mancher Scans, dass sie schon in den Morgenstunden des Wahltages übermittelt worden seien.

3. "Zahlreiche" vom TSE publizierte Akten stimmen genau mit fiktiven Resultaten überein, die bei den Übermittlungsproben verwendet worden sind.

Rixi Moncada verliest Libre-Statement
4. "Zahlreiche" vom TSE an die politischen Parteien weitergegebenen und auf der Homepage publizierten Wahltisch-Akten stimmen nicht mit den Akten überein, die Libre-Mitglieder der Wahltische erhalten haben. [Anm.: Die ParteivertreterInnen an den Wahltischen erhalten nach der Auszählung eine Kopie der Resultateakten ihres Wahltisches; die Parteien bekommen später vom TSE jeweils eine Kopie der im Rechner verarbeiteten Wahltisch-Akte.]

5. 88 % der Wahltische weisen eine durchschnittliche Stimmbeteiligung von 61 % der eingetragenen Wahlberechtigten auf, 12 % der Wahltische eine solche von über 70 %. Bei 85 % dieser 12 % der Tische schwang der Partido Nacional obenauf. Diese statistische Inflation verlangt nach einem Abgleich mit dem WählerInnenregister zur Eliminierung von Stimmen von Ausgewanderten oder Verstorbenen.

6. Von 2805 Wahltisch-Akten erhielten die Partien keine TSE-Kopie, sie sind auch auf der Webpage des TSE nicht aufgeführt.

7. Ein Bericht der Organisation der Amerikanischen Staaten vom 20. November 2013 (vier Tage vor dem Wahltermin) hält bezüglich ihrer Überprüfung des elektronischen Rechen- und Veröffentlichungssystem des TSE (SIEDE) fest: "Die Sicherheitsanalyse der verschiedenen SIEDE-Elemente hat ergeben, dass das zum Zeitpunkt der Berichterstattung verwendete System  gewisse Mängel bei der adäquaten Implementierung der Sicherheitsmassnahmen aufweist, die bei diesen Projekttypen als Minimalstandards für die Garantierung der Integrität des Systems betrachtet werden sollten". Dito hielt der Bericht fest, dass "bezüglich des Moduls der Konsolidierung, Integration und Veröffentlichung der Resultate die Überprüfung Fehler gefunden hat, die die Non-compliance mit Qualitätsstandards für diese Art von Programmen zeigen." Es handle sich dabei um "ein kritisches Element, da es die Qualität des ganzen SIEDE beeinträchtigen könnte".

8. Eine am 26. November 2013 aufgeschaltete Page zeige mit einer Reihe von Programmcodes aus SIEDE und der als Beispiel veröffentlichten Suche nach Kandidaten mit dem Vornamen Mauricio zeigt, dass "wer immer die Seite im Web aufgeschaltet hat, Zugang zur Datenbank-Registry und nicht bloss zur Struktur gehabt hat".

9. In ihrem vorläufigen Bericht hält die Beobachtungsmission der EU fest, dass 30 % des WählerInnenregisters falsch sei: Es enthält Tote, Ausgewanderte und hat Lebende als Verstorbene gestrichen.

Die Rolle der OAS
Soweit eine Kurzzusammenfassung des Libre-Statements. Gleich vorweg zur OAS: Während der interne Bericht der OAS explosive Momente enthält, ist davon im dazu veröffentlichten Kommuniqué der Organisation rein gar nichts zu lesen. Es beinhaltet im Gegenteil dazu konträre Aussagen. Das ist bei der OAS Tradition: Auch in El Salvador wurden vor einigen Jahren im "technischen Teil des nicht veröffentlichten Berichts sensationelle Fehler- und mögliche Betrugsquellen im technischen Wahlsystem analysiert und einer vernichtenden Kritik unterzogen, während sie im "politischen" Teil desselben Berichts und in den veröffentlichten Statements zu ihrem glatten Gegenteil umgelogen wurden. Selbstredend fiel den OAS-Wahlbeobachtungsmissionen dann auch nie irgendetwas Ungereimtes bei den von Betrug durchtränkten Wahlgängen auf.

Basisorganisierung oder Vertrauen auf die Botschafterin?
Doch Libre wird noch ein zusätzliches Problem haben. Leider ist es fraglich, ob diese Partei den Willen und die Fähigkeit gehabt hat, für den Wahltag jene defensa del voto zu organisieren, also jenen Apparat vor allem an den Wahltischen, den es braucht, um mit Originalakten von den Wahltischen bei Resultatsanfechtungen operieren zu können. Diese Akten, die von den jeweils am Wahltisch anwesenden ParteivertreterInnen unterschrieben sein müssen, sind die einzige (relative) Garantie dafür, dass Anfechtungen ernst genommen werden müssen. Dazu braucht es einen gut organisierten, einsatzbereiten Basisapparat. Denn für jede/n VertreterIn an den Wahltischen braucht es zum Beispiel einen Ersatz, wenn das Klo aufgesucht werden muss, braucht es Leute in der Logistik (Essen, Trinken), braucht es Leute, die die jeder Partei an den Wahltischen ausgehändigten Resultateakten einsammeln und an zentrale interne Rechenstellen der Partei weiterleiten, braucht es beispielsweise einen gewissen Schutz rund um das Wahlzentrum, wenn Parteimitglieder an den Tischen bedroht werden, braucht es eine intensive, über Monate verteilte Schulung aller Beteiligten nicht nur zu technisch-legalen Aspekten des Wahlvorgangs, sondern etwa auch zu "Autoritätsproblemen": Wie sich verhalten, wenn für die Rechtspartei der Aufpasser des lokalen Grossgrundbesitzers und Arbeitgebers am Tisch sitz oder wenn das Gegenüber mit der Arroganz der gebildeten, herrschenden Klassen auf die oder den manchmal nur bedingt das ABC und das 1x1 beherrschende/n VertreterIn der Linkspartei einredet?

Doch die Führung von Libre hat all dem anscheinend wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Faktisch haben ehemalige Mitglieder der rechten Liberalen Partei, der bis zu seinem Sturz auch Mel Zelaya angehört hatte, die sich beim Putsch oder erst auch in jüngster Zeit von ihrer Mutterpartei abgewandt hatten, das Ruder in Libre übernommen. Sie scheinen – vermutlich bis zu Mel Zelaya und Xiomara Castro – den Beteuerungen der US-Botschafterin geglaubt zu haben, keinen Wahlbetrug zuzulassen, um die sozialen Spannungen im Land nicht noch weiter aufzuheizen. Wer sich so protegiert wähnt und ohnehin aus alter Politmanier heraus eher auf das "Aushandeln" von Resultaten als auf die Verteidigung der Stimmabgabe von unten verlässt, bringt mit Bestimmtheit nicht die Energie und die Arbeit auf, die es braucht, einen Antiwahlbetrugsapparat an den Urnen zu organisieren – und dies in einem von putschistischer Gewalt durch und durch gezeichnetem Land.

Das Resultat dürfte sein, dass Libre tatsächlich im Besitz von nur einem Teil der Wahltisch-Akten ist. Damit wird jede Nachzählung bis zu einem gewissen Grad ein Fake. Das über diese Umstände mutmasslich gut informierte Wahlgericht der putschistischen Kräfte (dessen Chef Matamoros Batson übrigens 1983 wegen Korruption die Leitung der Zollbehörde abtreten musste) hat wohl nicht ohne Absicherung Libre diese Nachzählung zweimal empfohlen. Und es ist hundertprozentig auch kein Zufall, dass Matamoros Batson zur Nachzählung betont, sie betreffe die der Akten, nicht etwa der in den Urnen enthaltenen Stimmzettel (El Heraldo, 2.12.13). Denn das würde die Sachlage doch drastisch ändern.

Die "internationale Gemeinschaft": Das Beispiel der EU-Mission
Mit der Unterstützung der "internationalen Gemeinschaft" wird diese Nachzählung mutmasslich ziemlich glatt über die Bühne gehen und Libre könnte dabei ziemlich blamiert werden. Zur "kritischen Qualität" der OAS haben wir vorher ein Müsterchen gesehen. Die EU-Wahlbeobachtungsmission (MOE-UE), geleitet von der österreichischen grünen Euro-Parlamentarierin Ulrike Lunacek, steht da nicht hinten an. Das Missionsmitglied Leo Gabriel, ein alter Bekannter der deutschsprachigen Soliszenen, sprach im Flughafen, unmittelbar vor seinem Abflug, von einer verfälschten offiziellen Darstellung der Beobachtungsbefunde und schweren internen Differenzen. In einem Interview führte er aus: "Wir [die MissionsbeobachterInnen der EU] kamen zu Schlüssen, die denen der Zentralequippe der MOE-EU diametral entgegengesetzt waren, was die sogenannte Transparenz der Wahl und der Auszählung betrifft." So haben er und andere Mitglieder der Mission etwa beobachtet: "Während der Übermittlung der Resultate gab es keine Möglichkeit festzustellen, wohin denn die Akten übermittelt wurden und wir erhielten glaubwürdige Mitteilungen  über eine Umleitung von mindestens 20 % der ursprünglichen Akten an einen illegalen Server, der sie verheimlicht hat". Über die Gründe der offiziellen Haltung der Missionsleitung befragt, meinte Gabriel: "Einige von ihnen glauben tatsächlich dem TSE, aber generell gibt es einen politischen und ökonomischen tiefer liegenden Grund. Der Staatsstreich 2009 schadete dem internationalen Ruf von Honduras und bewirkte eine Verlangsamung beim Durchziehen des Assoziationsvertrags zwischen der EU und Zentralamerika. Einen sauberen und transparenten Wahlprozess zu behaupten, hilft der EU, das Bild Honduras' in der Welt zu reinigen und dieses Handelsprojekt umzusetzen" (Resultados de las elecciones en Honduras fueron alterados, dice observador de la Unión Europea).

Natürlich desavouierte die EU-Missionsleitung Gabriel umgehend, warf ihm den Bruch eines Verhaltenskodex vor und betonte, einzig Leiterin Lunacek und Vizeleiter José Antonio de Gabriel seien zu öffentlichen Erklärungen befugt. Letzterer, ein spanischer "Demokratieexperte", meinte übrigens in einem Interview wenige Tage vor dem Wahlgang, in El Salvador und Guatemala habe es Fortschritte in den Wahlprozessen gegeben, in Nicaragua jedoch Rückschritte . Tatsächlich, mit Fortschritten wie jetzt in Honduras kann jenes Land nicht mithalten. Lunacek scheint ein typisches Beispiel von politischer Korruption zu sein: In Österreich gilt sie als LGTB-motiviert, in Honduras, wo seit dem Putsch 115 Mitglieder der LGTB-Community ermordet worden sind, die meisten mutmasslich von Hand der Sicherheitskräfte, vermochte es die Frau einfach nicht, das Wahl von Bedrohung und Gewalt durch die Armee gegen Libre wahrzunehmen. Das ist zweifellos karrierförderlich.

Ulrike Lunacek und José Antonio de Gabriel

FNRP stärken
Was genau die Libre-Führung mit ihrem erratischen Vorgehen bezweckt, ist unklar. Es trägt jedenfalls kaum zur Stärkung der revolutionären Demokratiebewegung bei. So hatten Mel Zelaya und auch Xiomara Castro Ansätze von Basiskollektiven in verschiedenen Städten zu Mobilisierungen gegen den Wahlbetrug öffentlich abgeklemmt, haben dann jedoch für letzten Sonntag zu einer Demo um 8 h früh aufgerufen – ausserhalb jeder Tradition des Volkswiderstandes im Land. Auf jeden Fall wird es für die Kontingente der resistencia unausweichlich sein, ihr im Widerstand gegen den Putsch geborenes Instrument, den Frente Nacional de Resistencia Popular (FNRP), wieder stärker zu betonen. In Honduras hatte ein grosser Teil der Linken die Vorstellung, den FNRP als Instrument breiter gesellschaftlicher Mobilisierungen einzusetzen, als Leitungsorgan quasi der auf Wahlbereiche zugeschnittenen Partei Libre. Diese Rechnung ging nicht auf, nicht nur wegen des starken ex-liberalen Einflusses in Libre. In einem Wahlkampf, in dem für die Leute erfahrbar gegensätzliche gesellschaftliche Entwürfe anstehen, wird die den Wahlkampf führende Struktur zwangsläufig die Führungsrolle übernehmen.

Protest am 28. November 2013