Der Historiker, Autor und Dramaturg aus Venezuela gibt im Interview mit
"Cubadebate" seine erste Einschätzung des Wahlergebnisses vom 6. Dezember
"Cubadebate" seine erste Einschätzung des Wahlergebnisses vom 6. Dezember
Übersetzung: David Wende
Welche
symbolische Bedeutung könnte es haben, dass genau auf den Tag 17 Jahre nach dem
ersten Wahlsieg von Hugo Chávez, die venezolanische Opposition die
Parlamentswahlen gewann? Welche Gründe haben Ihrer Einschätzung nach zu diesem
Ergebnis geführt?
Was die
symbolische Bedeutung betrifft, glaube ich nicht, dass sie besonders groß ist -
ich habe mich gar nicht an diesen Jahrestag erinnert. Die Gründe für dieses
Wahlergebnis sind vermutlich die Unwirksamkeit des Kampfes der Regierung gegen
Korruption, Spekulation und das Horten von Waren. Mehr als zwei Jahre wurde das
venezolanische Volk einem Wirtschaftskrieg unterworfen, wie er schon Salvador
Allende erklärt wurde.
Die
Kapitalisten haben Dollar zu Vorzugspreisen von der Regierung erhalten, um
Versorgungsgüter zu importieren und sie haben schließlich gar nichts
importiert, oder sind untergetaucht in Briefkastenfirmen. Die Regierung hat
keine Maßnahmen getroffen, um diese Handlungsweisen drastisch zu bestrafen.
Vielleicht
hat sich ein Teil der Bevölkerung im Stich gelassen gefühlt und entschied sich,
nicht für jene zu stimmen, die sie da vermeintlich alleine gelassen haben. Es
ist angebracht darauf hinzuweisen, das die Wahlergebnisse kein großes Wachstum
der Rechten widerspiegeln. Wenn wir die Präsidentschaftswahlen von 2013 mit der
jetzigen Wahl vergleichen, erreichten die Rechten gerade mal einen Zuwachs von
4,22 Prozent, von 7.363.980 auf 7.707.322 Stimmen. Es handelt sich um eine Enthaltung
der bolivarischen Stimmen, die durch die Untätigkeit der Regierung gegen
Korruption, Wucher und Horten hervorgerufen wurde.
Präsident
Nicolás Maduro sagte, dass, obwohl eine Schlacht verloren wurde, der Aufbau des
Sozialismus weitergehe. Welchen Spielraum hat die Bolivarische Revolution noch?
Vor welchen Herausforderungen steht sie?
Die
Volksbewegung wurde aus viel schlimmeren Niederlagen geboren. Am 27. Februar
1989 hat sich die venezolanische Bevölkerung gegen ein neoliberales Paket des
IWF erhoben und bei der Niederschlagung kamen Tausende um. Am 4. Februar 1992
gab es gegen dieses Paket und die damalige Regierung einen Militäraufstand, der
zwar strategisch scheiterte, aber aus ihm ging die siegreiche Persönlichkeit
des Hugo Chávez hervor. Die Geschichte Venezuelas hört auch heute nicht auf.
Sie hat
Herausforderungen vor sich. Zuallererst sind die Schwierigkeiten zu meistern,
die durch die Straflosigkeit der Korrupten, Wucherer, Hamsterkäufer und
Schmuggler ins Ausland losgebrochen wurden.
Zweitens,
jene Verantwortlichen unerbittlich zu bestrafen, damit für die Wähler, die sich
enthalten haben, klar ersichtlich wird, dass keine Komplizenschaft zwischen der
Regierung und diesen Verbrechern besteht.
Drittens:
Die Medienpolitik zu reformieren, da in ihr die Macht liegt, auf effizientem
Wege den wirklichen Sinn und die Vorzüge des Sozialismus zu erklären und
aufzudecken, was der Neoliberalismus dem Volk entreißen würde.
Viertens:
Die sozialen Bewegungen, Gewerkschaften und anderen Organisationen in Kampfbereitschaft
gegen die zukünftigen Angriffe des Neoliberalismus zu bringen, die
Massenentlassungen, Einschränkung im Arbeitsrecht und Rentenkürzungen umfassen
werden.
Fünftens:
Der verfassungsrechtlichen Bestimmung zur Geltung zu verhelfen, dass die sozialen
Errungenschaften unumkehrbar sind.
Sechstens:
Die Polizei- und Sicherheitsmaßnahmen gegenüber dem Paramilitarismus
auszubauen, der sich schon als bewaffneter Arm des Neoliberalismus abzeichnet.
Siebtens:
Eine tiefgreifende Umstrukturierung der Vereinten Sozialistischen Partei
Venezuelas vorzunehmen, sowie anderer Organisationen des Großen Patriotischen
Pols, um Fehler zu berichtigen und Ineffizienz, Bürokratismus und Vorteilsnahme
zu zügeln.
Achtens: Radikal
die Idee zu verwerfen, das mit der "pragmatischen" Unternehmerschaft
und den Rechten ein Pakt möglich sei – gerade in Hinsicht auf die
katastrophalen Ergebnisse eben dieser bisherigen Zusammenarbeit.
Neuntens:
Die ideologische Schulung der Aktivisten und des Volkes insgesamt zu
verstärken.
Zehntens:
Mit gutem Beispiel voranzugehen, das überzeugendste Argument von allen.
Laut der
Nationalen Jugendumfrage von 2013 glaubten 60 Prozent der Venezolaner zwischen
15 und 29 Jahren, dass der Sozialismus das bessere ökonomische System sei,
gegenüber 21 Prozent, die den Kapitalismus vorzogen. Hat sich diese Haltung des
venezolanischen Volkes, der Jugend geändert? Welche Kräfte herrschen noch vor?
Diese
Umfragen wurden gestartet als der ökonomische Krieg gerade erst begann, die
Bevölkerung hart zu treffen. Mit deiner Erlaubnis werde ich ein paar Worte von
Fidel zitieren, die Chávez in seiner Autobiografie "Cuentos del
Arañero" erwähnt.
So erzählt
Hugo Chávez wie Fidel ihm sagte:
"'Schau
mal, ich habe da eine Schlussfolgerung aus deiner Rede gezogen'. Und er
blätterte in seinen Aufzeichnungen, er hatte die ganze Rede da und eine
Zusammenfassung in seiner eigenen Schrift, Notizen von Zahlen. Er sagte mir:
'Du sagtest in deiner Rede einen Satz, eine Zahl, dass es vor zehn Jahren
600.000 Studierende in Venezuela gab und es heute 2.400.000 sind'. Das ist
wahr, es gab einen Zuwachs von 400 Prozent. Er [Fidel] hatte eine lange Liste
mit Verbesserungen in der Bildung, im Gesundheitswesen, all das was wir an
Fortschritten diese Jahre über erreicht haben. Und er sagte mir: 'Ich habe eine
Schlussfolgerung gezogen, Chávez, keine Revolution von der ich weiß, nicht mal
die kubanische, hat im Sozialen soviel in so kurzer Zeit für ihr Volk erreicht,
wie die bolivarische Revolution.' Und weißt du was die Zweite ist? So fragte er
mich. 'Ich kam zur Schlussfolgerung das ihr keine politischen Vorteile aus
diesen sozialen Fortschritten ziehen wollt.'"
So wie in
vielen anderen Dingen hatte Fidel recht. In Venezuela macht uns ein schwerer Mangel
an ideologischer Bildung zu schaffen. Es gab keine nachhaltigen Erfahrungen mit
Schulungen von politischen Aktivisten. Alles wurde dem Volk gegeben: kostenlose
medizinische Versorgung, Nahrungsmittel, Medikamente, subventioniertes Benzin
und 900.000 Wohnungen in den letzten Jahren, tausende neue Taxis, Laptops für
Grundschüler und Tablets für Studierende an den Hochschulen (die auch kostenlos
sind).
Durch eine
fehlende Bildungskampagne denkt das Volk nun, das fällt alles vom Himmel, und
als würde es nicht eine harte Arbeit voraussetzen oder nicht verteidigt werden
müssen.
"Der
Wandel hat begonnen in Venezuela", sagte der MUD. Auf welchen Wandel genau
beziehen sie sich, was könnte die venezolanische Opposition nun nach ihrem
Parlamentssieg unternehmen?
In einem
Jahr kann die Rechte alle Stimmen, die sie durch falsche Versprechen
dazugewonnen hat, wieder verscheuchen, indem sie von Neuem neoliberale
Maßnahmen anwendet. Die selben Maßnahmen, die sie schon mal die Macht gekostet
haben und die sie nicht aufhören können anzuwenden. Sie werden weiter die
Preise hoch setzen bis sie unerträglich werden, Waren horten und verschwinden
lassen, spekulieren. Geeignete Gesetzte hebeln dann die Sozialleistungen der
Arbeiterschaft aus und sie führen die variable Verzinsung mit Zinseszins wieder
ein.
Andere
Normen würden die Preise befreien, sowie die Mieten und Zinssätze. Sie würden
stückweise die kostenlose Bildung zerstören, Subventionen abschaffen, den
Sozialmissionen ein Ende setzen und so den Etat, von dem momentan 61% für
Sozialausgaben bestimmt sind, drastisch um die Hälfte kürzen.
Ist ein
Zusammenleben zwischen einer oppositionellen Legislative und einer
sozialistischen Exekutive möglich? Welche Varianten könnten sich daraus
zukünftig ergeben?
Was das
Zusammenleben zwischen Sozialismus und Kapitalismus betrifft, würde ich gern
die Parabel vom gemischten Hühnerstall erzählen. Ein Landwirt baut einen
gemischten Hühnerstall, die Hälfte sind Hennen, die andere Hälfte Füchse. Nach
einer Woche haben die Füchse die Hühner verspeist und verschlingen dann den
Landwirt.
Die falsche
Idee, dass man die Unternehmer nur mit Dollars für Scheinimporte überschwemmen
muss, um mit ihnen zusammenleben zu können, ist einer der Gründe für die
Versorgungsengpässe, die zu diesem negativen Wahlausgang geführt haben.
Die Rechte
wird ihre seit nunmehr 17 Jahren ununterbrochenen Aktionen fortführen, um die
bolivarische Macht zunichte zu machen. Sie wird dabei vorbringen, dass die
Niederlage bei der Parlamentswahl ein Plebiszit sei, welcher Maduro zum
Rücktritt zwänge; sie wird ein Abwahlreferendum einberufen; Vizepräsidenten und
Minister mittels Vetos absetzen; die Genehmigung des Haushaltsplans und
zusätzlicher Kredite verhindern; das Bevollmächtigungsgesetz (Ley Habilitante) aufheben
und alle Gesetze, die soziale Fortschritte errungen haben; den Abschluss
landeswichtiger Verträge nicht autorisieren; die Erlaubnis verweigern, die
Zuständigen für die diplomatischen Vertretungen zu ernennen.
Es scheint,
dass Lateinamerika schlechte Zeiten bevorstehen: Mauricio Macri ist Präsident
von Argentinien und jetzt dieser Sieg der Opposition bei den Parlamentswahlen
in Venezuela. Wie sollten diese Ereignisse interpretiert werden?
Die
progressiven Regierungen sehen sich auch betroffen von den niedrigen Preisen
ihrer Exportgüter, die ihnen durch die Weltwirtschaftskrise aufgezwungen
werden. Das schränkt die Sozialausgaben ein und ruft den Unmut der Wähler
hervor. Hoffentlich verleitet die Unzufriedenheit sie nicht dazu, für ihre
neoliberalen Feinde zu stimmen, und sich schließlich Situationen ausgesetzt zu
sehen, wie sie die Argentinier erlebten, als sie beraubt und ihre Bankkonten
eingefroren wurden oder wie die Venezolaner, die 1989 bei einem Aufstand gegen
ein Kürzungspaket des Internationalen Währungsfond massakriert wurden.
Quelle: Cubadebate / Prensa Presidencial