Carta
Maior, 13. Mai 2016: O
golpe usou a toga
Maria Inês Nassif ist eine bekannte brasilianische Kolumnistin, die früher im Wirtschaftsblatt Valor Econômico publiziert hat und heute im Portal Carta Abierta engagiert ist. 2012 wurde sie Beraterin von Lula.In diesem Artikel beleuchtet sie Strukturen einer seit Jahren zum „kalten Putsch“ strebenden Justiz. Und sie geht darauf ein, wie eine „unerklärliche Naivität“ des PT der Reaktion in die Hände spielte.
Maria Inês Nassif ist eine bekannte brasilianische Kolumnistin, die früher im Wirtschaftsblatt Valor Econômico publiziert hat und heute im Portal Carta Abierta engagiert ist. 2012 wurde sie Beraterin von Lula.In diesem Artikel beleuchtet sie Strukturen einer seit Jahren zum „kalten Putsch“ strebenden Justiz. Und sie geht darauf ein, wie eine „unerklärliche Naivität“ des PT der Reaktion in die Hände spielte.
Putschisten unter
Talaren
Maria Inês Nassif
Maria Inês Nassif |
Die Strategie des institutionellen Putschs unter aktiver
Beteiligung des „niederen Klerus“[1] und
der Justiz (dem erstinstanzlichen Richter Sérgio Moro[2]
und dem Obersten Gericht, Sistema de Tribunal Federal oder STF) begann,
propagandistisch begleitet von den traditionellen Medien (wie TV Globo), mit
dem sogenannten Mensalão-Skandal Form anzunehmen. Ein Jahr vor den Wahlen, die
Präsident Luiz Inácio Lula da Silva ein zweites Mandat brachten, wurde das Land
von Enthüllungen erschüttert. Danach habe der PT bei den vergangenen
Gemeindewahlen Geld, das durch doppelte Buchführung von Unternehmen versteckt
worden sei, zur Bezahlung von eigenen Wahlkampfschulden und solchen der
Bündnispartner gebraucht. Der Schatzmeister der Partei, Delúbio Soares, hatte
dafür mit Unternehmern und einer Waschanstalt, der Werbeagentur DNA von Marcos
Valério, zusammengespannt. Bis dahin hatte
DNA für die [Rechtspartei] PSDB in Minas operiert. Delubio legte ein Geständnis
ab.
Preisverleihung des Mediengiganten Globo an Richter Moro (M.), März 2015. Quelle: brasil247.com |
Anlässlich dieser Angelegenheit –doppelte Buchführung zugunsten
einer Regierungspartei und Entgegennahme von Geschenken im Austausch für
Gefälligkeiten – kam es zur grössten institutionellen Offensive gegen eine
politische Partei in der demokratischen Periode des Landes. Die ganze
traditionelle Medienmaschinerie diente dazu, mit Tatsachenüberhöhung oder
Fälschung zu beweisen, dass die Regierung Lula korrupt sei und – Gipfel der
Ironie! – die Alliierten korrumpiere, die Parteien PMDB, PTB, PP und PR, um so für
sich parlamentarische Mehrheiten zu garantieren. Der Begriff mensalão[3]
entsprang einem guten Marketing, um einen Skandal der doppelten Buchführung, in
den alle Parteien involviert waren (die Waschanstalt von Marcos Valério kannte
diesbezüglich keine ideologischen Grenzen), in einen speziellen
PT-Korruptionsmodus zwecks Parlamentarierkauf zu transformieren. Dies, ohne
dass je eine regelmässige Zahlung an verbündete Abgeordnete oder SenatorInnen
bewiesen worden wäre.
Damit das Geld aus der doppelten Buchführung als Korruption
taxiert werden konnte, war der Nachweis erforderlich, dass es aus öffentlichen Safes
stammte. Die Staatsanwaltschaft wurde damals von Antônio Fernando de Souza
geleitet. Er ist heute Rechtsanwalt des verspätet von seinem Amt als Präsident
der Abgeordnetenkammer enthobenen Eduardo Cunha[4].
Er erfand eine fiktive Story über den Präsidenten des Banco do Brasil, Henrique
Pizzalato, und abgezweigten Geldern des Unternehmens Visanet. Das Geld von
Visanet, die zur internationalen Visa-Gruppe gehört, wurde vom höchsten Gericht
des Landes in seinem Urteil zu Unrecht als aus Abzweigungen aus dem staatlichen
Banco do Brasil stammend behandelt. Dieses Gericht durfte sich keinen Fehler
dieses Ausmasses leisten. Pizzalato war nicht Einzelunterschrift-berechtigt.
Der von Souza vorgetragene und von Richter Joaquim Barbosa vom Obersten Gericht
STF akzeptierte „Beweis“ gegen Pizzalato war von drei weiteren Personen unterschrieben
und wurde einem Komitee und danach der Bankleitung vorgelegt – insgesamt mehr als zehn Personen
segneten die Aktion ab. Hätte Pizzalato Geld abgezweigt, hätte er mehr als zehn
Komplizen haben müssen, überdies handelte es sich um privates Geld, nicht um staatliche
Mittel des Banco do Brasil.
Das Oberste Gericht STF richtete medienwirksam am Tag vor
den Wahlen 2014 über den Fall und beging dabei beispielslose juristische
Barbareien. Der vom STF mit der Darstellung des Falls beauftragte Richter
Joaquím Barbosa wandelte die Entnahme von Geldern aus der doppelten Buchführung
in einen Diebstahl von Staatsgeldern um und ordnete für die Beweise, dass die
fraglichen Mittel definitiv nicht aus dem Banco do Brasil stammten, ein anderes
Verfahren an. Schliesslich verhängte er die Geheimhaltung über das Verfahren.
Nicht einmal die Anwälte der Verteidigung hatten Zugang zu den Beweisstücken.
Sie hatten auch keinen Zugang zu den Beweisen über die Herkunft der von Marcos
Valério gewaschenen Gelder, also der von einem an Regierungsentscheiden
interessierten Unternehmer an Bündnisparteien weitergeleiteten Mitteln. (Regierungentscheide,
die nicht zustande kamen, auch dank der Opposition des Ministers José Dirceu,
der ohne Beweise verurteilt worden war.)
Mit einer öffentlichen Meinung, geformt von einer neun Jahre
anhaltenden täglichen Kampagne, legitimierte der STF seinen Entscheid, die
Schlussfolgerungen von Barbosa gutzuheissen, unter Verwendung des seltsamen
Instruments des dominio do fato[5].
Dies lieferte den Vorwand, auf die Strasse zu hören und die von der
Staatsanwaltschaft und der erstinstanzlichen Behörde in den nächsten drei
Jahren der Operation Lava Jato angewandten Monstruositäten zu akzeptieren.
Der STF wandelte ein Buchführungsverbrechen ohne Beweise in
ein Verbrechen der Korruption, der Bandenbildung etc. um. Von den verurteilten
Beschuldigten haben einige Verbrechen begangen, aber nicht die, für die sie
verurteilt worden sind; andere waren komplett unschuldig. Wenige wurden für
effektiv begangene Verbrechen verurteilt. Die Agentur ADN wurde als
Waschanstalt für den PT und mit ihm verbündete Parteien verurteilt, aber spät
für den mensalão des PSDB
verantwortlich gemacht (was alle Involvierten bis zur Verjährung auf freiem
Fuss belässt, während die vom PT dafür ins Gefängnis kamen). Der Abgeordnete
José Genoíno, damals Präsident des PT, wurde für ein real von der Partei
getätigtes und fristgerecht zurückbezahltes Darlehen gefangen. Dirceu wurde zum
nationalen Bösewicht erkoren und ohne Beweis eingekerkert und erneut unter Lava
Jato eingekerkert. Und Pizzalato erleidet nach einer sensationellen Flucht Haft
wegen einer zusammen mit einem zehnköpfigen Komitee autorisierten Werbekampagne
des Banco do Brasil für Visa International.
Unerklärliche
Naivität des PT
Seither sind die Bundesstaatsanwaltschaft und das Oberste
Gericht zentrale Bestandteile der Kampagnen gegen die PT-Regierungen. Diese begannen
2005 und endeten mit dem institutionellen Putsch von 2016. Eduardo Cunha und
Michel Temer würden ohne die Komplizenschaft dieser beiden Institutionen und
die unerklärliche Naivität des PT nicht existieren: Dieselbe Partei, die sich
zu einem bestimmten Zeitpunkt entschloss, mit den Waffen der traditionellen
Politik zu spielen, auf der Suche nach Geld via doppelte Buchführung zwecks
Finanzierung von Wahlkampagnen, begriff die Natur der Elite nicht, die sie
finanzierte. Sie begriff nicht die Unmöglichkeit einer Übereinkunft mit
traditioneller Politik und Institutionen mit konservativer Berufung, die ihr
konservatives und korporatives Profil auch nicht ändern, wenn ihre Mitglieder
mehrheitlich von PT-Regierungen gewählt werden. Der PT begriff nicht, dass er
auf institutioneller Ebene mit ihren Chips spielte, in einer Politik der
Klassenversöhnung in einem Rahmen, in dem die eigene Regierungspolitik die
Basis für einen verschärften Klassenkampf legte. Dieser wurde offensichtlich, als
der Putsch sein Gesicht zu zeigen begann.
Dieser Widerspruch war den PT-Regierungen inhärent. Präsidentin
Dilma Rousseff gewann die Wahlen 2014 im zweiten Durchgang, weil sich die
linken Kräfte zuvor noch hinter sie gestellt hatten. Es war eine Antwort auf
die rechte Welle, die die vom STF während der Gemeindewahlen 2012 durchgeführte
politische Aburteilung des mensalão ausnutzte.
Ihr mediales und juristisches Gefängnisspektakel dauerte bis 2013, als schon
die Kampagne für die Wiederwahl von Präsidentin Dilma in die Gänge kam. Medial
wurde die Kampagne durch den Auftritt des erstinstanzlichen Richters Sérgio
Moro gestärkt, der die 2013 vom STF gewährten Rechtsfreiheiten dafür nutzte, ein
eigenes Politgericht zu veranstalten und den PT einzukreisen. Dafür diente das
Korruptionsschema in Petrobras, das – es reicht, die mit Strafminderung
belohnten Aussagen genau zu lesen – im Unternehmen verwurzelt war und in den
Vorständen, die von den mit den PT-Regierungen ab 2002 verbündeten Parteien
beschützt wurden, beibehalten wurde. Genau wie früher von den Regierungen des
PSDB und des PMDB und der von Collor.
Die „Massaker“ erfolgen schon seit elf Jahren, stets nach
äusserst ähnlichem Muster. Die Staatsanwaltschaft entdeckt irgendeinen Skandal
und beginnt zu ermitteln und Beweisstücke einseitig auszulegen. Ohne Grundlage
für eine Einvernahme würfelt sie in einem Presseorgan los, das von einem
grossen Skandal spricht und dabei unterschlägt, dass keine Beweise existieren.
Das auf eigenen Leaks basierende Medienmaterial nimmt die
Bundesstaatsanwaltschaft zum Anlass , beim Richter – bei Moro, beim STF oder
sonst wem – ein formelles Ermittlungsverfahren zu beantragen. Bei Moro folgt
dann Gefängnis ohne gesetzliche Grundlage und Zwang zur belohnten Aussage gegen
andere. Youtube ist voll von Aufzeichnungen
von Moro-Verhören, in denen er klar macht, dass der Angeklagte – meist ein
betagter Mensch mit Gesundheitsproblemen – freikommt, sobald er andere belastet. In einem politischen Lager gibt es für Moro keine
Unschuldigen. Im anderen lässt er Milde
walten.
Nichts rechtfertigt, dass ein Richter eines
Ausnahmetribunals in einer Demokratie mit grossen Vollmachten überlebt, über
jene hinaus, die ihm die Verfassung gewährt. Moro existiert und macht, was er
will, weil die Justiz parteiisch ist. Moro würde ohne einen ihm voraus
gegangenen Barbosa nicht existieren. Moro würde ohne einen Richter Gilmar
Mendes nicht existieren, der ungestraft das Oberste Bundesgericht (STF) und das
Oberste Wahlgericht (TSE) zu Tribünen gegen die PT-Regierungen machte. Er würde
ohne einen Richter Dias Toffoli nicht existieren, der zum Laufburschen von
Mendes wurde; ohne die Lauheit der beiden Frauen im Obersten Gericht; ohne die
konservative ideologische Ausrichtung von Teori Zavascki (die sein eigenes
juristisches Unterscheidungsvermögen kontaminiert); ohne die falsche
juristische Objektivität eines Celso Melo; ohne die Schlaffheit eines Edson
Fachin; ohne die exzessive Ängstlichkeit eines Ricardo Lewandowski. Die Justiz
verhinderte den Putsch nicht, weil sie Teil von ihm ist. Die Staatsanwaltschaft
reagiert nicht auf den Putsch, weil sei zu seinen Verschwörern gehört.
Richter Gilmar Mendes und Putschpräsident Michel Temer. Quelle: Carta Maior. |
[1]
Bezeichnung für einen grossen, primär am persönlichen Eigennutz orientierten
Haufen ParlamentarierInnen.
[2]
Zu Moro s. Brasilien:
Vorwärts in die Weimarer Republik?
[3]
Der Begriff suggeriert monatliche Zahlungen.
[4]
Eine treibende Kraft im Putsch gegen Dilma Rousseff.
[5]
„Tatherrschaft“: Untergeordnete werden von hierarchisch höher Gestellten zur
Deliktbegehung gezwungen