Brasilien: … und das ist erst der Anfang

Freitag, 20. Mai 2016



Sozialprogramme
„Temer kritisierte Lulas eingeengten Blick und seinen exzessiven Fokus auf Sozialnetzprogramme, die Wachstum und wirtschaftliche Entwicklung nicht fördern“.
aus US-Botschaft Brasilien, 11. Januar 2006, in Wikileaks: PMDB leader ponders party’s electoral options.
Temer hatte seine Freunde aus dem Norden gerade über seine danach enttäuschte Hoffnung aufgeklärt, bei den nächsten Wahlen aus der Allianz mit dem PT auszusteigen. Er musste sich noch etwas gedulden. Die US-Offiziellen kommentierten ihre Auskunftsquelle so: „with friends like these…“

Lebensrecht für alle? Funktioniert nicht.
In einem am 17. Mai 2016 in der Folha de S. Paulo veröffentlichten Interview sagt der [neue] Gesundheitsminister, dass der Staat aus finanziellen Gründen, auch wegen Missbrauch, den allgemeinen Zugang zum öffentlichen Gesundheitssystem nicht mehr garantieren könne. Der Folha fiel etwas auf:
„Was tun? Die Verfassung ändern, die Gesundheit als universelles Recht festlegt?“
Antwort:
„Was sagte Sarney [Staatspräsident 1985-90], als er die Verfassung verkündete? Dass Brasilien unregierbar würde. Warum? Weil es da nur Rechte gibt, keine Pflichten. Es wird uns nicht gelingen, die Rechte zu garantieren, die die Verfassung vorschreibt. In einem bestimmten Moment werden wir sie neu verhandeln müssen, wie in Griechenland, wo die Renten gekürzt wurden, oder in anderen Ländern, wo die Verpflichtungen des Staates neu ausgehandelt werden mussten, weil er sie nicht mehr garantieren konnte. Es bringt nichts, für Rechte zu kämpfen, die der Staat dann nicht erfüllen kann.“
Der ehemalige Bundesabgeordnete, dessen Wahlkampagne eine Privatversicherung finanziert hatte, sieht eine Lösung:
„Je mehr Leute privat versichert sind, desto besser. Denn so können sie die Pflege beanspruchen, für die sie selber aufkommen, was die entsprechenden Regierungsausgaben reduziert.“
Barros, reich, weiss und wie andere Kabinettsmitglieder in Korruptionsuntrsuchungen verwickelt


Warum auch wohnen?
„Die städtische Bewegung MSTS (Movimento dos sem teto) kritisiert die Interimregierung Temer, weil sie den Bau von 11‘250 Sozialwohnungen wegen der Wirtschaftskrise suspendiert hat. Das MSTS kündigte Strassenblockaden im ganzen Land an. Der neue Stadtentwicklungsminister Bruno Araújo informierte gestern, dass er den von Staatsbanken finanzierten Bau 11‘250 Wohneinheiten nicht bewilligen werde. Er erklärte, eine „Überprüfung“ und Neudefinition der „Prioritäten“ sei nötig, um das Sozialprogramm Minha Casa Minha Vida (Mein Haus, Mein Leben) an die Brasilien drückende Wirtschaftsnot anzupassen.
aus Resumen Latinoamericano, 18. Mai 2016: El recorte de Temer sigue por las viviendas
Temer, mal sachte!
 ___________________________________________________________

Justiz I
Am 12. Mai 2016 wurde die gewählte Präsidentin Dilma Rousseff ihres Amtes enthoben. Am Vortag hatte das Oberste Bundesgericht (STF) verfügt, gegen ihren im Oktober 2014 unterlegenen Widersacher Aécio Neves von der Rechtspartei PSDB eine Untersuchung wegen Korruption im Zusammenhang mit dem Petrobras-Skandal einzuleiten. Die Anschuldigung stützt sich auf Aussagen des geständigen Kronzeugen und ehemaligen PT-Senators Delcidio do Amaral. Seine Aussagen dienen seit Monaten dem Versuch der Justiz, Rousseff und Lula Korruption vorzuwerfen. Gilmar Mendes ist Richter am STF und seit letztem 12. Mai zudem Präsident des Obersten Wahlgerichts. Er leitet im STF den Versuch, Lula eine Wahlkandidatur 2018 zu verunmöglichen und ihn womöglich ins Gefängnis zu bringen. Ebenfalls am 12. Mai „suspendierte“, wie das Putschorgan Globo schrieb, Mendes die Beweissammlung gegen Neves, da „Aécio Neves neue Dokumente vorgelegt hat und Gilmar Mendes der Ansicht ist, diese Dokumente können beweisen, dass der Antrag [der Staatsanwaltschaft] für eine Verfahrenseröffnung ohne neue Beweise erfolgt ist.“

Zwei alte Kumpels: Mendes und Neves bei einem Anlass 2009. Quelle: estadão.com
Justiz II
„Vor genau zehn Jahren, zwischen dem 12. und dem 20. Mai 2006, wurden nach einer Erhebung der Harvard-Universität mindestens 564 Personen im Staat São Paulo umgebracht, die Mehrheit in Situationen, die eine Beteiligung der Polizei dabei nahe legen. Die Mehrheit der Fälle, betonen Ermittler, gehören zu einer Racheaktion von Agenten der Sicherheitskräfte gegen angebliche Angriffe der Gruppe Primeiro Comando da Capital (PCC), die sich in den ersten beiden Tagen der Periode ereigneten. Das Gemetzel jenes Jahrs ist als Mai-Verbrechen bekannt, dem grössten im 21. Jahrhundert. Zehn Jahre später ist ein Beamter der Sicherheitskräfte für die Todesfälle verurteilt worden. Er hat rekurriert, ist frei und ist weiter bei der Militärpolizei im Einsatz[Sicherheitspolizei unter dem Kommando der jeweiligen StaatsgouverneurInnen].“
aus Brasil de Fato, 13. Mai 2016, Gisele Brito: Mães de Maio: a reação contra a violência do Estado
___________________________________________________________

Regierungsprogramm einer Diebesbande
aus rebelion.org, 11. Mai 2016, Juan Luis Berterretche: El programa de gobierno de la banda de ladrones.

„Sie stahl nichts, wird aber von einer Diebesbande abgeurteilt.“ New York Times, 15. April 2016
„Seit Beginn der zweiten Präsidentschaft von Dilma Rousseff mit dem 2014 gewählten Kongress – gewählt auf der Basis  eines Gesetztes, das die Unternehmensfinanzierung von Wahlkampagnen erlaubt – ging die Macht an eine Legislative über, die von ParlamentarierInnen, die ihre Stimme verkaufen, in Geiselhaft genommen wurde. Es handelt sich dabei um eine erdrückende Mehrheit in beiden Kongresskammern. Was die Times eines Diebesbande nannte, dominiert sowohl in der Abgeordnetenkammer wie im Senat.“
„Die Stimmen für den Putsch kamen von der Mehrheit der im Kongress vertretenen 28 Parteien, von denen keine fünf etwas aufweisen, das mit Nachsicht als „programmatisch“ bezeichnet werden könnte. Die verschiedenen Parteien, auf die sich die Evangelikalen aufteilen, finanzieren sich mit Offshore- Geldwaschgeschäften, durchgeführt von Multimillionen-schweren „Pastoren“ mit einem Glauben, der sich zur mittelalterlichen Intoleranz bekennt. Mehrere Dutzende Korrupte widmeten am „parlamentarischen“ Schmierenstück vom 17. April [in der Kammer] ihre Pro-Impeachment-Stimmabgaben Gott.“
„Der PMDB von Michel Temer ist eine Einheitsfront von einzelstaatlichen Oligarchien ohne irgendein programmatisches Ansinnen, das über die Verteidigung der in den Einzelstaaten und Regionen über die Jahre errungenen politischen und wirtschaftlichen Privilegien hinausginge. So dass eine neue Regierung Temer Geisel und Teil der Diebesbande sein wird, wo nicht existierende Programme oder Parteidisziplin niemanden kümmern. So dass alle parlamentarischen Abstimmungen wie bisher gekauft werden müssen, mit Geld, Posten und Pfründen.“
„Die nächste Regierung wird schlicht und einfach die Diktatur einer Diebesbande sein.“
- - -
„In einer Nation, wo es jetzt schon zu Staatsterrorismus gegen Favela-BewohnerInnen kommt, speziell gegen junge Schwarze und Pardos [Begriff für Dunkelhäutige verschiedener ethnischer Herkunft], die im neuen Jahrhundert zu Hunderttausenden ermordet worden sind; in einer Gesellschaft mit einem strukturellen Rassismus gegen mehr als die Hälfte der Bevölkerung; in einem Brasilien, in dem Folter in den überfüllten Gefängnissen und in den Polizeistationen nicht die Ausnahme, sondern die Regel ist; in ausgedehnten ruralen Gegenden, in denen die Justiz den Pistoleros der Grossgrundbesitzer, der Agroindustrie, der Waldabholzer, der Wasserstromwerke  und der Minenunternehmer Straffreiheit garantiert, wäre es ein schwerer Fehler, etwas auf einen demokratischen Dialog zu geben.“

- - -
„Der kommende Präsident Michel Temer war drei Mal Sicherheitsminister in São Paulo gewesen, dem repressiven Zentrum der Diktatur. Er nahm dieses Amt war, um in der Transitionsperiode von der Diktatur zur Demokratie die Verbrechen und die Folter der zivilen und militärischen Polizei zu vertuschen. Als Dank dafür wurde er zwei Mal zum Abgeordneten der Kugelfraktion gewählt [unter bancada da bala werden die militaristischen und killfreudigen ParlamentarierInnen zusammengefasst] (…. ). Erinnern wir uns, um seinen Werdegang zu vervollständigen, dass er Zeuge der Verteidigung des Folteroberst Mörders der Militärdiktatur war: des Obersts Brilhante Ustra. Dem der jetzige Chef der Kugelfraktion, Jair Bolsonaro, seine Stimmabgabe für das Impeachment gewidmet hat.“
„Die enormen Mobilisierungen gegen die PT-Regierung rissen die Mehrheit der brasilianischen Mittelschicht und einen wichtigen Sektor von Arbeitern und Volkssektoren mit, die  von der Sparpolitik Rousseffs betroffen waren. Eine zu den Versprechen des PT in der Wahlkampagne von 2014 konträre Politik, die die Wirtschaft in eine Rezession stürzte, die als die schlimmste der letzten 116 Jahre gelten kann. Mit einem BIP-Rückgang von 3.8 % im letzten und von 3.5 % in diesem Jahr, wie die internationalen Organisationen projizieren. Mehr als 10 Millionen waren im Januar 2016 arbeitslos, ohne die Unterbeschäftigtem, Prekarisierten und nicht mehr Arbeitssuchenden miteinzuberechnen.“
„Die Priorisierung des Privatsektors als Motor der Wirtschaft und die radikale Reduktion des Gewichts des staatlichen Sektors  [unter Mendes] zielen vorallem auf die Zerstörung von Petrobras und die Privatisierung des Ölsektors in die Hände der imperialistischen Unternehmen, die den Pré-sal  [riesige Ölvorkommen in Küstennähe] privatisieren wollen. Diese Orientierung haben die PT-Regierungen mit dem Akzeptieren der Korruption in Petrobras zwecks Finanzierung von Wahlkampagnen oder Offshore-Konten übernommen. Mit dem Putsch soll die Privatisierung jetzt eine neue Dimension erhalten. Das geht viel weiter. Ihr Motto lässt sich in zwei Worten zusammenfassen: „Alles privatisieren“, wie dies José Olympio Pereira, Präsident von Credit Suisse Brasil, kürzlich in seiner Rede an der Brazil Conference in Boston ohne Umschweife gesagt hatte[1].“
- - -
 [Realen Widerstand sieht der Autor einzig in der Welle von SchülerInnen- und LehrerInnenkämpfen gegen die Privatisierung des Erziehungssystems, die in den letzten Monaten in mehreren Einzelstaaten, vor allem aber in São Paulo, zu grossen Mobilisierungen, Besetzungen und Auseinandersetzung mit den Repressionskräften geführt haben. Zwar ordnet er Kräfte wie die Landlosenbewegung MST und die Stadtbewegung MSTS explizit als künftige Repressionsopfer ein, mehr aber nicht. In der Jugendbewegung, für die er aber Siegeschancen nur in langer Frist sieht, fällt ihm positiv das Agieren von trotzkistischen und anarchistischen Kräften auf. Der Autor gehört ins Lager jener, die im PT und nahestehenden Kräften bloss moderatere Formen der bourgeoisen Herrschaft mit der objektiven Funktion, radikaleren Kräften der Reaktion das Terrain zu bereiten, sehen.]
___________________________________________________________

Transozeanisches
„Die von Michel Temer angekündigten sozioökonomischen Massnahmen sind die gleichen, wie sie hier [Argentinien] Macri durchsetzt, dessen Finanzminister Alfonso de Prat-Gay den Regierungsverlust des PT in Brasilien feierte, denn so werde es möglich, den Mercosur dem Abkommen mit der EU und den Beitritt beider Länder zu der von den USA gepuschten Pazifischen Allianz zu vollziehen.“
„(… )  Vor 30 Jahren nahm Uruguay ein Gesetz über die Hinfälligkeit der Strafverfolgung des Staates am gleichen Tag an, als der argentinische Kongress das Gesetz des Punto Final (Schlussstrich) verabschiedete. Die Entschlossenheit der USA, die Strafverfolgung der Armeeverantwortlichen für die Verbrechen unter den beiden Diktaturen zu beenden, ist so gut dokumentiert wie die Intervention des damaligen [argentinischen] Präsidenten Raúl Alfonsín bei seinem uruguayischen Kollegen Julio María Sanguinetti und dem Sohn des Oppositionsführers Wilson Ferreyra Alduante. Diesem übermittelte Alfonsín eine Message der US-Botschaft bezüglich Putschwahrscheinlichkeit von 50 % für den Fall, dass die Prozesse nicht gestoppt würden.“
aus Página/12,  15. Mai 2016, Horacio Verbitsky: Usos de la corrupción
___________________________________________________________

 
Die Expertin made in USA
„[2013] schickte Barack Obama Liliana Ayalde als Botschafterin nach Brasilien. Sie ist Expertin für „weisse Putsche“, denn vor ihrem Antritt in Brasilien (wo sie weiter amtet), war sie bestimmt aus reinem Zufall Botschafterin in Paraguay, am Vorabend des „institutionellen“ Sturzes von Fernando Lugo.“
Atilio Borón, 12. Mai 2016: Asalto al poder
 
Kennt sich aus in weissen Putschen.

Das Vertrauen made in USA
„Natürlich verfolgen wir die Ereignisse dort. Diese Frage nach der Regierung und ihrer Zusammensetzung ist eine interne Angelegenheit, über welche das brasilianische Volk und die brasilianischen Behörden entscheiden. Wir sind zuversichtlich, dass sich Brasilien auf demokratische Weise den Herausforderungen stellen wird“.
Pressesprecher John Kirby an der täglichen Pressekonferenz des State Departments vom 13. Mai 2016.

Democracy (made in USA) - was sonst?
„US-Offizielle verteidigten zum ersten Mal die Legalität des Impeachment-Prozesses gegen Dilma Rousseff. In einer Debatte in der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) diesen Mittwoch sagte [US-Botschafter] Michael Fitzpatrick: ‚Ich glaube nicht an einen „weissen“ oder wie immer gearteten Putsch. Was in Brasilien geschah, erfolgte im Rahmen eines verfassungskonformen Prozesses unter völliger Respektierung der Demokratie.‘“
[Viel mehr war während der Monate des sich entwickelnden weissen Putsches aus Washington nicht zu hören. Diese „Kraft des Schweigens“ bezeugt diskrete Täterschaft, die jetzt sofort uzm business as usual übergeht.]


[1] Die Brazil Conference wurde letzten April von der Harvard-Universität und dem MIT organisiert. Zu Pereiras Vortrag, s. Brasil precisa de maciço programa de concessões, diz presidente do Credit Suisse.