Sozialprogramme
„Temer kritisierte Lulas eingeengten Blick und seinen
exzessiven Fokus auf Sozialnetzprogramme, die Wachstum und wirtschaftliche
Entwicklung nicht fördern“.
aus US-Botschaft Brasilien, 11. Januar 2006, in Wikileaks: PMDB
leader ponders party’s electoral options.
Temer hatte seine Freunde aus dem Norden gerade über seine
danach enttäuschte Hoffnung aufgeklärt, bei den nächsten Wahlen aus der Allianz
mit dem PT auszusteigen. Er musste sich noch etwas gedulden. Die US-Offiziellen
kommentierten ihre Auskunftsquelle so: „with friends like these…“
Lebensrecht für alle?
Funktioniert nicht.
In einem am
17. Mai 2016 in der Folha de S. Paulo veröffentlichten Interview
sagt der [neue] Gesundheitsminister, dass der Staat aus finanziellen Gründen,
auch wegen Missbrauch, den allgemeinen Zugang zum öffentlichen
Gesundheitssystem nicht mehr garantieren könne. Der Folha fiel etwas auf:
„Was tun?
Die Verfassung ändern, die Gesundheit als universelles Recht festlegt?“
Antwort:
„Was
sagte Sarney [Staatspräsident 1985-90], als er die Verfassung verkündete? Dass
Brasilien unregierbar würde. Warum? Weil es da nur Rechte gibt, keine
Pflichten. Es wird uns nicht gelingen, die Rechte zu garantieren, die die
Verfassung vorschreibt. In einem bestimmten Moment werden wir sie neu
verhandeln müssen, wie in Griechenland, wo die Renten gekürzt wurden, oder in
anderen Ländern, wo die Verpflichtungen des Staates neu ausgehandelt werden
mussten, weil er sie nicht mehr garantieren konnte. Es bringt nichts, für
Rechte zu kämpfen, die der Staat dann nicht erfüllen kann.“
Der
ehemalige Bundesabgeordnete, dessen Wahlkampagne eine Privatversicherung
finanziert hatte, sieht eine Lösung:
„Je mehr
Leute privat versichert sind, desto besser. Denn so können sie die Pflege
beanspruchen, für die sie selber aufkommen, was die entsprechenden
Regierungsausgaben reduziert.“
Barros, reich, weiss und wie andere Kabinettsmitglieder in Korruptionsuntrsuchungen verwickelt |
aus Folha de S. Paulo, 17. Mai 2016 : Tamanho
do SUS precisa ser revisto, diz novo ministro da Saúde
Warum auch wohnen?
„Die städtische
Bewegung MSTS (Movimento dos sem teto) kritisiert die Interimregierung Temer,
weil sie den Bau von 11‘250 Sozialwohnungen wegen der Wirtschaftskrise
suspendiert hat. Das MSTS kündigte Strassenblockaden im ganzen Land an. Der
neue Stadtentwicklungsminister Bruno Araújo informierte gestern, dass er den
von Staatsbanken finanzierten Bau 11‘250 Wohneinheiten nicht bewilligen werde.
Er erklärte, eine „Überprüfung“ und Neudefinition der „Prioritäten“ sei nötig,
um das Sozialprogramm Minha Casa Minha
Vida (Mein Haus, Mein Leben) an die Brasilien drückende Wirtschaftsnot
anzupassen.
aus Resumen Latinoamericano, 18. Mai 2016: El
recorte de Temer sigue por las viviendas
Temer, mal sachte! |
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Justiz I
Am 12. Mai 2016 wurde die gewählte Präsidentin Dilma
Rousseff ihres Amtes enthoben. Am Vortag hatte das Oberste Bundesgericht (STF) verfügt,
gegen ihren im Oktober 2014 unterlegenen Widersacher Aécio Neves von der
Rechtspartei PSDB eine Untersuchung wegen Korruption im Zusammenhang mit dem
Petrobras-Skandal einzuleiten. Die Anschuldigung stützt sich auf Aussagen des
geständigen Kronzeugen und ehemaligen PT-Senators Delcidio do Amaral. Seine
Aussagen dienen seit Monaten dem Versuch der Justiz, Rousseff und Lula
Korruption vorzuwerfen. Gilmar Mendes ist Richter am STF und seit letztem 12.
Mai zudem Präsident des Obersten Wahlgerichts. Er leitet im STF den Versuch,
Lula eine Wahlkandidatur 2018 zu verunmöglichen und ihn womöglich ins Gefängnis
zu bringen. Ebenfalls am 12. Mai „suspendierte“,
wie das Putschorgan Globo schrieb,
Mendes die Beweissammlung gegen Neves, da „Aécio
Neves neue Dokumente vorgelegt hat und Gilmar Mendes der Ansicht ist, diese
Dokumente können beweisen, dass der Antrag [der Staatsanwaltschaft] für eine
Verfahrenseröffnung ohne neue Beweise erfolgt ist.“
Zwei alte Kumpels: Mendes und Neves bei einem Anlass 2009. Quelle: estadão.com |
Justiz II
„Vor genau zehn Jahren, zwischen dem 12. und dem 20. Mai
2006, wurden nach einer Erhebung der Harvard-Universität mindestens 564
Personen im Staat São Paulo umgebracht, die Mehrheit in Situationen, die eine
Beteiligung der Polizei dabei nahe legen. Die Mehrheit der Fälle, betonen
Ermittler, gehören zu einer Racheaktion von Agenten der Sicherheitskräfte gegen
angebliche Angriffe der Gruppe Primeiro Comando da Capital (PCC), die sich in
den ersten beiden Tagen der Periode ereigneten. Das Gemetzel jenes Jahrs ist
als Mai-Verbrechen bekannt, dem grössten im 21. Jahrhundert. Zehn Jahre später
ist ein Beamter der Sicherheitskräfte für die Todesfälle verurteilt worden. Er
hat rekurriert, ist frei und ist weiter bei der Militärpolizei im Einsatz[Sicherheitspolizei
unter dem Kommando der jeweiligen StaatsgouverneurInnen].“
aus Brasil
de Fato, 13. Mai 2016, Gisele Brito: Mães
de Maio: a reação contra a violência do Estado
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Regierungsprogramm
einer Diebesbande
aus rebelion.org,
11. Mai 2016, Juan Luis Berterretche: El programa de gobierno de
la banda de ladrones.
„Sie stahl nichts, wird aber von einer Diebesbande
abgeurteilt.“ New York Times, 15. April 2016
„Seit Beginn der zweiten Präsidentschaft von Dilma Rousseff
mit dem 2014 gewählten Kongress – gewählt auf der Basis eines Gesetztes, das die
Unternehmensfinanzierung von Wahlkampagnen erlaubt – ging die Macht an eine
Legislative über, die von ParlamentarierInnen, die ihre Stimme verkaufen, in Geiselhaft
genommen wurde. Es handelt sich dabei um eine erdrückende Mehrheit in beiden
Kongresskammern. Was die Times eines Diebesbande nannte, dominiert sowohl in
der Abgeordnetenkammer wie im Senat.“
„Die Stimmen für den Putsch kamen von der Mehrheit der im
Kongress vertretenen 28 Parteien, von denen keine fünf etwas aufweisen, das mit
Nachsicht als „programmatisch“ bezeichnet werden könnte. Die verschiedenen
Parteien, auf die sich die Evangelikalen aufteilen, finanzieren sich mit
Offshore- Geldwaschgeschäften, durchgeführt von Multimillionen-schweren
„Pastoren“ mit einem Glauben, der sich zur mittelalterlichen Intoleranz bekennt.
Mehrere Dutzende Korrupte widmeten am „parlamentarischen“ Schmierenstück vom
17. April [in der Kammer] ihre Pro-Impeachment-Stimmabgaben Gott.“
„Der PMDB von Michel Temer ist eine Einheitsfront von
einzelstaatlichen Oligarchien ohne irgendein programmatisches Ansinnen, das
über die Verteidigung der in den Einzelstaaten und Regionen über die Jahre
errungenen politischen und wirtschaftlichen Privilegien hinausginge. So dass
eine neue Regierung Temer Geisel und Teil der Diebesbande sein wird, wo nicht
existierende Programme oder Parteidisziplin niemanden kümmern. So dass alle
parlamentarischen Abstimmungen wie bisher gekauft werden müssen, mit Geld,
Posten und Pfründen.“
„Die nächste Regierung wird schlicht und einfach die
Diktatur einer Diebesbande sein.“
- - -
„In einer Nation, wo es jetzt schon zu Staatsterrorismus
gegen Favela-BewohnerInnen kommt, speziell gegen junge Schwarze und Pardos
[Begriff für Dunkelhäutige verschiedener ethnischer Herkunft], die im neuen
Jahrhundert zu Hunderttausenden ermordet worden sind; in einer Gesellschaft mit
einem strukturellen Rassismus gegen mehr als die Hälfte der Bevölkerung; in
einem Brasilien, in dem Folter in den überfüllten Gefängnissen und in den
Polizeistationen nicht die Ausnahme, sondern die Regel ist; in ausgedehnten
ruralen Gegenden, in denen die Justiz den Pistoleros der Grossgrundbesitzer,
der Agroindustrie, der Waldabholzer, der Wasserstromwerke und der Minenunternehmer Straffreiheit
garantiert, wäre es ein schwerer Fehler, etwas auf einen demokratischen Dialog
zu geben.“
- - -
„Der kommende Präsident Michel Temer war drei Mal
Sicherheitsminister in São Paulo gewesen, dem repressiven Zentrum der Diktatur.
Er nahm dieses Amt war, um in der Transitionsperiode von der Diktatur zur
Demokratie die Verbrechen und die Folter der zivilen und militärischen Polizei
zu vertuschen. Als Dank dafür wurde er zwei Mal zum Abgeordneten der Kugelfraktion
gewählt [unter bancada da bala werden
die militaristischen und killfreudigen ParlamentarierInnen zusammengefasst] (….
). Erinnern wir uns, um seinen Werdegang zu vervollständigen, dass er Zeuge der
Verteidigung des Folteroberst Mörders der Militärdiktatur war: des Obersts
Brilhante Ustra. Dem der jetzige Chef der Kugelfraktion, Jair Bolsonaro, seine
Stimmabgabe für das Impeachment gewidmet hat.“
„Die enormen Mobilisierungen gegen die PT-Regierung rissen
die Mehrheit der brasilianischen Mittelschicht und einen wichtigen Sektor von
Arbeitern und Volkssektoren mit, die von
der Sparpolitik Rousseffs betroffen waren. Eine zu den Versprechen des PT in
der Wahlkampagne von 2014 konträre Politik, die die Wirtschaft in eine
Rezession stürzte, die als die schlimmste der letzten 116 Jahre gelten kann.
Mit einem BIP-Rückgang von 3.8 % im letzten und von 3.5 % in diesem Jahr, wie
die internationalen Organisationen projizieren. Mehr als 10 Millionen waren im
Januar 2016 arbeitslos, ohne die Unterbeschäftigtem, Prekarisierten und nicht
mehr Arbeitssuchenden miteinzuberechnen.“
„Die Priorisierung des Privatsektors als Motor der
Wirtschaft und die radikale Reduktion des Gewichts des staatlichen Sektors [unter Mendes] zielen vorallem auf die
Zerstörung von Petrobras und die Privatisierung des Ölsektors in die Hände der
imperialistischen Unternehmen, die den Pré-sal [riesige Ölvorkommen in Küstennähe]
privatisieren wollen. Diese Orientierung haben die PT-Regierungen mit dem
Akzeptieren der Korruption in Petrobras zwecks Finanzierung von Wahlkampagnen
oder Offshore-Konten übernommen. Mit dem Putsch soll die Privatisierung jetzt
eine neue Dimension erhalten. Das geht viel weiter. Ihr Motto lässt sich in zwei
Worten zusammenfassen: „Alles privatisieren“, wie dies José Olympio Pereira,
Präsident von Credit Suisse Brasil, kürzlich in seiner Rede an der Brazil
Conference in Boston ohne Umschweife gesagt hatte[1].“
- - -
[Realen Widerstand
sieht der Autor einzig in der Welle von SchülerInnen- und LehrerInnenkämpfen
gegen die Privatisierung des Erziehungssystems, die in den letzten Monaten in
mehreren Einzelstaaten, vor allem aber in São Paulo, zu grossen
Mobilisierungen, Besetzungen und Auseinandersetzung mit den Repressionskräften
geführt haben. Zwar ordnet er Kräfte wie die Landlosenbewegung MST und die
Stadtbewegung MSTS explizit als künftige Repressionsopfer ein, mehr aber nicht.
In der Jugendbewegung, für die er aber Siegeschancen nur in langer Frist sieht,
fällt ihm positiv das Agieren von trotzkistischen und anarchistischen Kräften
auf. Der Autor gehört ins Lager jener, die im PT und nahestehenden Kräften
bloss moderatere Formen der bourgeoisen Herrschaft mit der objektiven Funktion,
radikaleren Kräften der Reaktion das Terrain zu bereiten, sehen.]
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Transozeanisches
„Die von Michel Temer angekündigten sozioökonomischen
Massnahmen sind die gleichen, wie sie hier [Argentinien] Macri durchsetzt,
dessen Finanzminister Alfonso de Prat-Gay den Regierungsverlust des PT in
Brasilien feierte, denn so werde es möglich, den Mercosur dem Abkommen mit der
EU und den Beitritt beider Länder zu der von den USA gepuschten Pazifischen
Allianz zu vollziehen.“
„(… ) Vor 30 Jahren
nahm Uruguay ein Gesetz über die Hinfälligkeit der Strafverfolgung des Staates
am gleichen Tag an, als der argentinische Kongress das Gesetz des Punto Final (Schlussstrich)
verabschiedete. Die Entschlossenheit der USA, die Strafverfolgung der Armeeverantwortlichen
für die Verbrechen unter den beiden Diktaturen zu beenden, ist so gut
dokumentiert wie die Intervention des damaligen [argentinischen] Präsidenten
Raúl Alfonsín bei seinem uruguayischen Kollegen Julio María Sanguinetti und dem
Sohn des Oppositionsführers Wilson Ferreyra Alduante. Diesem übermittelte
Alfonsín eine Message der US-Botschaft bezüglich Putschwahrscheinlichkeit von
50 % für den Fall, dass die Prozesse nicht gestoppt würden.“
aus
Página/12, 15. Mai 2016, Horacio
Verbitsky: Usos
de la corrupción
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Die Expertin made in USA
„[2013] schickte Barack Obama Liliana Ayalde als
Botschafterin nach Brasilien. Sie ist Expertin für „weisse Putsche“, denn vor
ihrem Antritt in Brasilien (wo sie weiter amtet), war sie bestimmt aus reinem
Zufall Botschafterin in Paraguay, am Vorabend des „institutionellen“ Sturzes
von Fernando Lugo.“
Atilio
Borón, 12. Mai 2016: Asalto
al poder
Das Vertrauen made in USA
„Natürlich verfolgen wir die Ereignisse dort. Diese Frage
nach der Regierung und ihrer Zusammensetzung ist eine interne Angelegenheit,
über welche das brasilianische Volk und die brasilianischen Behörden
entscheiden. Wir sind zuversichtlich, dass sich Brasilien auf demokratische
Weise den Herausforderungen stellen wird“.
Pressesprecher John Kirby an der täglichen Pressekonferenz
des State Departments vom 13. Mai 2016.
Democracy (made in USA) - was
sonst?
„US-Offizielle verteidigten zum ersten Mal die Legalität des
Impeachment-Prozesses gegen Dilma Rousseff. In einer Debatte in der
Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) diesen Mittwoch sagte
[US-Botschafter] Michael Fitzpatrick: ‚Ich glaube nicht an einen „weissen“ oder
wie immer gearteten Putsch. Was in Brasilien geschah, erfolgte im Rahmen eines
verfassungskonformen Prozesses unter völliger Respektierung der Demokratie.‘“
aus O
Globo, 18. Mai 2016: Na
OEA, EUA e Argentina rejeitam tese de que impeachment é golpe
[Viel mehr war während der Monate des sich entwickelnden
weissen Putsches aus Washington nicht zu hören. Diese „Kraft des Schweigens“ bezeugt
diskrete Täterschaft, die jetzt sofort uzm business as usual übergeht.]
[1]
Die Brazil Conference wurde
letzten April von der Harvard-Universität und dem MIT organisiert. Zu Pereiras Vortrag, s. Brasil
precisa de maciço programa de concessões, diz presidente do Credit Suisse.