https://amerika21.de/2023/01/262461/paramilitaers-im-norden-von-kolumbien
Barrancabermeja. Gemeinden der nördlichen Region "Los dos ríos" (Die zwei Flüsse) prangern eine "äußerst alarmierende Situation" an. Grund ist der Aufmarsch der paramilitärischen Gruppe Gaitán-Selbstverteidigungsgruppen (Autodefensas Gaitanistas de Colombia, AGC).
Um die Regierung von Gustavo Petro auf das Problem aufmerksam zu machen, blockierten lokale Basisorganisationen vier Tage lang einen Abschnitt der Landstraße Ruta del Sol. Sie verlangen unter anderem die Ausrufung eines "humanitären Notstands" in der Region.
Am vierten Tag der Blockade traf sich die stellvertretende Innenministerin Lilia Solano mit ihnen und akzeptierte die Forderung. Vertreter:innen der Regierung und der Gemeinden treffen sich nun am 13. Februar wieder, um einen Interventionsplan zu entwickeln.
"Die Regierung gibt zu, dass es in den ländlichen Gebieten Kolumbiens eine humanitäre Krise gibt", sagte Solano vor Ort. Diese sei eine Folge des Wiederauflebens des Paramilitarismus, der jahrzehntelang soziale Bewegungen zerschlagen habe.
Nun ist nach Angaben von Sozialaktiven aus dem Süden des Departamento Bolívar eine erneute Mobilisierung festzustellen: "Tag für Tag beobachten wir einen paramilitärischen Aufmarsch. Wir sprechen von 100 bis 150 Mann", sagt der Aktivist Gerardo Amador. Diese Mobilisierung finde in Komplizenschaft mit den Sicherheitskräften statt: "Wir müssen es klar benennen: der Armee", betont Amador.
Die Paramilitärs seien sogar bis in die Kleinstädte der Region "Los dos Ríos" vorgedrungen, klagt Pilar Lizcano, Sprecherin der Organisation "Ciudad en movimiento" (Stadt in Bewegung). Vor wenigen Tagen hätten sie Flugblätter in den Armenvierteln verteilt und Graffiti neben Schulen, Kirchen und Rathäusern hinterlassen.
Im Nordosten des Departamento Antioquia habe die lokale Bevölkerung gesehen, wie die Armee vermummte Personen in das Gebiet brachte, berichtet der Aktivist Marlon Galeano.
In manche Zonen kommen die Paramilitärs mit einem "Hilfsdiskurs", erzählt Leidy Gil, Sprecherin der Dachorganisation der sozialen Bewegung von "Los dos ríos". Sie bieten den Bewohner:innen Unterstützung an und bedrohen gleichzeitig diejenigen, die sich gegen ihre "Hilfe" wehren. Sie mischen sich unter die Bevölkerung "als Verkäufer oder im kommerziellen Personentransport", um Sozialaktive zu identifizieren und auszuspionieren.
Gleichzeitig reißen die Morddrohungen, die Zwangsvertreibungen und die Morde an Mitgliedern der sozialen Bewegungen nicht ab. Auch das Absperren von Ortschaften durch die Paramilitärs ist laut den Protestierenden an der Tagesordnung.
Alle am Protest beteiligten Gemeinden in "Los dos ríos", nämlich im Süden der Departementos Bolívar und Cesar, in den Regionen Magdalena Medio, Bajo Cauca, Nordosten von Antioquia sowie in den Departementos Santander und Santander del Norte, sind von der Zusammenarbeit der Streitkräfte mit den AGC überzeugt.
"Die Armee kam in das Gebiet, sicherte die Umgebung und zwei Tage später drangen die Paramilitärs ein und sind bis heute dort geblieben. Die Armee kam sogar mit Hubschraubern, um sie zu unterstützen", sagte ein Bewohner von Sur de Bolívar während der Blockade.
Die Armee führe gemeinsame Operationen zur sozialen Kontrolle mit den AGC durch, klagt Amador. Oft befänden sich Militärkontrollpunkte auf den Landstraßen und 15 Minuten entfernt die der AGC.
Generell sei die Haltung der Armee gegenüber den Bewohner:innen der Region "feindselig". Die Sicherheitskräfte stigmatisiere sie als Guerilleros, weil dort auch Guerillagruppen wie die ELN aktiv sind. Mittlerweile würde die Armee die lokale Bevölkerung zwingen, sich erkennungsdienstlich behandeln zu lassen. Die Erfassung von Personendaten ist in Kolumbien jedoch nur der Polizei erlaubt.
Hinter der Ausbreitung der Paramilitärs stehen wirtschaftliche Interessen, versichert Leonardo Jaimes, Menschenrechtsbeauftragter der sozialen Organisationen von Santander und Santander del Norte. Es handele sich um großgrundbesitzende Familien mit Geschäften in der Agrarindustrie und Viehzucht, sowie um multinationale Bergbauunternehmen.
Das Projekt der Ernährungssouveränität der lokalen Gemeinschaft, das mit dem Kampf um den Zugang zu Land verbunden ist, steht den wirtschaftlichen Projekten der Agrarindustrie und des Großbergbaus entgegen. Im Jahr 2022 wurden die bekannten Anführer dieser Kämpfe Teófilo Acuña, Jorge Tafur und und José Quiñones ermordet.
Nach Angaben der Landwirtschafts- und Bergbauvereinigung von Sur de Bolívar wurden die drei Aktivisten von dem örtlichen Landbesitzer Wilmer Díaz, dem Polizeikommandanten Joner Alvis und dem Bürgermeister der Gemeinde San Martín, Cesar Leusman Guerra Rico, schikaniert und bedroht.
Die protestierenden Gemeinden sympathisieren mit der linksgerichteten Regierung Petro. Sie stellen jedoch die Wirksamkeit des "Totalen Friedens" in Frage. Die AGC ist eine der Gruppen mit denen die Regierung einen bilateralen Waffenstillstand vereinbarte. Die AGC stelle sich friedlich dar, arbeite aber weiter an ihrer Ausbreitung, klagten sie.
Zuletzt prangerten sie an, dass sich die Ordnungskräfte nicht an die mit der Regierung getroffenen Vereinbarungen für die sichere Rückkehr in ihre Gebiete hielten. So wurde beispielsweise ausgemacht, dass weder Militär noch Polizei oder der Nachrichtendienst persönliche Informationen über die Protestierenden sammeln, sie filmen oder fotografieren dürfen. Dennoch tat die Polizei genau dies.