‘Der Lebensstandard des durchschnittlichen Amerikaners muss zurückgehen’
Das sagte ein früherer Chef der US-Notenbank. Auch damals ging es bei der «Inflationsbekämpfung» nicht nur um «den durchschnittlichen Amerikaner», sondern um einen grossen Teil der Menschheit, vor allem im Süden.
(zas, 13. 1. 23) Das befohlene «Aufwachen» - Krieg muss sein – grüsst den «nüchternen» ökonomischen Sachverstand im Sozialkrieg. Wer über die eigenen Möglichkeiten hinaus lebt – Sozialstaat! – wird mit Inflation bestraft, so die Formel. Experten wissen für uns, wie sie bekämpft wird. Assortierte Unterexperten in Zeitung, Tagesschau, Radio und Social Media (Dank der Economiesuisse) zelebrieren die Formel.
Kürzlich pauken sie mit unsereins die letzte Lektion der Fed, der US-Notenbank. Sie leitet bekanntlich die Inflationsbekämpfung per wiederholter Zinserhöhung. Nun gibt es welche, die behaupten, Zinserhöhungen wären schlimm für den globalen Süden und die Unterklassen in den G-7-Ländern. Könnte es da nicht sein, dass Unbehagen, Widerstand aus diesen Orten kommt? Nicht doch, sagt die Fed. Sie redet nur von einer Gefahr, die von denen kommt, die denken, bald wäre Schluss mit dem Zinsschrauben, dann gebe wieder billigeres Geld und tolle Aktiengewinne, auf die man Geld setzt statt dessen Umlaufmenge zu reduzieren. Brav beschreibt das auch NZZ-Journalist Christoph Eisenring in «Fed beklagt notorische ‘Anleger-Euphorie’» (NZZ vom 6. 1. 23). Aber staun! Unter der Hand auch bei ihm wird aus der Sorge wegen der Euphorischen die Warnung vor inflationstreibenden Löhnen. Wie das? Die Sonderstaatsausgaben gegen die Pandemiefolgen haben, erzählt er, eine andauernd enorme Liquidität geschaffen, mit der bis heute andauernden Folge, dass die Wirtschaft immer noch gut läuft und es an Arbeitskräften mangelt. Weniger produziert, aber zu viel Geld im Umlauf - DAS Rezept für Inflation, der Weg zum Absturz: «Wer in diesem Umfeld den Job wechselt, kann mit enormen Lohnzuwächsen rechnen. Das gilt vor allem im Dienstleistungsbereich, wo zum Beispiel in Autowerkstätten oder in der persönlichen Pflege derzeit Lohnsteigerungen von 10 Prozent und mehr üblich zu sein scheinen.»
Vom «euphorischen» Anleger zur Arbeiterin… Hat der Journalist was falsch begriffen? Keineswegs. Hören wir der Präsidentin der Fed von Kansas, Esther George, zu. In einem Interview am 2. November letztes Jahr mit National Public Radio begründete sie, warum die Fed gleichentags den Zins nochmals um 0.75 Prozent heraufgesetzt hatte: «Wir sehen heute, dass die Haushalte immer noch über einen Sparpuffer verfügen, der ihnen erlaubt, weiter Geld in einer Weise auszugeben, die die Nachfrage stark hält (…) Das legt nahe, dass wir eine Weile [bei hohen Zinsen] bleiben müssen». Jon Schwarz übersetzt das in The Intercept: «Mit anderen Worten, das Problem, wie es die Fed sieht, ist, dass normale AmerikanerInnen zu viel Geld haben. Und die Fed wird die Wirtschaft solange weiter plagen, bis das nicht mehr der Fall ist. Das ist im Wesentlichen das, was bekanntlich Paul Volcker 1979 sagte, kurz nachdem er den Fed-Vorsitz übernommen hatte: ‘Der Lebensstandard des durchschnittlichen Amerikaners muss zurückgehen.’»
Auch in The Intercept zitierte Ken Klippenstein letzten September, als eine weitere Zinserhöhung von 0.75-Prozent unmittelbar bevorstand, Fed-Chef Jerome Powell so: «Wir denken, wir können die sehr hohen Sozialkosten, die Paul Volcker und die Fed ins Spiel bringen mussten, um die Inflation wieder herunterzuholen, vermeiden.» Nun, lesen wir weiter, eine keine zwei Monate zuvor veröffentlichte Fed-Studie zur US-Rezession von 1920 sagt allerdings dieses: «Starke (angespannte) Arbeitsmärkte können schneller schwach (schlaff) werden, als Politikverantwortlich antizipieren können (...) Tatsächlich zeigen unsere Resultate, dass die Nachfrage nach Arbeitskräften heftig und schnell auf eine gestraffte Geldpolitik reagierte, in einer Geschwindigkeit, die die Fähigkeit von Politikverantwortlichen, die laufenden Wirtschaftsbedingungen zu erfassen, überfordern kann.» Klippenstein erläutert, gestützt auf die Befunde der Fed-Studie, dass die damalige Situation in vielem der heutigen «unheimlich» gleicht: Unter den nach dem 1. Weltkrieg an der spanischen Gruppe Gestorbenen waren viele ArbeiterInnen, so dass im Aufschwung nach Ende von Krieg und Epidemie die Löhne (auch dank Streiks, ergänzt The Intercept) anzogen. Der Artikel zitiert weiter aus der Studie: «Am Ende des 1. Weltkriegs kam es in den USA zu einem starken Wachstum und einer ungezügelten Inflation, teilweise angetrieben von einer expansiven Fiskal- und einer akkommodierenden Geldpolitik». The Intercept sagt, im März 2020 antwortete die US-Regierung auf einen Pandemie-bedingten Wirtschaftseinbruch ebenfalls mit einem nie dagewesenen Finanzstimulierungspaket von $ 2 Billionen – in den Worten der Studie eine «expansive Fiskalpolitik» - und die Fed hielt die Zinsen auf einem historischen Tiefstand – «akkommodierende Geldpolitik».
Das wusste Powell, als er niedrige Sozialkosten in Aussicht stellte. Doch die New York Times zitierte am letzten 6. Januar die Ökonomin aysegul Sahin, vordem bei der Fed, heute an der University of Texas, zu diesem Thema: «Ich denke, die Inflation dauert nicht ewig, aber sie wird anhalten, es sei denn, wir hätten eine riesige, durch eine breit gestreute Jobvernichtung provozierte Erhöhung der Arbeitslosigkeit (…) Was wir heute beim Arbeitsmarkt sehen, kann zwar auf eine sanfte Landung hindeuten, könnte aber durchaus der Beginn eines Sturms sein, und es könnte durchaus sein, dass wir das einfach nicht sehen.»
Bewusstes Jonglieren mit Ambivalenz, Pfeifen im dunklen Wald oder reale Ungewissheit? Vielleicht eine Mischung dieser Ingredienzen. So oder so – wir wissen, wer das ausbaden soll.
Interessant dazu die Aussagen von Robert Pollin und Gerald Epstein, führende progressive Ökonomen an der University of Massachusetts at Amherst und Leiter des dortigen Political Economy Research Institute (PERI) in einem Ende November 2022 von C. J. Polychroniou geführten Interview (The Fed’s Response to Rising Inflation Protects the Wealthy at Workers’ Expense). Pollin erwähnt die Pandemie mit ihren Lockdowns, gefolgt danach vom Ukrainekrieg, als Haupttreiber einer globalen Inflation, um dann zu sagen:
«Rechte KommentatorInnen behaupten gerne, dass die grossen Regierungsausgaben die Inflation verursacht haben. Das ist nicht ganz falsch, aber irreführend. Tatsächlich waren die Regierungsausgaben im Zusammenhang mit den Covid-Lockdowns weltweit historisch präzedenzlos; sie beliefen sich in allen grösseren Ökonomien auf zwischen 15 und 30 Prozent aller wirtschaftlichen Aktivitäten. Sie schufen einen globalen Boden für die Gesamtnachfrage – mit anderen Worten, die Leute hatten trotz der mit den Lockdowns emporschnellenden Arbeitslosigkeit noch Geld in der Tasche und auf dem Konto.»
«Anders gesagt fiel die Gesamtnachfrage weniger stark als das Gesamtangebot. Dies schuf eine Variante des klassischen Mantras der Inflation als Resultat von ‘zu viel Geld auf der Jagd nach zu wenig Gütern’. Aber schauen wir uns an, was die Alternative bei Fehlen dieser staatlichen Ausgaben gewesen wäre, also bei «zu wenig Geld auf der Jagd nach zu vielen Gütern». Das hätte eine grosse Deflation bewirkt mit fallenden Preisen, Löhnen und Einkommen, zusammen mit einer riesigen Zunahme von Arbeitslosigkeit, Konkursen und globaler Depression. Ich habe manche Kritik an der spezifischen Art und Weise der Ausschüttung dieser Covid-Rettungsschirme. Aber wir sind viel besser unterwegs mit diesen Staatsausgaben einschliesslich des Wissens um die folgende Inflation als mit einer globalen Deflation und Depression.»
«Unter diesen Bedingungen von Covid-Lockdowns und kriegsbezogenem Angebotseinbruch haben die Unternehmen die Gelegenheit für Preiserhöhungen und Profitpolster genutzt. In Bezug auf die US-Wirtschaft berichtete die Financial Times am 28. November, dass ‘die Margen von Einzel- und Grosshändlern in den letzten zwei Jahren explodiert sind (…) Diese Preiserhöhungen treiben die Inflation an.’ Der Ökonom Josh Bivens vom Economic Policy Institute bestätigte dieses Muster für die USA und errechnete, dass 54 Prozent der Preiserhöhungen auf wachsende Gewinnmargen zurückzuführen sind.»
«In einem Papier, dass ich an der PERI-Konferenz[1] vorlegen werde, zeigen meine Mitautorin Hanae Bouazza und ich, dass in der 61-jährigen Zeitspanne von 1960-2021 die Ökonomien von 130 Ländern bei Inflationsraten zwischen 5 und 15 Prozent konsistent schneller gewachsen sind als bei einer Rate von 0 – 2,5 Prozent. Generell ist das so, weil die Inflation bei einer auf hohen Touren operierenden Wirtschaft – mit tiefer Arbeitslosigkeit und starker Unterstützung des öffentlichen Sektors – sich tendenziell etwas beschleunigt. Das ist solange kein ernstes Problem, wie die Löhne und Lebensbedingungen der ArbeiterInnen mindestens mit der Inflation Schritt halten. Und wie gesagt, ist das ein sehr viel weniger ernsthaftes Problem als hohe Arbeitslosigkeit und erodierende Löhne und Lebensbedingungen, auch wenn dann die Inflation vielleicht bei 2 Prozent oder darunter liegt.»
«Das
ist solange kein ernstes Problem, wie die Löhne und Lebensbedingungen der
ArbeiterInnen mindestens mit der Inflation Schritt halten»... Da sie das unter
den herrschenden Bedingungen (also den Bedingungen der Herrschenden) kaum je tun,
bewirkt Inflation meistens eine Tendenz der Verarmung in die die Unterklassen.
«Tatsächlich operieren seit Mitte der 1990-er Jahre alle Länder mit hohen Einkommen im Rahmen einer Politik des sogenannten ‘inflation targeting’. Diese Länder haben sich alle ein Inflationsziel von 2 Prozent gesetzt. Vorausgesetzt ist, dass die Ökonomien mit Inflation von vernachlässigbar bis inexistent besser funktionieren. Aber in den USA haben wir gesehen, dass die Kaufkraft der ArbeiterInnen von den frühen 1990er bis zur Covid-Pandemie mit einer Inflation von niedrig bis null stagnierte, während die Zahlungen an die CEOs der Unternehmen exorbitant wuchsen, von 33mal so viel wie ein durchschnittlicher ArbeiterInnenlohn zu 366mal so viel 2019. So war das Ziel von 2 Prozent Inflation vor allem ein Mittel dafür, die ArbeiterInnenverhandlungsmacht schwach zu halten und Profite und CEO-Löhne explodieren zu lassen.»
«Eine sich beschleunigende Inflation schädigte den Reichtum des Top-1-Prozents und der reicheren Schichten. Die Fed antwortete mit einer signifikanten Zinserhöhung, um die Inflation zu verlangsamen und zu versuchen, den Reichtum der Reichen zu schützen.»
Wenn selbst die Financial Times meint, mehr als die Hälfte der aktuellen Inflation gehe auf Preiserhöhungen der Kapitalisten zurück, warum sind nicht sie, sondern der Lohn der ArbeiterInnen Angriffsziel? Die Formulierung Pollins, «die Fed antwortete mit einer signifikanten Zinserhöhung, um die Inflation zu verlangsamen und zu versuchen, den Reichtum der Reichen zu schützen», ist wohl richtig, bleibt aber stehen. Die Menschen, die Arbeitenden fertig zu machen, damit sie beim nächsten «innovativen Aufbruch» funktional seien, ist eine Angriffslinie, von der Besitzfragen nur deinen Aspekt wiedergeben. Und wenn die indische Ökonomin Jayati Ghosh, gestützt auf Angaben der UNCTAD, letzten November schreibt, Länder des globalen Südens (ohne China) könnten aufgrund der US-Zinspolitik mindestens $ 360 Mrd. an Einkommen verlieren, beziffert das ungefähr der Wirtschaftsleistung von Brasilien, Pakistan, Nigeria und etwa 10-15 ärmeren Trikontländer zusammen. Zahlen für ein unvorstellbares Leiden und Massaker.
NZZ, 12. 12. 23 |
[1] (Anm. ZAS: Die Konferenz zur Inflationsproblematik fand Mitte Dezember statt. Das erwähnte Papier ist hier zu finden.)