(zas, 25. 1. 23) Die Kämpfe in Peru gehen seit Anfang Jahr jeden Tag trotz massiver Repression weiter. Zum „Marsch auf Lima“ von letztem Freitag waren Zehntausende, vor allem, aber nicht nur aus den Anden im Süden in Karawanen in die Hauptstadt aufgebrochen. Es müssen mitreissende Szenen gewesen sein, als sie in den Tagen zuvor auf ihren Routen in den Städten und Dörfern, die sie passierten, von grossen Menschenmengen empfangen wurden. Auf Videos zeigten sich viele der Marschierenden tiefbewegt von solch überwältigender Liebe – sie wussten, dass sie auch für alle diese ihre Leute das Risiko eingingen, nach Lima gingen.
Dort kam es zu grossen, nach übereinstimmenden Berichten «unorganisierten» Demozügen in das Stadtzentrum. Das von vielen festgestellte Fehlen einer übergeordneten Leitung verweist vielleicht auf ein kollektives Selbstverständnis der angereisten Aymaras und Quechuas, aber auch jener indigenen Kontingente aus dem Amazonasgebiet, dem Norden des Landes und aus Lima selbst: Man orientiert sich in der Auseinandersetzung an den gewohnten Strukturen der Versammlungen und Entscheidungsfindungen. Schon zuvor hatten StudentInnen Teile der San-Marcos-Universität besetzt, um Vielen ein Dach über dem Kopf zu bieten – solche Solidarität kam auch in vielen anderen entsprechenden Initiativen zum Ausdruck.
Berichte in Medien wie der argentinischen Página/12 oder dem indigenen peruanischen Portal wayka.pe betonen die starke Präsenz von Unterklassenfrauen, etwa Marktverkäuferinnen, in den Kämpfen, sowohl in Lima wie auch in den gleichzeitigen Mobilisierungen in beträchtlichen Teilen des Landes. In Lima griffen die Sicherheitskräfte die Demos im Stadtzentrum an - ein Dauerbeschuss mit Gummischrot und Tränengas. Viele Leute versuchten, mit Steinschleudern und Steinwürfen Widerstand zu leisten, mussten aber nach stundenlangen Auseinandersetzungen und mit zahlreichen Verletzten den Rückzug antreten. Zu betonen ist auch der Einsatz vieler Demosanitätsgruppen, die die Strukturen in Lima organisiert hatten.
In der folgenden Nacht griffen mehrere hundert Polizisten die besetzte Universität an. Um dort einzubrechen, fuhren sie mit einem gepanzertem Wagen gegen das verbarrikadierte Hauptportal. Sie nahmen nach offiziellen Angaben etwa 300 Personen fest, StudentInnen und Auswärtige. Die Leute wurden brutal behandelt und eingesperrt. Als Provokation oder Demütigung liessen die Bullen in der Uni ein bekanntes Wahlkampflied des früheren Diktators Fujimori abspielen. Eine Vertreterin der Comisión Nacional de Derechos Humanos berichtete später von gravierenden sexuellen Übergriffen auf die verhafteten Frauen. Am Tag darauf entliess die Staatsanwaltschaft die Gefangenen, da ihre «Festnahme» krass widerrechtlich war (keine Leute der Staatsanwaltschaft involviert u. a.). Der flagrante Angriff auf die in Lateinamerika traditionell hochgehaltene Universitätsautonomie sorgte verbreitet für Empörung. Vieles erinnert an die Polizeiangriffe auf die Übernachtenden in der Scuola Diaz in Genua beim Widerstand gegen das G7-Treffen von 2001.
Doch Lima blieb nicht allein. In anderen Teilen des Landes kam es zu heftigen Zusammenstössen mit den Sicherheitskräften und wie auch in Lima erneut zu Toten und Verletzten. Nach offiziellen Angaben sind seit dem Putsch etwa 60 Menschen erschossen worden. Die Putschpräsidentin Dina Boluarte erklärte, Evo Morales habe die tödliche Munition geliefert und die Schussopfer seien von den eigenen Leuten getötet worden.
Seither ist Lima ein Zentrum der Auseinandersetzungen. Viele der Angereisten bleiben, wie sie angekündigt hatten – «bis zum Rücktritt von Dina» - Gewerkschaften und linke Strukturen in der Hauptstadt mobilisieren unentwegt weiter. Gerade gestern ist es in der Hauptstadt erneut zu einer Grossmobilisierung gekommen, die ebenfalls mit Dauerbeschuss mit Tränengas und Gummischrott bekämpft wurde. «Dina, asesina, mataste a nuestros hijos» (Dina, Mörderin, du hast unsere Kinder umgebracht) und der im Kontinent bekannte Ruf «La sangre derramada, jamás será olvidada» (Das vergossene Blut wird nie vergessen) - so erschallte die Antwort. Im Landesinnern, wo das Regime in vielen Regionen seit Tagen den Ausnahmezustand einschliesslich nächtlicher Ausgangsperre verhängt hat, kommt es dessen ungeachtet zu Mobilisierungen und teilweise militanten Zusammenstössen. Laut Página/12 sind immer noch über 70 wichtige Strassenverbindungen gesperrt. Zwar lösen Armee und/oder Polizei diese oft auf, können aber nicht verhindern, dass sie bald woanders wieder entstehen. Leider, aber kaum verwunderlich, zirkulieren relativ wenig Informationen über die Vorgänge im Landesinnern.
In diesem Zusammenhang wichtig diese Aussage der Bäuerin Valentina Chuqui aus dem Widerstandszentrum Puno, die heute in der Página/12 erklärt, warum sie in Lima ist: «Ich bin hier, weil die Polizei meine Kinder und meine Enkel umgebracht hat. Deshalb sind wir aus Puno im Kampf in Lima. Es gibt Tote, die verschwunden sind, es gibt mehr Tote, als sie sagen.» Und zu Boluarte: «Sie sagt, wir seien ignorante Campesinos. Wir sind nicht ignorant, sie ist ignorant, sie versteht nicht, wofür wir kämpfen. Was sollen wir verhandeln, wenn sie uns nicht wertschätzt! Wir wollen Respekt, Anerkennung unserer Arbeit. Wenn sie uns töten, sollen sie uns alle töten, wir haben keine Angst».