Rio de Janeiro. Zunächst sind Anfang
vergangener Woche lediglich vereinzelte unsignierte Flugblätter mit
nationalistischen Motiven und Law-and-Order-Forderungen auf den
Demonstrationen aufgetaucht. Am Donnerstag, bei den größten
Demonstrationen, die Brasilien seit 20 Jahren erlebt hatte, schlug die
Stimmung jedoch um. In Florianopolis jagten organisierte
nationalistische Demonstranten die Anhänger linker Parteien und sozialer
Organisationen gewaltsam aus den Straßen. Ähnliche Vorfälle ereigneten
sich in mehreren Städten. In São Paulo waren dabei auch rechte Skinheads
involviert.
Die Eskalation begann mit dem Sprechchor "Ohne Parteien!". Er wurde
von jungen Männern mit gelb-grün bemalten Gesichtern angestimmt, die
professionell bedruckte Transparente mit sich führten. Die
brasilianische Presse – bis auf wenige Ausnahmen von einigen wenigen
Familien kontrolliert – begleitete dieses Phänomen damit, dass die
"rebellierende Mittelstandsjugend" beschworen wurde. Medien wie die
Tageszeitung
Folha de São Paulo begannen, die inhaltliche
Ausrichtung der Proteste umzuwidmen. Im Fokus standen nun weniger die
sozialen Forderungen, sondern die Unzufriedenheit mit Korruption und
Gewaltkriminalität. Während die Beiträge noch vor wenigen Tagen eine
Kriminalisierung der Proteste selber forderten, standen die
Demonstranten nun angeblich dafür, dass das Militär in den Städten
eingesetzt wird, dass das Alter für die Strafmündigkeit gesenkt und die
Haftzeiten verlängert werden.
Die Ablehnung von politischen Parteien schließt in Brasilien
historisch an die Argumentation der Diktatur-Befürworter an. "Ein
geeintes brasilianisches Volk braucht keine politischen Parteien",
lautet eine weit verbreitete Argumentation des brasilianischen
Nationalismus. Dabei erscheint es kurios, dass unter diesem Slogan
damals wie heute nicht nur Parteien vertrieben wurden, sondern auch
soziale Organisationen wie die Obdachlosen-Verbände oder die
Landlosenbewegung Via Campesina. Viele brasilianische Linke erkennen in
dieser Kritik an ihren Organisationen ein reaktionäres Motiv und
bewerten die Vorfälle als eine koordinierte Intervention.
Angesichts dieser Ereignisse kündigen die Gruppen der Movimento Passe
Livre (MPL) an, in den nächsten Tagen keine Demonstrationen mehr zu
organisieren. Am Tag nach der Eskalation fanden in vielen großen Städten
wie São Paulo, Rio de Janeiro und Brasilia große Konferenzen statt, an
denen sich viele linke Strömungen beteiligten – Gewerkschaften, linke
Gruppen und auch Parteien. Ihr Ziel ist es, eine gemeinsame Strategie
gegen die rechten Schlägertrupps zu finden. Daran beteiligten sich
Organisationen wie der Welt-Frauen-Marsch, der Gewerkschaftsdachverband
CUT, Via Campesina oder die traditionelle linke Studenten-Vereinigung
UNE. Vertreten waren aber auch die linken Parteien wie die PSTU, die
PSOI sowie die Basis der regierenden Arbeiterpartei PT.
Auf diesen Vollversammlungen der brasilianischen Linken wurden vor
allem gemeinsame inhaltliche Vorstellungen entwickelt. Neben der weit
verbreiteten Forderung danach, dass die öffentlichen Bildungs- und
Gesundheitssysteme besser ausgestattet werden, sollen nun auch Reformen
des politischen Systems angegangen werden. Dazu gehören auch
Vorstellungen, das Mediensystem des Landes demokratischer zu gestalten.
Eine weitere gemeinsame Forderung richtete sich darauf, die Arbeitszeit
zu verkürzen. Zudem sollen die neu entdeckten Ölvorkommen versteigert
und nicht zu einem Festpreis vergeben werden. Mit diesen Themen hofft
die brasilianische Linke, den Protesten erneut einen stärkeren
politischen Charakter zu geben und "die reaktionäre Offensive"
zurückzudrängen.