Mexiko/Ayotzinapa: Die Schrift an der Wand

Donnerstag, 13. November 2014



(zas, 12.11.14) Die einen sehen den Volksaufstand kommen, andere sind da wesentlich skeptischer. Die fürchterlichen Ereignisse von Iguala im Bundesstaat Guerrero vom 26. September 2014, als  StudentInnen des LehrerInnenseminars für mittellose Indígenas, der Escuela Normal Rural von Ayotzinapa,  mutmasslich massakriert worden sind, hat das Land tatsächlich aufgewühlt. Doch brennende Regierungsautos oder während einiger Stunden blockierte Zugänge zum Flughafen von Acapulco allein machen noch keine vorrevolutionäre Situation aus. An vielen Protestaktionen sind nur einige hundert Studis und LehrerInnen beteiligt. Zwar gab es Grossdemos, doch scheint sich das nicht einfach zum „jetzt oder nie“ zu entwickeln. In Guerrero war die Mobilisierung in den Dörfern nach Einschätzung von Freunden in Mexiko auch schon grösser als heute. Eine gewisse Vorsicht bei Artikeln, wie sie in einigen linken Portalen zu lesen sind, die ein Land in flammendem Aufruhr zeichnen, scheint deshalb angebracht. Aber noch ist nicht aller Tage Abend, möglich, dass die Forderung nach Rücktritt der Regierung von Präsident Enrique Peña Nieto andere gesellschaftliche Sektoren aktiv werden lässt. 
Die neoliberale, US-hörige Regierung Peña Nieto durchlebt jetzt zweifellos eine grosse Legimitationskrise. Denn der Horror von Iguala beleuchtet die Komplizenschaft von Behörden und Kartellen auf beispielshafte Weise. Als in der Nacht vom 26. auf den 27. September dieses Jahres eine Gruppe Studierender der bekannten rebellischen „Normal“ von Ayotzinapa nach Iguala fuhr, wurden sie auf Geheiss des Bürgermeisters um 21 h von der Stadtpolizei angegriffen. Beim Polizeibeschuss kamen zwei Normalistas ums Leben. Bei einer Pressekonferenz auf offener Strasse um 24 h wurden sie erneut beschossen. Seither fehlt von ihnen, bis auf den 22-jährigen Julio César Mondragón, jede Spur. Julios Leiche wurde am nächsten Tag entsetzlich zugerichtet gefunden: Seine Kopfhaut war abgezogen, die  Augen fehlten. Klar scheint, dass die Polizei von Iguala die Normalistas gefangen und an die eng mit dem Bürgermeister kooperierenden Narcos vom Kartell der Guerreros Unidos ausgeliefert hat. Die Behörden und die Mainstreammedien versuchten erst, die Ereignisse möglichst klein zu schreiben oder sogar in die Rubrik „Abrechnung im Milieu“ zu entsorgen. Dies gilt vom mittlerweile verhafteten Bürgermeister von Iguala über den mittlerweile abgesetzten Gouverneur von Guerrero, beide Mitglieder der ehemals linken Partei PRD, bis zur Generalstaatsanwaltschaft und dem Staatspräsidenten Enrique Peña Nieto. Von Peña Nieto war die ersten Tage nach dem Massaker bzw. gewaltsamen Verschwinden der Normalistas durch die Stadtpolizei von Iguala kein Wort zur Angelegenheit zu vernehmen.


„Dann hau ab!“
Allein dieser hartnäckige Versuch des Vergessenlassens ist typisch für die offizielle Haltung zu den Opfern von Terror und Gewalt im Land, die meist in Zusammenhang mit dem sogenannten Drogenkrieg mit seinen bisher etwa 130‘000 Toten stehen. Niemand kann in Mexiko die Grausamkeiten der Kartelle ignorieren, aber auch das Massaker von Tlatlaya im Bundesstaat México, an der Grenze zu Guerrero, ist nicht vergessen. Dort exekutierte eine Armeeeinheit 19 Kriminelle, die sich nach einem kurzen Schusswechsel ergeben hatten, exekutierte. Damals brauchte die Generalstaatsanwaltschaft 85 Tage, um eine Untersuchung einzuleiten. Ihr hatte die Armeeversion von einem Gefecht mit 22 toten Kriminellen und keinem Verlust der Soldaten solange genügt, bis mehrere Zeugenaussagen und eine AP-Recherche vor Ort diese zerfetzt hatten. Seit die Generalstaatsanwaltschaft zu Iguala aktiv ist, macht sie eine klägliche Figur. Ihre erste Tatversion scheiterte daran, dass in den von ihr „ermittelten“ Massengräber zwar viele Leichen, aber nicht eine eines Normalista, lagen. Auch ihre neue Version – wonach die Normalistas von den Narcos  teilweise bei lebendigem Leib auf einer entlegenen Abfallhalde verbrannt wurden – weist grosse Ungereimtheiten auf. In ihrer aktuellen Nummer (1984/9.11.14) beleuchtet die Zeitschrift Proceso eine Reihe von Problemen bei den neuen Aussagen von Generalstaatsanwalt Jesús Murillo Karam (die Deponie ist nicht abgelegen, sondern viele Campesinos kommen auf dem Weg zum Maisfeld an ihr vorbei – sie hätten das sehr lang andauernde Verbrennen der Leichen bemerken müssen; Müllcamioneure machen Aussagen, die nicht mit der offiziellen Version übereinstimmen u. a.). Wenig zu seiner Akzeptanz trug auch bei, dass Karam an der Pressekonferenz vom 7. November zur neuen Tatversion nach einer Weile Pressefragen mit der Bemerkung abklemmte: „Ich bin müde -  ya me cansé“. Binnen Stunden wurde der Hashtag #YaMeCansé zum Twitterrenner in Mexiko. „Dann hau ab“, war die Antwort. 


Die Rolle der Militärs
Auffallend an der Version der Generalstaatsanwaltschaft ist, dass sie die Hauptverantwortung den Guerreros Unidos zuweist und die evidente Intimkollaboration der Polizei von Iguala mit den Narcos  relativ klein schreibt. Dies trotz einer unbestrittenen Faktenlage und einer langen Vorgeschichte. So fischten die Iguala-Bullen bei systematischen Strassenkontrollen mehrmals Mitglieder der indigenen Bewegungen heraus, die sie schwer misshandelten. Letzten März liess sie fünf Menschen, die einen schussverletzten Angehörigen transportierten, verschwinden. Am 1. Dezember 2014 veröffentlichte die Zeitung Reforma einen Bericht über die Zustände bei der Polizei der Iguala benachbarten Gemeinde Cocula. Ihr Chef hatte beim in Iguala stationierten 27. Infanteriebataillon um Hilfe nachgesucht, weil sein Vize mit den Narcos zusammenarbeitete. Die Militärs intervenierten und stützten den Vize. Am 26. August waren die Bullen von Cocula an den Angriffen auf die Normalistas beteiligt.
In Iguala ist ein weiteres, auf den Drogenkrieg spezialisiertes Armeebataillon stationiert. Doch für Beachtung sorgte insbesondere das 27. Bataillon. Die erste Schiesserei  um 21 h fand in der Nähe seiner Kaserne statt, doch die Militärs fanden es nicht für nötig nachzuschauen, wer in ihrer Nachbarschaft Salven abfeuerte. Ihren Kommandanten verbindet eine enge Freundschaft mit dem jetzt verhafteten Narco-Bürgermeister. Und der Zufall wollte, dass er sich während des bewaffneten Angriffs gerade an einer von der Gattin des Bürgermeisters organisierten Festivität befand. Dafür wurden die Militärs danach aktiv. 
Der Kommandant mit Bürgermeister und Gattin. Bild: Proceso.

Als eine Gruppe von Normalistas den „Fehler“ beging, um Hilfe für einen verletzten Compañero in einer Privatklinik zu bitten, alarmierte diese die Polizei, worauf eine Einheit des 27. Batataillons ankam und die Studenten wegen Hausfriedensbruchs fichierte und ihnen damit drohte, sie an die Bullen auszuhändigen, was ihren sicheren Tod bedeutet hätte. Umgekehrt war später der Umstand, dass sich bei dem Polizeiangriff von Mitternacht schwarz gekleidete Männer mit grosskalibrigen Waffen beteiligten, für die Armee kein Anlass zum Intervenieren. Das dürfte zu der nicht weiter begründeten Mitteilung der Guerillaorganisation EPR beigetragen haben, in der steht: „Die 43 gewaltsam verschwundenen Normalistas werden in den Kasernen der Policía Federal (Bundespolizei), in Installationen des Heeres und der Marine gefoltert, wie das bei den Repressionen in Michoacán am 28. April und 15. Oktober 2012 der Fall war, wo sie temporär in der Polizeiakademie verschwunden und brutal gefoltert wurden“ (Proceso, 1984/9.11.14: Inacción militar que olió a complicidad. Die Michoacán-Fälle betrafen protestierende StudentInnen und Normalistas). Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang die gestern von La Jornada publizierte Aussage des mexikanischen Verteidigungsministers, General Salvador Cienfuegos Zepeda: Wir lassen „uns nicht einschüchtern von ungerechten Prozessen, einige davon sind ohne Zweifel ein Irrtum, ohne Basis, voller schlechter Absicht, die die Streitkräfte nicht verdienen“. Das bezieht sich auf Verfahren wie jenes wegen des Massakers von Tlatlaya.

Nach dem Protest der Schmutzige Krieg?
Was aber sind die Perspektiven? Vermutlich liegen jene vier in der erwähnten Proceso-Ausgabe zitierten Linksradikalen näher an der Wahrheit als die teilweise sehr enthusiastische Revolutionserwartung.  Bei den vieren handelt es sich um reale oder angebliche ehemalige Mitglieder der EPR-Guerilla in Guerrero. Einer von ihnen ist David Cabañas Barriento, Bruder von Lucio Cabañas, legendärer Chef der Guerilla Partido de los Pobres der 70er Jahre und früherer Seminarist von Ayotzinapa. Er meint: „Wenn die Intensität der Bewegung nachlässt, können sie auf die sozialen Organisationen losgehen, die wir uns hinter die Forderung nach dem Auftauchen der lebenden Normalistas stellen“ (Proceso, 1984/9.11.14: México, en escenario de convulsión social). Felipe Edgardo Canseco Ruiz, den das Verteidigungsministerium als politischen Kopf des EPR einstufte, betont seinerseits, dass die Versuche, sie vier mit der Guerilla in Verbindung zu bringen, „die sozialen Bewegungen einschüchtern“ sollen, die sich für die verschwundenen Normalistas einsetzen. „Inmitten der Rufe für die Verschwundenen zielen diese Bezichtigungen auf eine Zunahme des schmutzigen Krieges gegen die sozialen Bewegungen – einschliesslich der Proteste wegen der Vorfälle von Tlatlaya“, sagt Ítalo Díaz, ein früher als EPR-Comandante Beschuldigter, um fortzufahren: „Was den Normalistas von Ayotzinapa widerfahren ist, entspricht in der Dimension der Hasskampagne gegen die LehrerInnen, die sich der Erziehungsreform widersetzt haben“ (id.).  Canseco Ruiz warnt: „In dem Mass, in dem die Verschwundenen nicht wieder lebend auftauchen, werden wir einen kritischen Moment für die soziale Bewegung haben. Wenn der Staat zur Einschätzung gelangt, dass er jede Möglichkeit verloren hat, die soziale Inkonformität aufzufangen, wird er zur repressiven Antwort schreiten, deren Anfänge in Oaxaca, Guerrero und im Valle de México zu sehen sind“ (id.).

Diese Einschätzung dürfte richtig sein. Das heisst natürlich nicht, dass sich die Reaktion auch automatisch durchsetzen wird. Aber diese Sicht bedingt andere Perspektiven als eine bewegungsenthusiastische Verabsolutierung des momentanen Handelns.