(zas, 12.11.14) Die einen sehen den Volksaufstand kommen, andere
sind da wesentlich skeptischer. Die fürchterlichen Ereignisse von Iguala im
Bundesstaat Guerrero vom 26. September 2014, als StudentInnen des LehrerInnenseminars für
mittellose Indígenas, der Escuela Normal
Rural von Ayotzinapa, mutmasslich
massakriert worden sind, hat das Land tatsächlich aufgewühlt. Doch brennende
Regierungsautos oder während einiger Stunden blockierte Zugänge zum Flughafen
von Acapulco allein machen noch keine vorrevolutionäre Situation aus. An vielen
Protestaktionen sind nur einige hundert Studis und LehrerInnen beteiligt. Zwar
gab es Grossdemos, doch scheint sich das nicht einfach zum „jetzt oder nie“ zu
entwickeln. In Guerrero war die Mobilisierung in den Dörfern nach Einschätzung
von Freunden in Mexiko auch schon grösser als heute. Eine gewisse Vorsicht bei
Artikeln, wie sie in einigen linken Portalen zu lesen sind, die ein Land in flammendem
Aufruhr zeichnen, scheint deshalb angebracht. Aber noch ist nicht aller Tage
Abend, möglich, dass die Forderung nach Rücktritt der Regierung von Präsident
Enrique Peña Nieto andere gesellschaftliche Sektoren aktiv werden lässt.
Die neoliberale, US-hörige Regierung Peña Nieto durchlebt jetzt
zweifellos eine grosse Legimitationskrise. Denn der Horror von Iguala beleuchtet
die Komplizenschaft von Behörden und Kartellen auf beispielshafte Weise. Als in
der Nacht vom 26. auf den 27. September dieses Jahres eine Gruppe Studierender
der bekannten rebellischen „Normal“ von Ayotzinapa nach Iguala fuhr, wurden sie
auf Geheiss des Bürgermeisters um 21 h von der Stadtpolizei angegriffen. Beim
Polizeibeschuss kamen zwei Normalistas
ums Leben. Bei einer Pressekonferenz auf offener Strasse um 24 h wurden sie
erneut beschossen. Seither fehlt von ihnen, bis auf den 22-jährigen Julio César
Mondragón, jede Spur. Julios Leiche wurde am nächsten Tag entsetzlich
zugerichtet gefunden: Seine Kopfhaut war abgezogen, die Augen fehlten. Klar scheint, dass die Polizei
von Iguala die Normalistas gefangen
und an die eng mit dem Bürgermeister kooperierenden Narcos vom Kartell der Guerreros Unidos ausgeliefert hat. Die
Behörden und die Mainstreammedien versuchten erst, die Ereignisse möglichst
klein zu schreiben oder sogar in die Rubrik „Abrechnung im Milieu“ zu
entsorgen. Dies gilt vom mittlerweile verhafteten Bürgermeister von Iguala über
den mittlerweile abgesetzten Gouverneur von Guerrero, beide Mitglieder der
ehemals linken Partei PRD, bis zur Generalstaatsanwaltschaft und dem
Staatspräsidenten Enrique Peña Nieto. Von Peña Nieto war die ersten Tage nach
dem Massaker bzw. gewaltsamen Verschwinden der Normalistas durch die Stadtpolizei von Iguala kein Wort zur
Angelegenheit zu vernehmen.
„Dann hau
ab!“
Allein dieser hartnäckige Versuch des Vergessenlassens ist typisch
für die offizielle Haltung zu den Opfern von Terror und Gewalt im Land, die
meist in Zusammenhang mit dem sogenannten Drogenkrieg mit seinen bisher etwa
130‘000 Toten stehen. Niemand kann in Mexiko die Grausamkeiten der Kartelle ignorieren,
aber auch das Massaker von Tlatlaya im Bundesstaat México, an der Grenze zu
Guerrero, ist nicht vergessen. Dort exekutierte eine Armeeeinheit 19 Kriminelle,
die sich nach einem kurzen Schusswechsel ergeben hatten, exekutierte. Damals
brauchte die Generalstaatsanwaltschaft 85 Tage, um eine Untersuchung
einzuleiten. Ihr hatte die Armeeversion von einem Gefecht mit 22 toten Kriminellen
und keinem Verlust der Soldaten solange genügt, bis mehrere Zeugenaussagen und eine
AP-Recherche vor Ort diese zerfetzt hatten. Seit die Generalstaatsanwaltschaft zu
Iguala aktiv ist, macht sie eine klägliche Figur. Ihre erste Tatversion scheiterte
daran, dass in den von ihr „ermittelten“ Massengräber zwar viele Leichen, aber
nicht eine eines Normalista, lagen.
Auch ihre neue Version – wonach die Normalistas
von den Narcos teilweise bei lebendigem
Leib auf einer entlegenen Abfallhalde verbrannt wurden – weist grosse Ungereimtheiten
auf. In ihrer aktuellen Nummer (1984/9.11.14) beleuchtet die Zeitschrift
Proceso eine Reihe von Problemen bei den neuen Aussagen von Generalstaatsanwalt
Jesús Murillo Karam (die Deponie ist nicht abgelegen, sondern viele Campesinos
kommen auf dem Weg zum Maisfeld an ihr vorbei – sie hätten das sehr lang
andauernde Verbrennen der Leichen bemerken müssen; Müllcamioneure machen Aussagen,
die nicht mit der offiziellen Version übereinstimmen u. a.). Wenig zu seiner Akzeptanz
trug auch bei, dass Karam an der Pressekonferenz vom 7. November zur neuen Tatversion
nach einer Weile Pressefragen mit der Bemerkung abklemmte: „Ich bin müde - ya me cansé“.
Binnen Stunden wurde der Hashtag #YaMeCansé zum Twitterrenner in Mexiko. „Dann
hau ab“, war die Antwort.
Die Rolle
der Militärs
Auffallend an der Version der Generalstaatsanwaltschaft ist, dass
sie die Hauptverantwortung den Guerreros
Unidos zuweist und die evidente Intimkollaboration der Polizei von Iguala mit
den Narcos relativ klein schreibt. Dies
trotz einer unbestrittenen Faktenlage und einer langen Vorgeschichte. So
fischten die Iguala-Bullen bei systematischen Strassenkontrollen mehrmals
Mitglieder der indigenen Bewegungen heraus, die sie schwer misshandelten.
Letzten März liess sie fünf Menschen, die einen schussverletzten Angehörigen
transportierten, verschwinden. Am 1. Dezember 2014 veröffentlichte die Zeitung
Reforma einen Bericht über die Zustände bei der Polizei der Iguala benachbarten
Gemeinde Cocula. Ihr Chef hatte beim in Iguala stationierten 27.
Infanteriebataillon um Hilfe nachgesucht, weil sein Vize mit den Narcos
zusammenarbeitete. Die Militärs intervenierten und stützten den Vize. Am 26.
August waren die Bullen von Cocula an den Angriffen auf die Normalistas
beteiligt.
In Iguala ist ein weiteres, auf den Drogenkrieg spezialisiertes
Armeebataillon stationiert. Doch für Beachtung sorgte insbesondere das 27.
Bataillon. Die erste Schiesserei um 21 h
fand in der Nähe seiner Kaserne statt, doch die Militärs fanden es nicht für
nötig nachzuschauen, wer in ihrer Nachbarschaft Salven abfeuerte. Ihren Kommandanten
verbindet eine enge Freundschaft mit dem jetzt verhafteten Narco-Bürgermeister.
Und der Zufall wollte, dass er sich während des bewaffneten Angriffs gerade an
einer von der Gattin des Bürgermeisters organisierten Festivität befand. Dafür
wurden die Militärs danach aktiv.
Der Kommandant mit Bürgermeister und Gattin. Bild: Proceso. |
Als eine Gruppe von Normalistas den „Fehler“
beging, um Hilfe für einen verletzten Compañero in einer Privatklinik zu bitten,
alarmierte diese die Polizei, worauf eine Einheit des 27. Batataillons ankam
und die Studenten wegen Hausfriedensbruchs fichierte und ihnen damit drohte,
sie an die Bullen auszuhändigen, was ihren sicheren Tod bedeutet hätte. Umgekehrt
war später der Umstand, dass sich bei dem Polizeiangriff von Mitternacht schwarz
gekleidete Männer mit grosskalibrigen Waffen beteiligten, für die Armee kein
Anlass zum Intervenieren. Das dürfte zu der nicht weiter begründeten Mitteilung
der Guerillaorganisation EPR beigetragen haben, in der steht: „Die 43 gewaltsam verschwundenen Normalistas
werden in den Kasernen der Policía Federal (Bundespolizei), in Installationen des
Heeres und der Marine gefoltert, wie das bei den Repressionen in Michoacán am
28. April und 15. Oktober 2012 der Fall war, wo sie temporär in der
Polizeiakademie verschwunden und brutal gefoltert wurden“ (Proceso,
1984/9.11.14: Inacción militar que olió a complicidad. Die Michoacán-Fälle
betrafen protestierende StudentInnen und Normalistas). Bezeichnend ist in
diesem Zusammenhang die gestern von La Jornada publizierte Aussage
des mexikanischen Verteidigungsministers, General Salvador Cienfuegos Zepeda: Wir
lassen „uns nicht einschüchtern von
ungerechten Prozessen, einige davon sind ohne Zweifel ein Irrtum, ohne Basis, voller
schlechter Absicht, die die Streitkräfte nicht verdienen“. Das bezieht sich
auf Verfahren wie jenes wegen des Massakers von Tlatlaya.
Nach dem
Protest der Schmutzige Krieg?
Was aber sind die Perspektiven? Vermutlich liegen jene vier in der
erwähnten Proceso-Ausgabe zitierten Linksradikalen näher an der Wahrheit als
die teilweise sehr enthusiastische Revolutionserwartung. Bei den vieren handelt es sich um reale oder
angebliche ehemalige Mitglieder der EPR-Guerilla in Guerrero. Einer von ihnen
ist David Cabañas Barriento, Bruder von Lucio Cabañas, legendärer Chef der
Guerilla Partido de los Pobres der
70er Jahre und früherer Seminarist von Ayotzinapa. Er meint: „Wenn die Intensität der Bewegung
nachlässt, können sie auf die sozialen Organisationen losgehen, die wir uns
hinter die Forderung nach dem Auftauchen der lebenden Normalistas stellen“ (Proceso,
1984/9.11.14: México, en escenario de convulsión social). Felipe Edgardo Canseco
Ruiz, den das Verteidigungsministerium als politischen Kopf des EPR einstufte, betont
seinerseits, dass die Versuche, sie vier mit der Guerilla in Verbindung zu
bringen, „die sozialen Bewegungen
einschüchtern“ sollen, die sich für die verschwundenen Normalistas
einsetzen. „Inmitten der Rufe für die
Verschwundenen zielen diese Bezichtigungen auf eine Zunahme des schmutzigen
Krieges gegen die sozialen Bewegungen – einschliesslich der Proteste wegen der
Vorfälle von Tlatlaya“, sagt Ítalo Díaz, ein früher als EPR-Comandante Beschuldigter,
um fortzufahren: „Was den Normalistas von
Ayotzinapa widerfahren ist, entspricht in der Dimension der Hasskampagne gegen
die LehrerInnen, die sich der Erziehungsreform widersetzt haben“ (id.). Canseco Ruiz warnt: „In dem Mass, in dem die Verschwundenen nicht wieder lebend auftauchen,
werden wir einen kritischen Moment für die soziale Bewegung haben. Wenn der
Staat zur Einschätzung gelangt, dass er jede Möglichkeit verloren hat, die
soziale Inkonformität aufzufangen, wird er zur repressiven Antwort schreiten,
deren Anfänge in Oaxaca, Guerrero und im Valle de México zu sehen sind“
(id.).
Diese Einschätzung dürfte richtig sein. Das heisst natürlich
nicht, dass sich die Reaktion auch automatisch durchsetzen wird. Aber diese
Sicht bedingt andere Perspektiven als eine bewegungsenthusiastische Verabsolutierung
des momentanen Handelns.