Silvia Ribeiro*
Daniel Feierstein, Mitarbeiter des argentinischen Centro de Estudios sobre Genocidio und
der Jury der Schlussverhandlung des
Permanenten Völkertribunals, Kapitel Mexiko (Tribunal Permanente de los
Pueblos,TPP), äusserte angesichts der dem Tribunal vorgelegten Tatsachen, dass
sie in anderen Ländern schon Fälle von Folter, aussergerichtlichen
Hinrichtungen, gewaltsamem Verschwindenlassen, Politmorden, Vergewaltigungen,
Repression von Bewegungen und hohem Grad von Straflosigkeit analysieren mussten
… aber stets bei Diktaturen. Mexiko, fügte er an, ist das einzige Land, wo all
dies unter der Demokratie geschieht.
Das Massaker der Studierenden von Ayotzinapa und die von
Empörung und Solidarität getragene Reaktion im ganzen Land und weltweit lüftet unwiderruflich
den Schleier und wirft ein Schlaglicht auf eine harte Realität (s. Mexiko/Ayotzinapa: Die
Schrift an der Wand und Mexiko: Das Massaker in
Iguala). Alles, was das Tribunal während drei arbeitsintensiven
Jahren dokumentiert hatte, kondensierte sich in ein paar Stunden der Barbarei
in Iguala, schreibt die Jury in der Einleitung zu ihrem Urteil vom 15. November
2014. In diesem Reich der Straflosigkeit, das Mexiko heute ist, gibt es Morde
ohne Mörder, Folter ohne Folterer, sexuelle Gewalt ohne Täter – ein permanentes
Abwälzen von Verantwortung, bei dem anscheinend abertausende von Massakern,
Morden und systematischen Verletzungen der Rechte der Völker stets isolierte Einzelfälle
oder marginale Momente sind, und nicht reale Verbrechen, für die der Staat die
Verantwortung trägt.
Drei Jahre Verfahrensdauer, über tausend beteiligte soziale
Bewegungen und Organisationen, Dutzende von Foren und Vorbereitungsworkshops
der Sessionen im ganzen Land erbrachten, systematisierten und dokumentierten
über 500 Fälle von Verletzungen des Völkerrechts: Gewalt gegen MigrantInnen,
ArbeiterInnen, Medienarbeitende, Junge, Feminizide und andere Formen der
sexistischen Gewalt, Umweltzerstörung, Gewalt gegen die Völker des Mais und die
Ernährungssouveränität, Angriffe auf das Erziehungswesen und die Lehrpersonen,
schmutziger Krieg mit seinem Schatten auf das Heute, Enteignungen, Massaker und
Kriege, die kein Ende haben und die sozialen Bewegungen mit Repression
überziehen. Und über all dem ein Tuch der Legalität und Straflosigkeit.
*aus TPP: el velo
rasgado La Jornada, 29.11.14
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(zas) Soviel aus dem Artikel von Silvia Ribeiro. Die Autorin
ist Lateinamerika-Direktorin der vorallem in Lateinamerika, Asien und Afrika
arbeitenden ETC Group, die sich als Ziel u. a. die „Erhaltung und nachhaltige Förderung von kultureller und ökologischer
Diversität und Menschenrechten“ (etcgroup.org) setzt. Ribeiro beschreibt im Artikel weiter
die minutiöse Arbeit des TPP in Mexiko seit 2011, seine Unterstützung etwa
durch Personal des Internationale Strafgerichtshofs und sein Urteil, das
mexikanische Regierungen bis zur heutigen von Präsident Enrique Peña Nieto
wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt.
Peña Nieto galt dem Medienmainstream gerade noch als ein Wunder
an Reformkraft, als einer, der Mexiko von seinem „Reformstau“ befreie, während er
heute wegen seiner offensichtlichen Versuche bzw. deren Scheitern, das Massaker
von Ayotzinapa zu marginalisieren, als inkompetent abgehandelt wird. „Einen Präsidenten wie den mexikanischen
wünschen sich viele Lateinamerikaner. Er ist jung, dynamisch und scheut sich
nicht, Tabus zu brechen … Mäuschenstill war es im Saal, als der Rockstar der
lateinamerikanischen Politszene, der mexikanische Präsident Enrique Peña Nieto,
am World Economic Forum in Panama seine Reformagenda entblätterte“ (NZZ.
14.4.14: Mexiko
setzt zum Sprung an,Autor: Richard Bauer).
Erinnern wir uns an die transnationalen Medienelogen zur
Privatisierung des mexikanischen Öls oder zur neoliberalen Konterreform im
Erziehungswesen, die als Aufräumen mit alteingesessenen Gewerkschaftskartellen
präsentiert wurde. Im Visier standen dabei solche Dinge wie die Escuelas Normales Rurales, LehrerInnenseminare,
zu denen die Schule von Ayotzinapa gehört: Eingeführt noch unter dem Einfluss
der mexikanischen Revolution, stellten sie eine Möglichkeit für
„marginalisierte“ Indígenas dar, im Erziehungsbereich aktiv zu werden. Seit
ihrer Gründung sind sie Angriffsziele der Reaktion, gelten sie als Horte der
Guerillas, der Subversion. Wegen solcher Dinge muss das TPP „Angriffe auf das
Erziehungswesen und die Lehrpersonen“ untersuchen. „Ayotzinapa“ muss mitdenken,
wer sich für die Konterreform im Unterrichtswesen begeistert.
Von alldem auch heute nicht der Hauch einer Ahnung beim
Medienchor, der seine Lobeslitanei auf die „Reformen“ zwischendurch – wie jetzt
angesichts des Widerstands gegen „Ayotzinapa“ - kurz aussetzen muss, damit ihr
Zusammenhang mit der Logik des Massakers nicht zu offensichtlich werde oder gar
ihm selbst dämmere.