OAS gegen Venezuela oder doch nicht wirklich?

Donnerstag, 2. Juni 2016



(zas, 2.6.16) Die Sache duldete keinen Aufschub! Don Luis Almagro, Generalsekretär der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), veröffentlichte am 30. Mai 2016 ein 133-seitiges Dokument, mit dem er die Aktivierung der Demokratieklausel der OAS gegen Venezuela begann. Diese 2001 eingeführte Klausel postuliert in Artikel 20 für den „Fall einer nicht-verfassungsmässigen Änderung des Verfassungsregimes, die die demokratische Ordnung eines Mitgliedlandes ernsthaft beeinträchtigt“, dass „ein Mitgliedsland oder der Generalsekretär“ die OAS-Gremien – erst der BotschafterInnen, später im Notfall der AussenministerInnen – zur Beratung und Beschlussfassung einberufen kann. Die BotschafterInnen können in einem ersten Schritt geeignete diplomatische Initiativen zur Wiederherstellung der repräsentativen Demokratie ergreifen; im Fall von deren Scheitern kann die Vollversammlung (meist die die AussenministerInnen) mit einer 2/3-Mehrheit die Suspendierung der Mitgliedschaft des betreffenden Landes beschliessen. Angewandt wurde die Demokratie-Klausel bisher nur gegen das putschistische Honduras, nicht aber anlässlich des Parlamentsputschs in Paraguay oder gerade in Brasilien und selbstredend nicht wegen der systematischen Massenmorde der kolumbianischen Regierung im Rahmen des Plan Colombia.
In seinem erwähnten Schreiben ersucht Almagro um die Einberufung des Permanenten Rats (der OAS-BotschafterInnen) in der Zeit zwischen dem 10. und dem 20. Juni 2016 zwecks Diskussion des Falls Venezuela. Doch wie gesagt, die Dinge eilten, Venezuela treibt bekanntlich dem Untergang zu. So kam es, dass Argentinien, das die Turnuspräsidentschaft innehat, in einer Sitzung zum Thema Venezuela, zu der aber Venezuela nicht eingeladen war, das Gremium schon auf den 1. Juni einberief.
Liest man chavistische Medien, hat Venezuela dabei einen Sieg errungen. Die OAS spreche sich für Massnahmen zugunsten eines Dialogs in Venezuela aus, den die Regierung Maduro ja auch anstrebe. Relativ ähnlich sehen das andere lateinamerikanische Medien wie die rechte O Globo-Zeitung in Brasilien. Und in diese Richtung deutet auch die Reaktion des Präsidenten des venezolanischen Parlaments, Henry Ramos Allup. Er stampfte gar wütig mit dem Bein auf und titulierte den argentinischen Rechtspräsidenten Macri als „micro“ und als „Heuchler“. Denn statt, wie versprochen, auf der Suspendierung Venezuelas zu beharren, befürwortete Buenos Aires das von Mexiko eingebrachte gemächlichere Vorgehen der OAS. 
Almagro.
 Auf den ersten Blick ist allerdings der „Sieg“ Venezuelas nicht so ohne weiteres ersichtlich. Klare Solidarität kam natürlich von den ALBA-Ländern, aber etwa auch die jamaikanische Botschafterin Julia Elizabeth Hyatt nervte sich: „Jamaika erachtet einige kürzliche Äusserungen des Generalsekretärs in seiner Antwort an den Präsidenten von Venezuela als völlig inakzeptabel und unglücklich. Wir rufen [ihn] zu einer respektvollen Kommunikation auf“. Das ist zwar gemein für Almagro, der in Sachen Venezuela immer mehr psychologische Triebmomente erahnen lässt, aber ändert nichts daran, dass die in Artikel 20 der Demokratieklausel genannten, jetzt noch nicht  präzisierten Mechanismen offenbar doch zur Anwendung kommen sollen. Da gibt es allerdings Interpretationsspielraum: In der Resolution bietet der Rat Venezuela an, „gemeinsam Handlungsmöglichkeiten zu identifizieren, die zur Suche nach Lösungen über einen offenen Dialog zwischen der Regierung, anderen Verfassungsmächten und allen politischen und sozialen Akteuren beitragen“ sollen. Gleichzeitig unterstützt der Rat die schon laufenden und von Präsident Nicolás Maduro begrüssten Vermittlungsbemühungen zwischen Regierung und Opposition unter Leitung der Expräsidenten Zapatero, Torrijos und Fernández (Spanien, Panama, Dominikanische Republik). Eine Initiative des Apparats von Unasur, der lateinamerikanischen Staatengemeinschaft, deren Perspektiven mit dem Rechtsruck im Kontinent allerdings sehr ungewiss sind. Zapatero z. B. ist im Gegensatz zu seinen beiden ehemaligen Amtskollegen Aznar und González kein rabiater Gegner der Chavistas-Hasser.

Ist das Glas also halb voll oder halb leer?
Wir werden das bald sehen. Falls es erstaunlicherweise in anderen Gesprächen, denen zwischen Wirtschaft und Regierung, tatsächlich zu einer signifikanten Annäherung käme, wie amerika21 heute andeutet, dürfte sich der Spielraum für die von Washington angestrebte verschärfte Offensive gegen Venezuela wieder verkleinern. Denn hinter der OAS-Strategie des State Departments (und Almagros) steht das Bestreben, per Demokratieklausel „legitimiert“ etwa den Wirtschaftskrieg gegen Venezuela offen zu einer internationalen Blockade auszuweiten. Reagieren Ultras wie Ramos Allup derart ungehalten, weil sie ihre Felle davon schwimmen sehen? (Der Mann hatte im Februar 1989 als Parlamentarier das Dekret eingebracht, das im Zusammenhang mit der Armenrevolte gegen eine vom damaligen sozialdemokratischen Präsidenten Carlos Andrés Pérez getragene IWF-Sparpolitik die verfassungsmässigen Rechte der VenezolanerInnen suspendierte. Die Armee ermordete in der Folge tausende von Menschen. Das hinderte die „Sozialistische Internationale“ nicht, Ramos Allup 2012 in ihr Direktorium zu wählen. In der OAS schlug das Massaker keine Wellen.)

Caracas, 1989: Armee im Geiste von Ramos Allup. Quelle: Alba Ciudad.
Almagros Glaubensbekenntnisse
Noch ein paar Worte zu Almagros 133-Seiten-Meisterstück, in dem er den Ausschluss Venezuelas aus der OAS anstrebt um das Land zum Abschuss freizugeben. Laut einem Artikel von Misión Verdad vom 31. Mai begründet der ehemalige uruguayische Aussenminister sein Verdikt in der heute üblichen Weise: Wegen des Chavismus gibt es eine Wirtschaftsnot, die zur humanitären Krise geworden ist; das Regime in Caracas geht diktatorisch gegen Oppositionelle vor, missachtet die Gewaltenteilung und versucht seinen Abgang mit dem Hinausschieben des Abberufungsreferendum zu vermeiden. Almagro stützt sich auf eine gemeinsame Erhebung der drei stramm antichavistischen Universitäten Andrés Bello, Simón Bolivar und Central de Venezuela. So verkündet er, die Armut in Venezuela sei heute grösser als zur Zeit der Revolte 1989, „im Land fehlen 85 % der wichtigen Medikamente“ und „85 % der Venezolaner mit Einkommen sind unterernährt“. Mit solchen seriösen Untersuchungen und der schlichten Alltagserfahrung widersprechenden Behauptungen haben die genannten Universitäten und Almagro, so Misión Verdad, „selbst die übelsten Phantasien der antichavistischen Experteologie“ übertroffen. Tatsächlich sei die Situation ernst, aber definitiv nicht so apokalyptisch, wie sie Almagro beschreibt, der sich für seine Aussagen zu Medikamenten und Gesundheitsbereich u. a. auch auf einen nachgewiesenermassen unglaublich verzerrten Artikel in der New York Times beruft. (Times-Autor Nick Casey liess sich bei seiner Beschreibung von Spitalzuständen wohl von Dante Alighieri inspirieren: „Lasst, die ihr eintretet, alle Hoffnungen fahren“.)
Für den realen und dramatischen Medikamentenmangel für Nicht-Reiche macht Almagro „das Devisensystem, die von der Armee kontrollierten Häfen und Zölle und die mit Regierungsverträgen begünstigten Unternehmen“ aus. Gleichermassen weiss er: „Der Nahrungsmittelmangel ist Enteignungen wie jener von Lácteos Los Andes und schlechter Devisenzuteilung“ geschuldet. Nun, das Unternehmen Lácteos Los Andes operiert offenbar erfolgreich und exportiert schon nach Bolivien. Zum Argument Devisenmangel hält Misión Verdad gestützt auf Angaben des Industrieverbands Conindustria fest, dass 60 % der privaten Import- und Produktionsunternehmen schon 2012, als der Ölpreis noch in der Höhe schwebte und die Unternehmen ungehinderte Selbstbedienung bei den staatlichen Importdevisen genossen, schon einen Rückgang von Produktion und Inventaren ankündigten. (Zum Thema „chavistische Misswirtschaft und humanitäre Krise“ s. auch Venezuela: Von Wirtschaft und Umsturz).