Publiziert von Beat Wehrle
am 28. März 2018
Abend des vergangenen 14. März wurde die brasilianische Menschenrechtsaktivistin und Stadträtin von Rio de Janeiro, Marielle Franco in ihrem Auto auf offener Strasse ermordet. Auch ihr Fahrer Anderson Gomes wurde Opfer des akribisch vorbereiteten Verbrechens.
Bild: Kundgebung in São Paulo zu Ehren von Marielle Franco: «Marielle, du bleibst gegenwärtig!». Foto: Yuri Salvador – UNE. (fotospublicas.com)
Marielle
lebte ihr Leben lang in der Favela da Maré, eines der grössten
Elendsviertel von Rio de Janeiro. Die 38 jährige Soziologin verstand
sich als Sprachrohr der Kinder und Jugendlichen der Favelas, welche
privilegierte Opfer der willkürlich agierenden Militärpolizei, ihrer
Todesschwadrone und der Drogenhändler sind. Sie engagierte sich für die
Rechte der Frauen und setzte sich für die mehrheitlich schwarze
Bevölkerung der Favelas ein. Seit dem Sturz der brasilianischen
Präsidentin Dilma Rousseff (August 2016) denunzierte sie wiederholt den
wachsenden Autoritarismus in Brasilien und kritisierte die militärische
Intervention in Rio de Janeiro, die durch den amtierenden
Putsch-Präsidenten Michel Temer im Februar in Rio gestartet wurde.
Am
28. Februar wird Marielle zur Vorsitzenden der Menschenrechtskommission
nominiert, welche die Intervention des Militärs überwachen soll. Am 10.
März denunziert sie die perverse Gewalt der Militärpolizei in der
Favela Acari und am 14. März wird sie durch ein Killerkomando
ausgelöscht.
Der
Tod von Marielle ist aber nur die Spitze des riesigen Eisberges der
Gewalt in Brasilien. Gemäss einer im vergangenen Dezember durch die
Organisation Small Arms Survey mit
Sitz in Genf veröffentlichten Studie sind im Jahr 2016 weltweit 560.000
Menschen durch Gewaltverbrechen getötet worden. 99.000 (18%) in den
verschiedenen Kriegsherden der Welt. Die Mehrheit der Opfer verlor ihr
Leben jedoch ausserhalb der Kriegszonen (82%), über 70.000 Menschen
(12%) alleine in Brasilien. Der Anteil Brasiliens an der Weltbevölkerung
beträgt aber weniger als 3%. Mit über 190 Morden pro Tag steht
Brasilien in absoluten Zahlen weltweit an erster Stelle und übertrifft
jede der aktuellen Kriegsregionen der Welt, selbst Syrien.
Gemäss
Analyse der Vereinten Nationen (UNODC – United Nations Office on Drugs
and Crimes) ist nicht nur die absolute Zahl brasilianischer Opfer von
Gewaltsverbrechen erschreckend. Noch erschüttender ist die Tatsache,
dass 45% der Opfer Kinder und Jugendliche sind und 66%
afrobrasilianische Herkunft haben.
Das Bild des Schreckens wird durch eine anfangs März publizierten Studie der mexikanischen Organisation Seguridad, Justicia y Paz vervollständigt.
Jährlich produziert sie ein Ranking der Gewalt in Städten mit über
300.000 Einwohner ausserhalb der weltweiten Kriegszonen. Innerhalb der
weltweit 50 gewalttätigsten Städte liegen 43 in Lateinamerika und 17
alleine in Brasilien. Bezeichnend ist, dass Rio de Janeiro nicht zu
diesen 17 Städten gehört. Dies zeigt klar, dass die Gewalt kein auf Rio
fokussiertes Problem ist, sondern längst zu einer nationalen
Herausforderung geworden ist.
Bild: Militärintervention in Rio de Janeiro. Foto: Fernando Frazão – Agência Brasil (fotospublicas.com)
Trotz dieser gewaltigen Wirklichkeit Brasiliens kommunizierte im vergangenen Dezember der Schweizer Rüstungskonzern RUAG sein
Vorhaben, 2018 eine Munitionsfabrik im brasilianischen Bundesstaat
Pernambuco aufbauen zu wollen. Im Nordosten Brasiliens also, wo sich der
Grossteil der 17 gewaltigsten Städte Brasiliens konzentriert. Im
Versuch diese absurde Millioneninvestition zu rechtfertigen, gibt RUAG
sehr schnell an, die produzierte Munition werde selbstverständlich nur
an den offiziellen Sicherheitsapparat Brasiliens verkauft.
Die
Munition, welche Marielle ermordete, wurde 2006 an die brasilianische
Bundespolizei (Polícia Federal) verkauft und wurde ebenfalls beim
grössten Massaker in São Paulo im vergangenen Jahr gefunden. Wer
Brasilien auch nur ein klein wenig kennt, weiss ganz genau, wie stark
der offizielle (Un)Sicherheitsapparat mit dem organisierten Verbrechen
verfilzt ist.
Wer
sich also trotz dieser überwältigenden Daten und Fakten für eine
Munitionsfabrik in Brasilien entscheidet, stützt sich entweder auf eine
oberflächliche, die Realität ignorierende Analyse, oder orientiert sich
ausschliesslich am Kriterium des potenziellen Profites. Beide Szenarien
sind ethisch unhaltbar und sind für einen gänzlich bundeseigenen Konzern
nie und nimmer zu rechtfertigen.
Die
Möglichkeit einer Schweizer Munitionsfabrik in Brasilien entstand nur,
weil RUAG mit dem brasilianischen Putsch-Präsidenten Michel Temer die
Aufhebung des Jahrzehnte alten Staatsmonopols verhandelte. Michel Temer
ist derselbe, der die grossen Erfolge der Armutsreduktion vergangener
Jahr durch Kürzung und Auflösung strategischer Sozialpolitik wieder
rückgängig macht.
Kurz
vor ihrem Tod hat Marielle Franco in einem Artikel gefragt, wieviele
Menschen noch sterben müssen, bis dieser Krieg endlich ein Ende findet.
Angesichts der aktuellen Lage Brasiliens werden es noch viele sein. Und
in Zukuft durch Munition aus der Schweiz.
Beat
Wehrle (53) ist Sozialarbeiter und Theologe. Zwischen 1985 und 2016
arbeitete er in sozialen Projekten in São Paulo, Brasilien. Seit Oktober
2016 lebt er mit seiner Familie in Bogotá (Kolumbien) und koordiniert
die Projektarbeit von terre des hommes Deutschland in Lateinamerika.
Kontakt: b.wehrle@tdh- latinoamerica.de