(zas, 8.2.20) Hat ein
akuter Staatsstreich begonnen oder handelt es sich um eine erpresserische «Show»-Episode
in einem Putsch in Zeitlupe? Noch bleibt die Frage offen.
Gestern Mittag tweetete
Staatspräsident Nayib Bukele dem Parlament eine Order: «Die Parlamentsabgeordneten werden sich diesen Sonntag um 15 h
einfinden, um über die Finanzierung der Phase 3 des Plans Territorialkontrolle
abzustimmen. Dies beschloss der Ministerrat.» Es geht um die $109 Mio. für
eine weitere per Verschuldung zu finanzierende Etappe des angeblichen Plans
Bukeles zur Verbrechensbekämpfung. Nach wie vor weigert sich die Regierung,
genauere Angaben zur Verwendung der angeforderten Mittel zu machen. Im Beitrag
gestern gibt es zu diesem Plan und seinem Kontext kurze Informationen[1].
Das noch von den traditionellen Rechtsparteien dominierte
Parlament reagierte mit der Ankündigung, gestern Freitag in der zuständigen
Kommission das Kreditproblem zu behandeln und für nächsten Montag eine neue
Gesamtsitzung einzuberufen. Die Parlamentsführung verwies auf die
Gewaltenteilung und auf die Verfassungsbedingung für eine Einberufung durch den
Präsidenten nur im Fall einer nationalen Bedrohung (Erdbeben, Krieg o. ä.) Bukele
reagierte umgehend. Einerseits verschickte er per Twitter die Nachricht, das
Parlament stelle sich gegen die Verfassung, und drohte: Die
Abgeordneten «sind per Verfassung
verpflichtet, der ausserordentlichen Sitzung beizuwohnen. Wenn jemand die
Verfassungsordnung bricht, hat das Volk den Artikel 87.» Also das Recht auf
Aufstand «mit dem einzigen Ziel, die
verfassungsmässige Ordnung wiederherzustellen» (Verfassungsartikel 87).
Wenig später rief
er gestern «das salvadorianische Volk»
dazu auf, «diesen Sonntag um 15 h zum
Parlament zu kommen und Zeuge der Sondersession für die Abstimmung» über
den 109-Mio.-Antrag zu sein. Dazu gehört «selbstverständlich» die in den
Ministerien etc. erteilte Anweisung an sämtliche Angestellten, sich morgen an
der «Volksmobilisierung» zu beteiligen, wie direkte Aussagen aus verschiedenen
Staatsinstitutionen belegen. Hintergrund: Allgemein zirkuliert die Angst, selber
von den laufenden, vermutlich vom IWF «angeregten» Entlassungszyklen erfasst zu
werden. Hinzu kommen wohl Schlägertrupps aus dem Bukele-Lager plus, auf keinen
Fall zu unterschätzen, auch unorganisierte Mengen von Leuten, die ihrer
Lichtgestalt die Treue erweisen wollen. Gestern Nacht tweetete
er «Die Stunde ist da, unseren Schwur zu
erfüllen», begleitet von einer immer noch erschreckenden Videoaufnahme von
seinem Siegesmeeting nach den Präsidentschaftswahlen vor einem Jahr. Da liess
der neue Duce seine AnhängerInnen in adäquatem städtebaulichem Set ihr Engagement
für ein ganz neues El Salvador mit einem Schwur bekräftigen.
Bildunterschrift hinzufügen |
Zeremonienmeister und Schwurgemeinde |
Das Bukele-Lager mobilisiert parallel auch seine Drohmeute
im «Kommunikationsbereich». Nur ein Beispiel für eine andauernde Lawine: Walter
Araujo. Der Mann war jahrelang Präsident der damals regierenden Ultrapartei
ARENA, des Parlaments und danach des Wahlgerichts, heute hardcore-Bukelista. In
seinem Programm auf Youtube und Facebook drohte er gestern den «Ratten»,
den Angeordneten. Wenn sie am Sonntag nicht täten wie geheissen, würde das Volk
sie absetzen, stürzen, vertreiben und ersetzen. Jetzt sei der Moment des
totalen Umschwungs gekommen.
Um die Ernsthaftigkeit seines «Bemühens» um Sicherheit zu
unterstreichen, zog Bukele gestern alle polizeilichen, aber aus den jeweiligen
Lagern stammenden Bodyguards der Abgeordneten von FMLN und ARENA zurück, um sie an einem Punkt für den
Kampf gegen die Maras zu konkretisieren. Interessanterweise gegen Mitternacht
gingen die Polizeipatrouillen los, um an den Wohnadressen der ParlamentarierierInnen
nach diesen Leuten zu fragen. Eine Machtdemonstration. Heute kontrolliert die Armee
die Parlamentszone und errichtet davor Tribünen etc. für das morgige Spektakel. Im Gegensatz zur Polizeiführung, die ab heute alle Urlaubsbewilligungen für
unbestimmte Zeit gestrichen
hat, ist von der Armeeführung ansonsten nichts zu hören.
Polizeiorder: Alle Kräfte sammeln. |
Die aktuelle FMLN-Führung meldete sich erst heute später
Vormittag zu Wort. Generalsekretär Óscar Ortiz rief
«die Mitglieder des FMLN, das Volk und
seine Organisationen zu Wachsamkeit und Kampfbereitschaft» auf. Andererseits
wird in Gesprächen usw. ein deutlicher Wunsch von Vielen deutlich, sich nicht
alles gefallen zu lassen und wieder Gegenmacht auf der Strasse zu zeigen. Aber
das läuft hier nicht einfach spontan, das will organisiert und vermittelt sein,
heute, morgen, übermorgen.
Laut den letzten Berichten scheint die klassische Rechte
sich im Parlament dem neuen Regime auch heute schrittweise zu unterwerfen. So
hat sie für heute Nachmittag (Nacht in Europa) eine ausserordentliche Session angekündigt
und will spätestens nächste Woche über den $ 109-Mio.-Kredit abstimmen lassen.
Anscheinend hat die parlamentarische Finanzkommission heute schon ihre
Zustimmung beschlossen.
Durchaus möglich also, dass es morgen keine «Erstürmung» des
Parlaments geben wird, womit der «Marsch auf Rom» aber nur verlängert, nicht einfach
abgesagt sein wird. Wichtig wäre eine Einschätzung, wie weit die USA gehen
wollen. Seit Botschafter Johnson gestern seine Unterstützung für den Plan
Territorialkontrolle mitgeteilt hat, eine klare Unterstützung für Bukeles
Agieren, herrscht Funkstille. Wie sehr Bukele an Washingtons Gängelband geht,
ist vor vier Tagen wieder deutlich geworden. Er gab damals bekannt,
dass eine Equipe um den Harvard-Ökonomen Ricardo Hausmann einen nationalen
Entwicklungsplan ausarbeiten werde. Hausmann ist eine berüchtigte Söldnerfigur Washingtons
in Lateinamerika. Interessanterweise attestierte
dagegen die Amcham El Salvador (US-Handelskammer) vor zwei Stunden Bukeles
Vorgehen eine «negative Auswirkung auf den
demokratischen Prozess».
Ein Letztes noch: Gerade höre ich, dass die kleinen
Gemeindetreibenden in der Nähe morgen an den Marsch gehen wollen, weil sie die
Schnauze voll von herumstreunenden Mareros haben. Während das Bukele-Regime
seine Riesenerfolge gegen die Maras permanent zelebriert, verschlechtert sich
die Lage auch in diesem unteren Mittelklassenquartier in San Salvador. Doch offenbar
sind dafür jene verantwortlich, die dem guten Bukele nicht bereitwillig alle
Kohle hinterherwerfen, die er verlangt. Dies, nachdem er schon Unmengen Geld zusätzlich
zum ordentlichen Sicherheitsbudget erhalten hat, über die er keine Auskunft
gibt, dies, nachdem gerade vor einigen Tagen führende Regierungsvertreter von
observierenden Polizisten vor Gericht beschuldigt wurden, im Auftrag Bukeles,
damals Bürgermeister von San Salvador, mit den Maras verhandelt zu haben.
[1]
Und hier gleich eine Korrektur zum gestrigen Post: Vom 1. Juni 2019 bis 31.
Dezember 2019 bekam Nayib vom Parlament die Bewilligung zu einer
Neuverschuldung von über $ 600 Mrd. Anders als gestern geäussert, sind aber
zwei angebliche Sicherheitskredite, nicht bloss der letzte Antrag, vom
Parlament noch nicht bewilligt worden. Das wäre der besprochene
$109-Mio.-Antrag sowie ein früherer von $ 91 Mio. Dieser letztere beinhaltet in
seinem vom Finanzminister dem Parlament erläuterten „Begründung“ keine Hinweise
auf Ausgaben im Bereich Sicherheit, also Kampf gegen die Gewaltkriminalität.
Der seither hinzugekommene Antrag von $ 109 Mio. gibt zwar generisch Angaben zu
diesem Bereich (etwa $ 25.9 Mio. für „Infrastrukturausrüstung und Videoüberwachung»
etc.), ohne diese aber eingehender zu spezifizieren.