El Salvador: Zwischen Delirium und Diktatur I

Sonntag, 19. April 2020


(zas, 19.4.20) In El Salvador kommt es zu immer diktatorischeren Vorkommnissen, jetzt im Zeichen der Covid-19-Epidemie. Im Folgenden Teil I eines Beitrags dazu. Darin geht es um Realitäten der «gesundheitspolitischen Bekämpfung» der Epidemie. Teil II geht dann ein auf eine entstehende schwere Staatskrise  und auf fast täglich gesteigerte Repression - aktuell etwa setzt die Armee im Städtchen Puerto La Libertad eine drakonische Ausgangsperre durch.
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Am 26. März veröffentlichte der Lateinamerika-Arm des US-Meinungsforschungsinstituts Mitofsky eine in 11 Ländern durchgeführte Umfrage, wonach 97 % der SalvadorianerInnen (!) das Vorgehen ihres Präsidenten Nayib Bukeles in Sachen Covid-19-Epidemie echt cool finden – 89 % wären es im zweitplatzierten Guatemala (cómo no) und ganze 14 % im Schlusslicht Ecuador, wo sich in der Wirtschaftsmetropole  Guayaquil Szenen mit Leichen auf der Strasse wie im Horrorfilm abspielten. Danach waren Medien wie BBC Mundo voll des Staunens ob des Tausendsassas im kleinen Land, der den Grossen vormacht, wie die Sache angepackt wird. Dass auch Linke für die Massnahmen Bukeles im Epidemiekontext schwärmen, belegt die Stärke der Propaganda und zeigt, wie auch unsereins anfällig für Manipulationen ist.

Der Doktor der Nation erklärt
Kommen wir zuerst auf das missionarische Sendungsbewusstsein hinter den Epidemiemassnahmen:
Bukele liebt die cadena nacional, also die Parallelschaltung sämtlicher Radio- und Fernsehsender zur Übertragung einer präsidialen Ansprache wie jene vom 6. April. Er betonte darin die Anweisung an Polizei und Armee, Leute, die das Ausgehverbot missachten, noch härter anzufassen. Und natürlich: Wenn es ein Land schafft, die Corona-Pandemie im Zaum zu halten, dann El Salvador. Drittens: SalvadorianerInnen im Ausland werden fortan nicht mehr ins Land gelassen. «Manche Länder sagen, sie hätten das tun müssen, was El Salvador tat», teilt der Presi mit. Dafür gab es «viel Applaus von der internationalen Gemeinschaft.» Und er zählte auf: Schon am 31. Januar hat El Salvador als erstes Land Einreisen aus China, danach aus Korea, Italien, Deutschland und Spanien verboten. Als zweites Land nach Italien hat es seine Grenzen generell dicht gemacht (aber, betont Bukele, Italien erst mitten in der Grossepidemie, nicht zu ihrer Verhinderung). Das war in der Phase 1, die Ansteckungen wurden importiert. Jetzt, in der Phase 2, erfolgen die Ansteckungen auch landesintern. El Salvador startet darin mit einem grossen Vorteil:  mit viel weniger Fällen als fast überall sonst, dank der bewunderten Massnahmen.
In der Phase 2 machen, weiss der Bescheidene, die anderen Regierungen nichts. Denn sie sagen: «Jetzt können wir das Virus nicht mehr stoppen, bloss seine Ausbreitungsgeschwindigkeit solange etwas reduzieren, bis 60-70 % der Bevölkerung immun sind.» Für El Salvador hiesse das, Hunderttausende von Tote in Kauf zu nehmen, «mehr als in den 12 Jahren Bürgerkrieg und den drei Jahrzehnten Bandenkriminalität zusammen» (für die Welt mehr Todesfälle als «in den beiden Weltkriegen zusammen».) Aber Bukele hat Besseres im Sinn: In jedem Einzelfall sämtliche Kontakte der kranken Person eruieren und in Quarantänelager zu stecken, bis der Test sinnvollerweise gemacht werden kann. Sind sie infiziert, gibt es bei ihnen wiederum das contact tracing und so weiter. Infizierte kommen in spezielle medizinische «Behandlungshäuser» und je nach Lage in gut vorbereitete Spitalpflege. Quarantäneeinrichtungen gibt es im Land rund 100 Stück – er erwähnt ehemalige oder leerstehende Hotels mit Einzelzimmer, Privatbad, TV, Internet etc.
Phase 3: Da gibt es nur noch eine generalisierte Ausgangssperre und medizinische Behandlung. «Darauf bereiten wir uns vor, sehr viel mehr als Länder mit vergleichbaren Gesundheitssystemen. Aber wir wollen etwas Neues machen und die Phase 2 stoppen, oder zumindest so sehr, wie wir es mit der Phase 1 gemacht haben.»
Er widerlegt en passant «berühmte Virologen und Epidemiologen» und «Think Tanks», die sagen, die Ansteckungskurve werde in einem bestimmten Moment flacher werden. Wie macht er das? «Mit gesundem Menschenverstand». Was sagt ihm der? Je weniger Infizierte, desto weniger Ansteckungen. Also betritt er mit social tracing Neuland für die Phase 2, um den Kollabs des Gesundheitswesens in der Phase 3 möglichst zu vermeiden. Mit den Kurven der internationalen Experten muss man ihm nicht kommen: Wenn 60'000 Infizierte rumlaufen, stecken sie weitere 60'000 an und diese wiederum 60’000, unabhängig davon, was die Kurven sagen. Jedenfalls: «Die einzige Möglichkeit, dass wir das einzige Land sein können, das die Phase 2 stoppt, ist mit der Kollaboration von Ihnen allen.»

Massnahmen
Die erwähnten Einreisesperren gehören, unabhängig von der Frage ihrer Effizienz, ins repressive Repertorium. Das Problem: Auch die medizinischen Massnahmen sind repressiv ausgerichtet, so was wie freiwilliges Verhalten auf informierter Basis kommt dem Regime nicht in die Tüte. Ab dem 11. März kamen alle auf dem Land- oder dem Luftweg Einreisenden (eh nur noch BürgerInnen und andere mit Niederlassungsbewilligung) für 30 Tage in Quarantänezentren (die sind laut Gesundheitsminister und Cousin des Präsidenten, Francisco Alabi, viel besser als anderswo). Und hier begann ein grosses Problem, das sich seither verschärft hat. Schon am 11. März zirkulierten Handyaufnahmen vom «Quarantänezentrum» beim Flughafen: fast kein Wasser, keine Seife, viele Betten auf engstem Raum, zu wenige, dafür verdreckte WCs etc.

Quarantänezentrum beim Flughafen. Quelle: EdH, 11.3.20
Nachdem Mitte März das Spital Saldaña in San Salvador zur Behandlungszentrale für mutmassliche oder reale Covid-19-Erkrankte gemacht wurde, werden immer mehr schockierende Berichte über Lagerhaltung und fehlende medizinische Betreuung bekannt.).
Massiv verschärft hatte sich die Lage mit der von Bukele betriebenen und von der rechten Parlamentsmehrheit (aber nicht vom FMLN) am 14. März angenommenen Ausrufung des Ausnahmezustands. Gestützt auf die darin enthaltenen Vollmachten zur Aushebelung von Grundrechten wie freie Wahl des Wohnorts oder Bewegungsfreiheit verhängte die Regierung ab Sonntag, den 22. März, eine landesweite Ausgangssperre für die immense Mehrheit der Bevölkerung. Ausgenommen sind nur gewisse Berufsgruppen im Gesundheitsbereich, den Supermärkten und anderen unabdingbaren Sparten wie der Landwirtschaft. Pro Haushalt darf eine Person einmal am Tag einkaufen gehen (mit Personalausweis, einer Eigenbewilligung mit Angabe des Zeitpunkts des Verlassen der Wohnstätte und einem Einkaufszettel). Auch Ärztin- oder Tierarztbesuche sind erlaubt. Bukele hatte dies am 21. März per Twitter angeordnet. Schon am ersten Tag des Ausgehverbots zirkulierte ein Video mit der Anweisung eines hohen Polizeioffiziers an das Korps: «Wir müssen bei diesen Leuten für Ordnung sorgen.» Polizei und Armee taten dies mit der Verhaftung gleichentags von 269 Leute, die das Ausgehverbot missachtet haben sollen.
Das Parlament hatte am Tag vor seinem Segen zum Ausnahmezustand einstimmig, also mit den Stimmen des FMLN, ein Regierungsdekret zum Notstand genehmigt.  Das gibt der Regierung weitreichende Vollmachten für den Kampf gegen die Virusausbreitung, etwa das Verbot öffentlicher Anlässe und Ansammlungen, zur Beschränkung der Bewegungsfreiheit möglicher Infizierter (aber unter Zuständigkeit einer zivilen Instanz, des Zivilschutzes, nicht von Polizei/Armee) oder zur Anordnung einer Quarantäne von Covid-19-Infizierten (aber unter Beachtung internationaler Gesundheitsstandards) u. a. Die juristische Berechtigung für gesundheitspolitische Massnahmen wäre also gegeben gewesen. Aber unter Kontrolle ziviler Instanzen – unerwünscht!

«Espejitos con brillo»
Für die Verhängung einer Ausgangssperre braucht es auch in El Salvador mit seiner Mehrheit der Bevölkerung, die von der Hand zum Mund lebt, gewisser lindernder Massnahmen. Hier dürfte einer der Gründe liegen, warum auch progressive Menschen wieder mal espejitos con brillo, glänzende Spiegelchen, für segensreich halten. Ein dem Parlament vorgelegtes Regierungsdekret beinhaltete nämlich u. a. die Suspendierung der Rechnungen für Strom, Wasser und Telefon (inkl. Kabel und Internet) während dreier Monate, die in den folgenden zwei Jahren zu begleichen wären. Viele Regierungen in Lateinamerika haben solche Massnahmen bei meist viel sanfteren Einsperrungen der Bevölkerung ergriffen, andere kamen erst spät zur Einsicht (sogar der honduranische De-facto-Präsident Juan Orlando Hernández verkündete kürzlich, niemandem werde während der Epidemie der Strom abgeschaltet). Zudem gab Bukele bekannt, während dreier Monate rund 1.5 Millionen Haushalten, also etwa drei Viertel der Bevölkerung, pro Monat $ 300 auszuzahlen, damit sie Nahrungsmittel und Medikamente kaufen können. Die für die Information, ob man bezugsberechtigt sei oder nicht, aufgeschaltete Homepage versagte ihre Dienste von Anfang an.  Also tweetete Bukele spät nachts am Sonntag, dem 29. März: Man wende sich an das nächste Cenade, eine spezielle Dépendance des Wirtschaftsministeriums, um sich über die allfällige Bezugsberechtigung zu informieren. Resultat: Vielleicht Zehntausende standen am folgenden Tag mitten in der Ausgangssperre landesweit vor den Cenades. Diese waren dem Ansturm natürlich nicht gewachsen, Bukele liess sie umgehend schliessen. 
Vor dem Cenade von San Salvador.
In vielen Haushalten hatte die weitgehende Stilllegung Existenznöte verursacht. $ 300 haben oder nicht haben war eine Schicksalsfrage. Es kam da und dort zu tumultartigen Szenen, die Sicherheitskräfte schafften «Remedur». Was wusste das Regime zu kommentieren? «Politische Drahtzieher» haben die Menschen für Chaosaktionen bezahlt. Beweis: Whatsapp-Einträge in Handys von Verhafteten (die alle von der Staatsanwaltschaft bald auf freien Fuss gesetzt worden waren), so Sicherheitsminister Rogelio Rivas. Rivas hat der ermittelnden Staatsanwaltschaft nicht einen solchen Eintrag vorgelegt. Aber dafür tweetete er gerade wieder: «Nach und nach werden die Agitatoren und möglichen Financiers» der Unruhen klar, «die mitten in einem Notstand das Leben der Personen gefährden. Man darf von diesen Feiglingen nichts anderes erwarten, denen es gleich ist, mit dem salvadorianischen Volk zu spielen.»

Politgerangel um die Beute
Nicht etwa Bukele also habe die Leute vor die Cenades bestellt und damit das Risiko von Massenansteckungen deutlich erhöht (was sich in diesen Tagen zu bewahrheiten scheint), nein, die Schuldigen sind die üblichen Ruchlosen. In dieser Frage weiss das Regime zu differenzieren. Gemeint sind sowieso die Leute des FMLN, aber je nach Lage auch jene Teile der traditionellen Rechtsparteien, die sich nicht einfach unterordnen. Dahinter steckt ein Konflikt zwischen einer alten, aber jetzt gespaltenen Oligarchie und einer auf Oligarchie-Status aspirierenden Fraktion der Bourgeoisie mit Bukele als Galionsfigur, die sich mit Staatsgeldern stark machen will. Das hatte schon früher ein Teil von ARENA und Financiers um den Ex-Präsidenten Tony Saca vorgemacht, jener Teil, der die Gründung der GANA-Partei betrieb, die letztes Jahr dann Bukele als Präsidentschaftskandidat portierte.
Jetzt geht es um eine $ 2 Milliarden-Beute. Bukele hatte parallel zur Verhängung der Ausgangssperre vom 22. März einen Covid-19-Notfonds in dieser Höhe angeregt (zwischendurch sollte der Betrag auf $ 5 Mrd. erhöht werden). Eine erkleckliche Summe angesichts eines Staatsbudgets von rund $ 6 Mrd. Um diese Schulden bei Internationalen Finanzinstituten oder Privatbanken aufzunehmen, bedurfte die Regierung einer 2/3-Mehrheit im Parlament, womit die Faktion der Rechtspartei ARENA matchentscheiden war.
Eine Mehrheit im Parlament wollte Kontrollmechanismen für den Notfonds anbringen (dies nach schamlosen Budgetbetrügereien, während gleichzeitig von 45 Sozialprogrammen ein Drittel gestrichen und weitere 5 gekürzt wurden, darunter im Bereich der Primärmedizin). Das mochte der Verhandlungsleiter der Regierungsequipe, Bukeles Privatsekretär Ernesto Castro, nicht leiden. Er meinte am 23. März, im Parlament wolle man «einen Bericht mit allen Details jede Woche, alle drei Tage … Mann, es reicht mit dieser Haltung!» Drei Tage später steig weisser Rauch auf: ARENA und die Regierung hatten sich auf einen Schlüssel für die Verteilung der Summe geeinigt (30 % für die Gemeinderegierungen, 70 &% für die Zentralregierung). Ein 11-köpfiges Verwaltungskomitee beschliesst und prüft die Verwendung der $ 2 Milliarden (die wegen der damit steigenden Verschuldung bei gleichzeitigem Wirtschaftseinbruch jetzt offenbar über teure kurzfristige Schuldscheine aufgenommen werden müssen). Das Komitee, geleitet von Castro, besteht aus einer entscheidungsbefugten Mehrheit von 6 RegierungsvertreterInnen, weiter 4 VertreterInnen des Kapitals (Unternehmerverband ANEP, Unternehmerthinktank Fusades, Handelskammer, neoliberale Businessuni ESEN) und zur Zierde einem Delegierten der Jesuitenuniversität UCA. Der FMLN-Vorschlag des Einbezugs der staatlichen Uni UES und der KMU-Vereinigungen hatte keine Chancen. Ob etwa die Gemeinden überhaupt Geld sehen vor dem «Ende» der Pandemie, scheint ebenso unklar wie wofür genauer das Geld ausgegeben werden soll, ausser den erwähnten Beiträgen an notleidende Haushalte (deren Auswahl nach dem Kriterium ihres Stromverbrauchs erwiesenermassen nur bedingt tauglich ist). Zusammengefasst: Die Beute wird zwischen eingesessener Oligarchie (ANEP etc.) und den am Staatsschoss hängenden «Nouveaux Riches» aufgeteilt. Als Bukele am 21. März die Ausgangsperre bekanntgab, sassen US-Botschafter Ronald Johnson und Oligarchieexponent Roberto Murray Meza, ein früherer ARENA-Parteichef, prominent an seiner Seite und ergriffen danach das Wort zur Unterstützung der Sache.
Bukele und Murray Meza bei Bekanntgabe der Ausgangssperre.

Ansteckungslager
Seit einiger Zeit sind die salvadorianischen Medien (nicht nur die «sozialen») voll von Geschichten über Willkür der Sicherheitskräfte und die erbärmlichen Zustände in den «Quarantäne- und Behandlungszentren». (Dass jetzt auch traditionelle Oligarchieblätter wie El Diario de Hoy darüber berichten, widerspiegelt den erwähnten Konflikt innerhalb des neoliberalen Lagers.) Da wäre die Geschichte von María und ihrer 10-jährigen Tochter. Zuerst im absolut überfüllten «Quarantäne»-Zentrum von Jiquilisco eingesperrt, kamen sie gegen Ende März in das Spital Saldaña bei der Hauptstadt, der offiziellen damaligen Covid-19-Zentrale. «Dort sahen die Mutter und das Kind, wie zwei junge Hospitalisierte halfen, ein mit Kaiserschnitt zur Welt gebrachtes Bebé  zu reinigen und wie ein Alter, der wegen einer Nicht-Covid-Diagnose hospitalisiert war, an sein Bett angebunden war ‘und sie kamen bloss, um ihm das Essen hinzustellen (…) Da, wo sie uns halten, gibt es nichts, kein WC-Papier, keine Seife, keinen Alkohol.’ Das WC hat keine Tür, die Dusche keinen Vorhang.» (Quelle: EdH, 29.3.20). 
"Quarantäne" in Jiquilisco. Quelle: EdH, 27.3.20
Da ist die Geschichte des 42-jährigen Kolumbianers Jhon Freddy Vasco, der in El Salvador lebt. Er wurde am 10. März nach einer Tagesreise nach Honduras in ein Quarantänezentrum gebracht; am 27. März wurde er auf Covid getestet – positiv.  Er kam mit vier anderen «Positiven» ins Spital Saldaña, wo sie mit anderen zusammengelegt wurden, die zwar auf Corona getestet wurden, aber nie ein Resultat bekamen (das gehört zu einem verbreiteten «Betreuungs»-Standard). Gemeinsam verlangten die Leute eine Trennung, was per Handy-Video eine grosse Öffentlichkeit erfuhr. Vasco war einer der Sprecher im Video. Das bukelistische Portal El Blog publizierte später, das Video stamme aus einem kolumbianischen Spital, was Bukele in seinem Twitter-Account aufnahm. Die Antwort Vascos: ein neues Video mit Aufnahmen von Behandlungsmaterial mit klaren Ortsbelegen. Im gleichen Bericht schreibt der Journalist: «Ich habe mit drei Ärzten und drei Krankenschwestern gesprochen, die zu dieser Pandemie arbeiten, um sie zu fragen, was im Saldaña vorgeht. Einer der Ärzte akzeptierte, zwei Minuten mit mir zu sprechen, unter der Bedingung der Anonymität. Unter der gleichen Bedingung akzeptierte das auch eine Krankenschwester. Sie erhielten vom Ministerium die Anweisung, mit niemandem zu reden. Den Krankenschwestern wurden frühere Veröffentlichungen in den Medien oder den Netzen vorgeworfen und mit Entlassung gedroht. Alle sagten: ‘Sprechen Sie mit den zuständigen Behörden.’» (Quelle: El Faro, 4.4.20).
Óscar Méndez war Handelsreisender für Arzneimittel gewesen. Am 13. März kehrte er von einem Businesstrip nach Panamá zurück und kam in die total überfüllte «Quarantäne»-Anlage Villa Olímpica und danach ins umfunktionierte Hotel Beverly Hills in einer noblen Gegend am Rand von San Salvador. In der Olímpica wurden Reisende aus vielen Ländern, darunter z. B. Italien, konzentriert. Hier bekam Méndez Fieber und starke Kopfschmerzen und wurde mit einem für leichte Infektionen tauglichen Antibiotikum gegen Blasenentzündung behandelt. Sein Zustand verschlimmerte sich auch im Hotel. Als er am 1. April keinen Anruf mehr beantwortete, begab sich seine Frau Dina zum Hotel, wo sie vergeblich Auskunft verlangte. Polizisten, die sich, als sie sich als Gattin von Óscar Méndez vorstellte, bloss ansahen, hinderten sie am Betreten des Hotels. Zur Stelle gelangte wegen des schon zirkulierenden Gerüchts eines Toten im Hotel auch Personal der staatlichen, aber regierungsunabhängigen Ombudsstelle für Menschenrechte (Procuradoría para la Defensa de los Derechos Humanos, PDDH). Ihnen versicherten Polizei und medizinisches Personal, es sei alles in Ordnung. Nachdem Dina Méndez drohte, die Medien einzuschalten, teilte ihr eine Funktionärin des Gesundheitsministeriums das Ableben ihres Gatten ohne Angabe von Ursachen mit. Die Familie erhielt die Habseligkeiten des Verstorbenen, darunter sein Handy, auf dem er einen erschütternden Anruf an den diensthabenden Offizier gespeichert hatte, den er anflehte, dafür zu sorgen, dass ein Arzt zu ihm komme. Einer kam anderthalb Stunden später und fand Méndez tot auf. Der Anruf ging viral. Nachträglich gab das Gesundheitsministerium einen Herz- und Atemstillstand als Todesursache bekannt. Dina Méndez gab später im Beisein des Menschenrechtsombudsman eine Pressekonferenz zum tragischen Geschehen. Sie versicherte u. a., ihr kerngesunder Mann sei in der Ólimpica angesteckt worden. Diese Öffentlichkeit verdross den Präsidenten: «Warum das Leiden einer Frau wegen des Verlusts ihres Gatten instrumentalisieren? Diese Familie leidet und wird jetzt von der Opposition instrumentalisiert.»
Dian de Méndez vor dem Saldaña.
Zwei nur mit Pseudonymen zitierte Frauen berichten über die Zustände im Saldaña. Denn, so Felipa: «Ich will weder das Leben noch meine Stelle verlieren. Hier kommen sie und sagen mir nichts, dir nichts: ‘XY, Sie gehen in LUCHA 1 [die Eintrittsstation für mögliche Covid-Infizierte] zurück, wo ich mich anstecken kann. Ich schwöre, dazu sind sie fähig.’» Eine andere Frau, Lana, berichtet über Verlegungen in andere Stationen des Saldaña, «alle ekelerregend»): «Sie machen alles in der Nacht. Sie stecken uns in fensterlose Krankenwagen. Wir wissen, dass wir noch im Saldaña sind, weil die Fahrten extrem kurz sind und wir von hier aus das andere Gebäude sehen können.» (Die permanente Desinformation der InsassInnen scheint nach vielen Berichten System zu sein. Es scheint willkürlich, ob du getestet wirst oder nicht. Und wenn, ob du das Resultat mitgeteilt bekommst oder nicht. Wie schlimm das sein kann, zeigt dieses Beispiel aus dem gleichen Artikel:) Zwei Söhne brachten ihren 86-jährigen, chronisch lungenkranken Vater ins Saldaña. Er wurde dort hospitalisiert, die Söhne kamen in einer anderen Abteilung in Quarantäne. Der Vater starb auf der Station LUCHA 1. Jemand von dort telefonierte in eine andere Abteilung und so erfuhren die Söhne vom Tod ihres Vaters. Eine Person, die weder Geschlecht noch Namen genannt haben will, berichtet: «Als wir davon erfuhren, standen wir auf und begannen zu schreien und die Zustände zu verfluchen. Dabei bekamen wir mit, dass die Haupttüre mit Schloss und Ketten gesichert war. So halten sie uns, eingesperrt mit Ketten und Schloss.» (Quelle: LPG, 28.3.20).
Rolando Cedillos, im Spital Rosales, dem grössten im Land, seit vielen Jahren zuständig für den Bereich Infektiologie, meinte: «Die Mehrheit der Ärzte kennt die Schutzkleidung nur aus den Tagesschauen (...) Das gilt auch für die Spezialisten.» Dass ein Bukele ihn nur als Kurvenzeichner wahrnehmen kann, zeigt er auch mit folgenden Aussagen im Zusammenhang mit Ratschlägen, wie im Alltag mit Covid-Kranken umgegangen werden soll: «Wir brauchen die Kooperation der Bevölkerung, nicht ihre Angst.» Und er fordert den Präsidenten auf, eine Conora-Strategie mit Fachleuten zusammen zu entwickeln. (Diese Forderung ist breit getragen, doch scheitert sie am «gesunden Menschenverstand» des Regimes.) (Quelle : El Faro, 8.4.20).
Seit Tagen berichten die Medien von Zwangsquarantänen für medizinisches Personal verschiedener Spitäler, das sich bei der Arbeit angesteckt hat. Und seit einigen Tagen protestieren InsassInnen von Quarantänezentren, die nach teilweise schon 39 Tagen ihre Freilassung erflehen oder fordern. Bekannt wurde etwa der Protest vom letzten Freitag im Hotel Beverly Hills, wo die Leute wie in anderen umfunktionierten Hotels 24 Stunden am Tag in ihren Zimmer eingeschlossen sind. In einem Video hört man sie rufen, dass sie Familie haben, gesund seien und ihre Freilassung fordern. Man sieht, wie sie Papiere mit handgeschriebenen Botschaften, eines als Papierflugzeug, zu den Fenstern rauswerfen. Und wie antwortete Bukele? So: «Glaubt jemand, wir wollen sie zum Plausch in 4-Sterne-Hotels zurückhalten? Nein, einige sind möglicherweise positiv. Andere hatten Kontakt mit Positiven. Sie rauszulassen hiesse, das Virus zu verbreiten. Zudem mache ich mir um die Leute Sorge, die dieses Video [ausgestrahlt auch im grössten Fernsehsender] editiert haben. Die Papiere und das «Flugzeug» waren sehr wahrscheinlich mit Covid-19 verseucht. Damit haben wir einen potentiell Infizierten, der weitere Leute anstecken könnte und diese ihre Familien.»
Papierflieger aus dem Beverly Hills.
4-Sterne-Hotel für privilegierte Unverantwortliche, die eventuell ihre Viren verbreiten – nicht das erste Mal ein Diskurs der «Aussätzigen», für die eine nicht enden wollende Quarantäne angesagt ist.