Venezuela: Der Kampf ums Wohnen

Mittwoch, 3. Februar 2016



(zas, 3.2.16) Über eine Million Sozialwohnungen hat der Chavismus in Venezuela erbauen lassen, einen Teil davon zugunsten von Mittelschichtshaushalten. Dafür hat er staatliche Öleinnahmen „verschwendet“; zum Teil stehen die Wohnungen und Häuser auf enteignetem Terrain. Am 28. Januar 2016 hat die neue parlamentarische Mehrheit der Rechten unter Federführung ihres „gemässigten“ Exponenten Julio Borges von der Partei Primero Justicia in erster Lesung ein Gesetz verabschiedet, das die Wohnungslage dramatisch verändern soll. Die WohnungsinhaberInnen sollen, so die Schein-Argumentation von rechts, frei über ihr Eigentum verfügen und es, wenn gewünscht, verkaufen dürfen. Doch gegen dieses Gesetzvorhaben, das Präsident Maduro bestimmt mit einem Veto belegen und das anschliessend dem Obersten Gericht vorgelegt werden wird, scheint sich realer Widerstand auf den Strassen zu entwickeln. 

Sozialwohnung. Quelle: Últimas Noticias, 1.2.16
Es geht um sehr viel.

Laut bisherigem Gesetz (s. dazu die Erläuterungen des früheren Wohnungsministers Ricardo Molina in Últimas Noticias, 1.2.16) müssen die Unterklassenhaushalte die bezogenen staatlich errichteten Wohnungen, die im Vergleich zur vorherigen Situation beträchtlichen Komfort aufweisen, in an ihre Einkommen angepassten Raten abzahlen, was sehr lange Abzahlungsfristen beinhalten kann. Den Preis bestimmen die Baukosten. Es handelt sich also nicht um einen spekulativen Marktpreis, und auch die Wohnlage hat keinen Einfluss – viele Sozialwohnungen wurden in enteigneten Mittelschichtsquartieren errichtet. Bei Bezug der Wohnungen erhalten die Leute eine Zuweisungsbescheinigung und sind damit vor Rauswurf geschützt. In den ersten 5 Jahren dürfen sie ihre Wohnung verkaufen, sofern diese abbezahlt ist, ABER der Staat hat ein Vorkaufsrecht.  Danach dürfen die Haushalte die im übrigen innerhalb der Familien vererbbaren Wohnungen frei verkaufen, aber nur zu ihrem ursprünglichen Erstehungswert.  

Im Fall der Mittelstandswohnungen gelten andere Bestimmungen. Hier kommen von Privatbanken gewährte Hypokredite ins Spiel, was bei Zahlungsstopp die Enteignung der Wohnungen zugunsten der Banken bedeuten kann.

Das „Gesetz über die Erteilung von Besitztiteln zugunsten der Begünstigten der Gran Misión Vivienda Venezuela“ (GMVV, Grosse Mission Wohnung Venezuela), wie die Rechte ihr Vorhaben nennt (download hier), bedeutet eine Liquidierung des sozialen Gehalts der chavistischen Wohnungspolitik. Für den Soziologen Franco Vielman wie für die aufkommende Protestbewegung impliziert es eine Neubewertung der Immobilien nach Marktpreisen, welche die WohnungsinhaberInnen zu EmpfängerInnen eines Zwangshypokredits machen würde. Vielman schrieb vorgestern in Lee aquí si tienes una vivienda de la Gran Misión:

Vor einigen Tagen war es so: Du lebst in einer Wohnung im Familienbesitz. Du hast eine Zuweisungsbescheinigung oder einen Familienbesitztitel, die nicht übertragbar sind; genau so wenig wie deine Wohnung für kommerzielle oder Profitzwecke dienen kann, auch nicht für ihren Verkauf oder das Erhalten einens Hypo- oder anderen Kredits. Kein Register und kein Notariat können ein Verkaufsdokument für diese Immobilie verarbeiten. Diese Bedingungen hindern dich, dich an der Wohnung zu bereichern, aber du hast eine Wohnung, aus der du nur schwer herausgeworfen werden kannst, denn sie gilt als ‚Sitz des Familienlebens“ und ist Bestandteil eines Sozialprogramms.
Das hat sich „gewandelt“.

Heute lebst du in einer mit einem Hypokredit belasteten Wohnung, einem Kredit, den du, ich erinnere daran, nicht bezahlt hast. Nach dem neuen Gesetz gehört deine Wohnung jetzt in die Kategorie der Wohnungen mit einem staatlichen Hypokredit.

Mit anderen Worten, vor wenigen Tagen lebtest du in einer Wohnung, die dir gehörte, für die du nur binnen 30 Jahren den Preis ihrer Produktion mit subventionierten Materialien bezahlen musstest. Die Abgeordneten der MUD [rechte Allianz] insistieren darauf, dass „deine Wohnung aufgewertet“  wird. Und sie haben Recht. Denn der Wert der Wohnung wird jetzt, in diesem Szenarium, nicht an den Baukosten gemessen, sondern am „Marktpreis“, und diesen wird jetzt ein von der Bank oder der Immobiliengesellschaft beauftragter Bewerter ermitteln.

Deine Wohnung wird einem Hypokreditkonto der Bank oder Immobiliengesellschaft zugeordnet. Diese Wohnung, die 250“000, 300“000 oder 400“000 Bolívares gekostet hat (je nachdem, ob es sich etwa um eine Wohnung oder ein Appartement handelt), kostet jetzt auf dem „Markt“ 7, 10 oder 15 Millionen (je nach Bewertung der Immobilie, Lage, etc.). Jetzt musst du diesen Betrag in 20 Jahren bezahlen (der Frist von Banken und Immobiliengesellschaften).

Mach die Rechnung. Bei einer Veranschlagung auf 10 Millionen Bolívares macht das im Monat für dich jetzt 40“668 Bolívares, Zinsen nicht eingerechnet. Diese Zahl ist bestimmt noch skandalöser, wenn wir einbeziehen, dass in keineswegs exklusiven Zonen von Caracas ein Appartement 30, 60 oder sogar 90 Millionen Bolívares kostet, in Maracaibo zwischen 40 und 80, in Maracay zwischen 50 und 90 Millionen, je nach Lage.  Diese Rechnung lässt den Boden ausser Acht. Wenn du in einer Siedlung auf von den ursprünglichen Besitzern enteignetem und diesen bezahltem Boden wohnst, verpflichtet das Gesetz die Regierung, den bezahlten Preis neu zu bewerten. Artikel 3/3 verpflichtet den Staat, „Tauschmodalitäten für Güter, Dienstleistungen und Finanzinstrumente für Transaktionen zu entwerfen und umzusetzen, die mit Zahlungen mit dem Zweck einer gerechten Entschädigung für natürliche oder private juristische Personen beim Erwerb von Terrains oder Immobilien für den Wohnungsbau unter diesem Gesetz zu tun haben.“

Sie weisen den Staat an, die alten Landbesitzer zu entschädigen, ohne zu klären, ob die Begünstigten sich daran beteiligen müssen, ohne zu klären, ob auf den Immobilienpreis der Landpreis drauf geschlagen werden soll. Das Gesetz ist mehrdeutig; es redet von „Finanzinstrumenten“, eines davon ist die Bodenhypothek.

Und wenn du nicht bezahlen willst?

Wenn du nicht zahlst, kann der Besitzer deiner Hypothek die Immobilie legal in Besitz nehmen. Dieses Gesetz ist der grösste Immobilienbetrug in der Geschichte, den Venezuela je gesehen hat.

Die Rede vom „richtigen Eigentum“ ist natürlich im Mittelstand, aber auch in Segmenten der Unterklassen verführerisch. Es ist kein Zufall, dass am Abend des letzten 6. Dezembers, des Tags der grossen chavistischen Niederlage bei den Parlamentswahlen, auch in Sozialwohnungen Feste gestiegen sind. Andererseits: Von den Millionen Menschen, die in diesen Wohnungen leben,  wissen viele, wie sie früher gelebt haben und dass die Rechte sich nie einen feuchten Dreck um ihre Belange gekümmert hat. Einen Eindruck von ihrer Kampfbereitschaft vermittelt der 7-m-Video von einer Demonstration des Movimiento de los Pobladores, BewohnerInnenbewegung, vom letzten 28. Januar vor dem Parlament. Die Leute haben genau begriffen, was das neue Gesetz bezweckt. Und schön diese Aussage einer Demonstrantin, an Maduro gerichtet: „Bueno, Präsident: Diskutieren Sie mit Ihrem Volk, vertrauen Sie Ihrem Volk, gehen Sie mit Ihrem Volk!“
Wohnungsdemo in Caracas am 28. Januar 2016