Ausnahmezustand in El Salvador wegen Bandengewalt?

Mittwoch, 30. März 2016

https://amerika21.de/2016/03/148980/maras-gewaltverzicht
30.03.2016 El Salvador / Politik

Regierung plant angeblich Verhängung des Ausnamezustands wegen eskalierender Bandengewalt. Brisantes Video belegt Verbindung von Arena-Partei und Maras
Tätowierung eines Mara-Mitgliedes in El Salvador
Tätowierung eines Mara-Mitgliedes in El Salvador
Lizenz: Gemeinfrei
San Salvador. Der Vorsitzende der Regierungspartei FMLN in El Salvador, Medardo González, ist Presseberichten entgegengetreten, nach denen die größten Jugendbanden des Landes einen Gewaltverzicht erklärt haben, um damit die geplante Verhängung des Ausnahmezustands im Land zu verhindern. Entsprechend berichtet hatte im deutschsprachigen Raum unter anderem die Deutsche Presse-Agentur (dpa).
Im Gespräch mit amerika21 sagte González am Dienstag, die FMLN-Regierung ergreife zwar Sondermaßnahmen, um der Gewalt zu begegnen. Aber auch in den am meisten betroffenen Gemeinden würden die Grundrechte der Bürger nicht beschnitten und "kein Ausnahme- oder Belagerungszustand" verhängt.
Die Mordrate in El Salvador liegt seit einigen Monaten bei etwa 20 pro Tag, bei einer Bevölkerung von etwas mehr als sechs Millionen. Diese Morde werden primär den Maras, ehemaligen Jugendbanden zugeschrieben. Anfang März waren bei San Juan Ópico elf Menschen mutmaßlich von Mara-Mitgliedern massakriert worden, acht Arbeiter einer Stromgesellschaft und drei zufällig anwesende Kleinbauern. Niemand scheint zu wissen warum.
Die Regierung kündigte daraufhin Sondermaßnahmen an. So sollen mit einer Entlassung von 4.000 alten oder schwer kranken Häftlingen Polizeigefängnisse entlastet und damit Beamte für den Einsatz gegen die Banden frei werden. Auch zusätzliche 1.000 Soldaten sollen eingesetzt werden, die jedoch nur Begleitdienste für die Polizeikräfte verrichten dürfen.
Eine weitere Maßnahme betrifft sieben Gefängnissen, in denen führende Mara-Mitglieder einsitzen, die erwiesenermaßen aus der Haft über Handys, über Besucher und Anwälte Erpressungs- und Mordanweisungen erteilen. Für diese Haftanstalten müssen die Telefongesellschaften nun ihre Signale blockieren. Besuche sollen eingeschränkt und schärfer überwacht werden.
Der angekündigte neuerliche "Gewaltverzicht" der Maras könnte indes eine Reaktion auf ein am 11. März im Internetportal El Faro veröffentlichtes Video sein. Es handelt sich um ein offenbar verdeckt aufgenommenes Treffen von März 2014 zwischen Bandenvertretern und Ernesto Muyshondt, damals Nr. 2 der rechten Arena-Partei und Sprecher ihres Präsidentschaftskandidaten Norman Quijano, sowie dem Arena-Bürgermeister des großen hauptstädtischen Vororts Ilopango, Salvador Ruano. Das Treffen fand zwischen dem 1. und 2. Durchgang der Präsidentschaftswahlen 2014 statt. In der ersten Runde verfehlte der FMLN-Kandidat Salvador Sánchez Cerén die 50 Prozent Marke, Quijano kam auf 40 Prozent. In der zweiten Runde gewann Sánchez Cerén mit nur 6.000 Stimmen Vorsprung. Arena hatte über 400.000 Stimmen hinzugewonnen.
In dem knapp halbstündigen veröffentlichten Abschnitt des Treffens ging es um zwei Dinge: die Mobilisierung der Maras gegen die FMLN in der kommenden Stichwahl und eine von den Maras in Aussicht gestellte "Stabilität". Ein Mara-Sprecher sagte: "Stabilität, falls Sie gewinnen, und wir wünschen Stabilität, falls Sie gewinnen. Einverstanden? Gefällt Ihnen eine Stabilität für die nächsten fünf Jahre? Gut. Hier sind unsere Punkte, und wir möchten, dass sie diskutiert, umgesetzt werden. Der Moment wird kommen, wo der Minister, den Sie einsetzen, uns sagt: 'Also, Hurensöhne, ich möchte diese Scheiße so und so reduzieren' – 'Ah, ok, packen wir’s an!' – und wir einigen uns und arbeiten zusammen. Dies für die nächsten fünf Jahre."
Die soziale Basis der Maras – primär von neuem Reichtum profitierende Familienmitglieder – soll landesweit 300.000 Menschen umfassen. Wahlrelevant ist weiter, dass in manchen Armenvierteln viele Menschen die Banden als faktische Autorität wahrnehmen.
Muyshondt hatte sich jahrelang als scharfer Kritiker der bezüglich Maras "unfähigen", wenn nicht gar mit ihnen unter einer Decke steckenden FMLN-Regierung profiliert. Im "Dialog" mit den Maras sagte er: "Was halten Sie von Facundo Guardado? Norman sieht ihn als Sicherheitsminister". Muyshondt bezog sich auch auf frühere Treffen, mutmaßlich folgten weitere. Auch wenn dies aus dem Mitschnitt nicht ersichtlich wird, ist anzunehmen, dass das Gegenstück einer "Stabilität, falls sie gewinnen" die Destabilisierung einer FMLN-Regierung ist: Morde wie die an den Stromarbeitern, welche die Bevölkerung erschüttern, passen in den rechten Diskurs vom "gescheiterten Staat", den nur eine "starke Hand" mit US-Unterstützung retten könne.

Kuba: Zur Würdigung der Dauerdesinfo

Donnerstag, 24. März 2016

http://www.jungewelt.de/2016/03-23/030.php
Aus: Ausgabe vom 23.03.2016, Seite 6 / Ausland

»Good cop, bad cop«

US-Journalisten nutzen Pressekonferenz in Havanna zu Angriffen auf kubanische Regierung

Von Volker Hermsdorf
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Barack Obama und Raúl Castro am Montag während der Pressekonferenz in Havanna
Es war ein Spiel mit verteilten Rollen. Nach dem Muster »Good cop, bad cop« (guter Bulle, böser Bulle) teilte sich Barack Obama am Montag die Aufgaben mit den angereisten US-Reportern. Während der Chef des Weißen Hauses bei der gemeinsamen Pressekonferenz mit Raúl Castro das kubanische Gesundheits- und Bildungssystem lobte, attackierten die Berichterstatter von CNN und NBC den kubanischen Präsidenten mit dem Vorwurf, politische Gefangene festzuhalten und die Menschenrechte zu verletzen.
Nach dem offiziellen Empfang im Palast der Revolution hatten sich die beiden Präsidenten zu Gesprächen zurückgezogen. Bei ihrem anschließenden Auftritt gab sich Obama staatsmännisch und äußerte sich anerkennend über Kubas Erfolge in vielen Bereichen. Obama kündigte eine verstärkte Zusammenarbeit unter anderem in der Medizin und Landwirtschaft an, zudem sollen sich US-Unternehmen künftig am Ausbau des Internetnetzes auf der Insel beteiligen dürfen. »Dies ist ein neuer Tag«, sagte Obama. Die Zukunft Kubas werde allein von den Kubanern entschieden, »und nicht von irgendjemand anderem«. Auch Castro würdigte die bereits unternommenen Schritte und die bislang unterzeichneten Vereinbarungen, betonte aber zugleich: »Hier könnte viel mehr getan werden, wenn die US-Blockade gelockert würde.« Er wiederholte die Forderung nach einer Rückgabe des von Washington okkupierten Gebiets bei Guantánamo und verlangte ein Ende der US-Aggression gegen Venezuela.
Jim Acosta, CNN-Chefkorrespondent und ein guter Bekannter Obamas, erhielt nach den Ansprachen als erster Journalist das Wort. »Warum haben Sie politische Gefangene und warum lassen Sie diese nicht frei?« wandte er sich an Raúl Castro. Der fragte zunächst nach, ob der Reporter wirklich von »politischen Gefangenen« in Kuba spreche, und antwortete dann verärgert: »Geben Sie mir die Liste der politischen Gefangenen, dann lassen wir sie noch vor heute abend frei.« Nachdem nur ein kubanischer Kollege zu Wort gekommen war, legte Andrea Mitchell von NBC nach und warf der kubanischen Regierung die Verletzung von Demokratie und Menschenrechten vor. Seine staatsmännische Fassade aufgebend, drängte Obama den Gastgeber mit der Bemerkung zur Antwort: »Andrea ist eine unserer bedeutendsten Journalistinnen, und ich bin sicher, dass Sie dazu einen kurzen Kommentar abgeben, Señor Präsident.« Castro kritisierte daraufhin die »politische Instrumentalisierung« des Themas. Dann richtete er eine Spitze gegen die USA: In keinem Land der Welt seien alle Menschenrechte verwirklicht, in Kuba jedoch mehr als in vielen anderen Ländern. Jeder Bürger habe unabhängig von seinen Einkünften oder seiner Herkunft das Recht auf medizinische Versorgung, Ausbildung und Studium. Außerdem sei das Prinzip »gleicher Lohn für gleiche Arbeit« verwirklicht.
Die antikommunistischen Hardliner in Miami und Kuba griffen die Forderung Castros nach einer Liste der »politischen Gefangenen« erwartungsgemäß sofort auf. Die von dem Terroristen Jorge Mas Canosa gegründete und zumindest teilweise aus US-Steuergeldern finanzierte »Kubanisch-Amerikanische Nationalstiftung« (Cuban American National Foundation, CANF) publizierte noch am Montag auf ihrer Homepage 47 Namen von Inhaftierten. Die Deutsche Presseagentur sprach dagegen sogar von »mindestens 80 politischen Gefangenen«. Einzige Quelle dafür ist der Sprecher der »Kubanischen Kommission für Menschenrechte und nationale Versöhnung« (CCDHRN), Elizardo Sánchez. Der hatte bereits 2011 eine ähnliche Liste präsentiert. Die führende italienische Nachrichtenagentur ANSA überprüfte damals die Angaben und fand auf der Liste unter anderem die Namen von Fußballspielern aus Chile und Bolivien, von Mitgliedern des peruanischen Volleyballteams, von Malern des 18. und 19. Jahrhunderts und sogar den des 1805 gefallenen Seefahrers Dionisio Alcalá Galiano. Die spanische Ausgabe der Le Monde diplomatique enthüllte zudem, dass auf der Liste auch eine Reihe Schwerverbrecher auftauchte. So habe Sánchez zwei Mörder, die 1992 beim Angriff auf eine Kindererholungsstätte am Strand von Tarará nahe Havanna drei Wachtposten und einen Polizisten erschossen hatten, als »politische Gewissensgefangene« bezeichnet. Das spanische Onlineportal Cubainformación berichtete 2015, dass auf einer weiteren von Sánchez veröffentlichten Liste auch Raúl Ernesto Cruz León und Otto René Rodríguez Llerena aufgeführt wurden. Die zwei Söldner aus El Salvador waren 1997 an der Ermordung des italienischen Touristen Fabio di Celmo in Havanna beteiligt.

USA/El Salvador: Das Massaker am Río Lempa und die Ermahnung des US-Botschafters

Montag, 21. März 2016



(zas, 21.3.16) Soeben veröffentlichte das Washington University Center for Human Rights einen Artikel über das Massaker am Río Lempa 1981 in El Salvador (Conmemoración de la masacre del Río Lempa: Nuevos documentos desclasificados del gobierno de EE.UU. spanisch und englisch). Tausende von Menschen aus Pro-Guerillagebieten fliehen vor den mordenden Truppen zum Fluss Lempa, der die Grenze mit Honduras markiert. Es folgt eine der berüchtigten „Hammer- und Amboss“-Operation, Teamwork der Armeen der beiden Länder, beide von den USA dominiert. Über 200 Menschen werden von den beiden Armee massakriert – alles ZivilistInnen, Kinder darunter. Der Bericht des Center stützt sich auf dank Freedom of Information Act erhaltene (immer noch teilzensurierte!) Kabel der US-Botschaften in San Salvador und Tegucigalpa. Dort nervt man sich, dass die Medien so ein Geschiss um die Sache machen (auch als „Erfolge“ taxiert), wo doch das salvadorianische Regime gerade in seinen Fortschritten in Sachen Menschenrechte massiv mit Militärhilfe unterstützt werden muss (bis zu 1 Mio. Dollar pro Tag). Das Papier zitiert diesbezüglich US-Präsident Reagan’s Darstellung einer „Hilfe an die Kräfte, die die Menschenrechte unterstützen“. Das honduranische Regime hatte nach der Botschaft in Tegucigalpa eh nichts mit der Sache zu tun, egal, was die Überlebenden, die honduranische Lokalbevölkerung und der bekannte Pfarrer Fausto Milla sagen. (Einer, der das gleich wie die Embassy sah, war der damalige Bischof und heutige Kardinal Rodríguez, ein glühender Befürworter des Putschs von 2009.) Auch gegen die Bezeichnung „Massaker“ wehrten sich die US-Stellen – möglicherweise seien unter noch zu klärenden Umständen acht Menschen zu Tode gekommen. 
Vor dem Massaker am Lempa. Bild aus dem Film "In the name of the people". Quelle: WUCHR

Brav gibt ein zitiertes Kabel der US-Botschaft in San Salvador die Position der lokalen Militärs wieder: „Viele ausländischen Journalisten führen ihre Leser in die Irre, um so ihren Verbleib in El Salvador zu rechtfertigen“. Wichtig die folgende Aufklärung des Center: „Schliesslich bestätigen diese [jetzt zugänglich gemachten] Dokumente eine Tendenz, die wir bei früher schon vom UWHCR veröffentlichten Dokumenten über Kriegsgrausamkeiten beobachtet haben: In einer Zeit, als die salvadorianischen Medien total vom Staat kontrolliert waren, machten es sich die amerikanischen DiplomatInnen zur Aufgabe, die Berichterstattung ausländischer Medienarbeitender – die einzigen unabhängigen Versionen zum Krieg - zu manipulieren.“  Interessant das Zitat von US-Botschafter Dean Hinton an einer PK zum Massaker, an anwesende kritische Medienleute gerichtet: „Meine Damen und Herren, mir scheint, Sie übertreiben die Nachteile. Ich sage nicht, die gebe es nicht, aber sie scheinen mir etwas übertrieben. Ihr Gewissen wird entscheiden, wie Sie berichten.“
Wir verstehen nochmals ein wenig besser, warum das Center letzten Oktober Opfer eines Überfalls auf sein Archiv wurde, genauso wie in El Salvador diverse Menschenrechtsorganisationen.
Und noch was: Hintons Ermahnung an die Presse dürfte heute noch weniger nötig sein als damals. Denn heute weiss man: relevanter Journalismus ist eingebettet. Das hat sich längst in die Gehirne eines Grossteils des Mainstreams eingenistet.  Beispiel, heute früh in den Radionachrichten: Obama in Kuba, und der  Reporter betont, dass Obama mit der „Zivilgesellschaft“ interagieren und Raúl Castro seine Hausaufgaben in Sachen Menschenrechte mitteilen wird. Eine nicht minder drängende Aufgabe als jene, die der gleiche Journalist gestern thematisierte: die Entschädigung der von den „kubanischen Kommunisten“ enteigneten US-BürgerInnen, die deswegen heute in den USA in Armut leben. Geschenkt, dem Tropf etwas beibringen zu wollen von US-Mafia-Imperium in Kuba vor der Revolution, von US-Staatsterrorismus seither (von der Blockade über mehr als 600 Mordversuche an Fidel Castro bis zur Explosion eines vollbesetzen Linienflugzeugs). Geschenkt auch nur schon der verzweifelte Reflex, black lives matter in Erinnerung zu rufen. Ein Thema, das, wenn nicht eh vermeidbar, allenfalls für die Diskussion IN den USA taugt, aber bitte, wir reden jetzt von Halbentwickelten. So, genau so, ist die permanente debile Ignoranz gemeint.

Kurdistan: Türkische Chemiewaffen im Einsatz?

Sonntag, 20. März 2016



(zas, 20.3.16) Gever ist eine Stadt nahe der Grenze mit dem kurdischen Irak. Auf Türkisch heisst sie Yüksekova.
Hier verübt das Regime von Ankara nach Informationen der Oppositionspartei HDP ein Verbrechen gegen die Menschheit. Aber dass der Name Yüksekova in den nächsten Tagen im Medienmainstream ein Begriff wird, ist sehr fraglich.
In Gever haben die Leute im Rahmen des nicht nur kurdischen Befreiungskampfs die Selbstverwaltung ausgerufen. Auch hier regiert das Regime mit brutalen Armeeangriffen, gegen die sich die Selbstverteidgungsstrukturen zur Wehr setzen. Der Parlamentsabgeordnete Nihat Akdoğan von der HDP erklärte gestern der kurdischen Nachrichtenagentur ANF:

„Die Stadt wird seit sieben Tagen bombardiert. Aus gepanzerten Fahrzeugen heraus werden die ZivilistInnen zur Evakuation aufgefordert, aber die Menschen dürfen gleichzeitig nicht ins Freie. BewohnerInnen der Viertel Eski Kışla, Mezarlık und Orman haben uns telefonisch um Hilfe gebeten, da sie wegen des Gas nicht atmen können. Wir wissen nicht, um was für ein Gas es sich handelt, aber mit Sicherheit bringt es unsere Leute in sehr grosse Schwierigkeiten. Nach anderen Berichten sind zwischen 30 und 40 Menschen mit chemischen Gasen umgebracht worden, ihre Körper sind völlig verbrannt. Eine ältere Mutter rief uns an und bat, sie vor ‚diesem Gas‘ zu retten.“

Anrufe des Abgeordneten bei den von Ankara eingesetzten Provinzbehörden wurden nie angenommen. ANF schreib weiter:

„AnwohnerInnen berichteten, dass die an der Operation beteiligten Soldaten Gasmasken und auf dem Rücken einen Sauerstoffschlauch trugen. Ihnen zufolge sind die meisten Leichen verbrannt, geschmolzen und nicht identifizierbar. Bisher sind 30 solcher Leichen gefunden worden.“

Heute früh ergänzte ANF, dass bisher 40 solcher verbrannter Leichen gefunden worden sind und dass die Regierungsarmee am Morgen begonnen hat, trotz starkem Schneefall viele Viertel der Stadt mit Artilleriefeuer zu bombardieren. Einheiten der Volks-/Frauenbefreiungskräfte YPS und YPS-Jin der Guerilla leisteten weiterhin Widerstand.
Gever. Quelle: ANF, 19.3.16

Letzten Februar verbrannte die türkische Armee in Cizre weit über 100, mutmasslich zuvor gefangen genommene Menschen, die vor den Bombardierungen der Zuflucht in Kellern gesucht haben und tagelang verzweifelt um Hilfe baten. Zwar kamen in diversen Mainstreammedien schockierte Berichte, aber eine Konsequenz für die politisch Mächtigen in der EU? Wenn nicht diese: Den Krieg in Nordkurdistan (in der Türkei) finanziert die EU jetzt mit ein paar Milliarden Euro mit. Ach so, für die Flüchtlingsbetreuung. Wie im staatlichen Flüchtlingscamp in Suruç, nahe Kobanê, dem grössten im Land. Gestern berichtete ANF, dass Ankara hier 500 Bewaffnete „Syrer“ einquartiert hat, um sie für Angriffe auf Kobanê einzusetzen. Ähnliche Vorgänge werden aus anderen „Flüchtlingslagern“ berichtet. Bei einem ähnlich strukturierten Angriff Ende letzten Februar auf das von der kurdischen Guerilla befreite Girê Spî (auf arabisch Tall Abyad), wie Kobanê unmittelbar an der Grenze zur Türkei gelegen, wurden mehrere IS-Kämpfer gefangen genommen. Einer von ihnen packte detailliert über die türkische Leitung der Aktion aus.
Der Zynismus nicht nur der Erdogans, sondern auch der Merkels und Junckers, scheint kaum eine Grenze zu kennen. 
Newroz in Kobanê.

Trotz neuem Mordfall in Honduras halten Siemens und Voith an Projekt fest

https://amerika21.de/2016/03/148039/siemens-voith-mord-honduras
19.03.2016 Honduras

"Nein zu den Kraftwerken – Copinh"
"Nein zu den Kraftwerken – Copinh"
Tegucigalpa. Trotz der zunehmenden Gewalt gegen Gegner des bislang größten privaten Wasserkraftprojekts in Honduras, Agua Zarca, und den damit zusammenhängenden Morden an zwei Umweltaktivisten innerhalb der letzten drei Wochen wollen die deutschen Konzerne Siemens und Voith zunächst nicht aus dem Projekt aussteigen. Dies bestätigen ihre jüngsten Stellungnahmen gegenüber der Menschenrechtsorganisation Oxfam und amerika21.  Das Gemeinschaftsunternehmen des Maschinenbauers Voith und des Siemens-Konzerns, Voith Hydro, steht der honduranischen  Betreiberfirma von Agua Zarca, Desarollos Energéticos S.A. (DESA), beim Wasserkraftwerksbau mit der technischen Betreuung und der Lieferung von Anlagen im Wert von acht Millionen Euro zur Seite.
Agua Zarca wird nach Darstellungen von vor Ort gegen den Willen der Mehrheit der Eigentümer der betroffenen Ländereien gebaut. Dabei handelt es sich vor allem um Gemeinden der indigenen Volksgruppe der Lenka. Im Kampf gegen das Projekt sind laut Angaben von Oxfam 101 Aktivisten zwischen 2010 und 2014 ermordet worden. Für internationale Empörung sorgte vor allem der Mord an der angesehenen Umweltaktivistin und Vorsitzenden des "Indigenen und Volksrats von Honduras" (COPINH), Berta Cáceres, in der Nacht zum 3. März.
Am Mittwoch, ein Tag nach dem Mord am COPINH-Mitglied Nelson García, zogen sich die holländische Entwicklungsbank FMO und das finnische Entwicklungsfinanzinstitut Finnfund aus dem Staudammprojekt vorläufig zurück. Auf die Anfrage von amerika21, ob Voith nach dem Rückzug zweier internationaler Geldgeber nun auch weitere Konsequenzen ziehen würde, bekam die Redaktion die gleiche E-Mail, die sie nach dem Mord an Cáceres erhielt. Geändert wurde nur der Name des Opfers. Voith verurteile jede Form von Gewalt, sei tief betroffen und würde die honduranischen Behörden auffordern, "die gewaltsamen Tode von Nelson García und Berta Cáceres lückenlos aufzuklären". Von einem Rücktritt ist jedoch keine Rede.
Fast identisch lautet die Antwort von Siemens an Oxfam. Das deutsche Unternehmen verurteile "jede Form von Gewalt", sei schockiert und werde diesen Fall beobachten. Das Unternehmen hätte Voith gebeten, "sein Engagement in diesem Projekt zu überprüfen". Siemens bestreitet jedoch, in die Geschäfte von Voith eingebunden zu sein. Laut Oxfam ist Siemens jedoch mit 35 Prozent an Voith Hydro beteiligt.
Nach dem Mord an Cáceres machte COPINH die honduranische Regierung, die Firma DESA und ihre internationalen Projektpartner, einschließlich Voith und Siemens, für den Tod der Aktivistin verantwortlich: "Sie alle haben ihre Hände mit Blut befleckt", hieß es in einem COPINH-Kommuniqué.
Im Gegensatz zur starken Kritik von COPINH an den honduranischen Behörden hat der Staatsminister im Auswärtigem Amt Michael Roth am Mittwoch sein volles Vertrauen in die honduranische Regierung bekräftigt. Sie hätte gegenüber dem Auswärtigem Amt ihre Bemühungen versichert, "die Tat vollständig aufzuklären". Roth sei zuversichtlich, "dass die honduranische Regierung und die honduranischen Behörden ihren Worten auch Taten folgen lassen", sagte der SPD-Politiker zum Mord an Berta Cáceres im Rahmen einer Fragestunde.
Die Linken-Abgeordnete Heike Hänsel kritisierte dabei, dass "die schönen Absichtsbekundungen" der honduranischen Regierung bisher "so gut wie gar nichts" gebracht hätten. "In hundert Fällen ist nämlich nichts passiert", führte Hänsel aus. Ob die Bundesregierung Druck auf die Regierung Hernández ausüben wird, um zu erreichen, dass eine unabhängige Untersuchungskommission des Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshofes eingesetzt wird, wie es in Mexiko geschah und wie es COPINH fordert, ließ Roth unbeantwortet.

Brasilien: Zur Mobilisierung gestern

Samstag, 19. März 2016



(zas, 19.3.16) Die Demos gestern gegen den angelaufenen Putsch der Medien und Justiz waren auf jeden Fall eindrücklich. Ganz im Gegenteil ihre Wahrnehmung im Mainstream. In São Paulo seien nach Angaben „der Organisatoren“ je nach Quelle 100‘000 oder 200‘000 auf die Strasse gegangen. Das war’s denn etwa. Dafür darf man eben in der NZZ online lesen, dass es letzten Sonntag 3 Millionen landesweit waren, die gegen die Regierung demonstrierten. Gerade noch waren es zwei Millionen … Woher kommen diese Zahlen? Von den rechten Propagandazentralen. Und die schwören bekanntlich auf Genauigkeit und lügen nie so viel irgend wie noch halb plausibel in die Köpfe gepumpt werden kann. Nun, „die Organisatoren“ der Demos gestern sind zusammengeschlossen im Frente Brasil Popular. Auf seiner Homepage redet besagter Frente von einer halben Million in São Paulo, und, aufgeschlüsselt auf die Departementshauptstädte, landesweit von 1.3 Millionen, die gegen die angedrohte Einknastung von Lula, das Impeachment der Präsidentin und die massive rechte Offensive zur Wehr setzten. 
In São Paulo, gestern. Quelle: Brasil de Fato

Auf jedem Fall ist es dem Frente eine beeindruckende Mobilisierung gelungen, in einem Ambiente, das von einer von der zunehmend rechter werden Politik von Dilma Rousseff mit Apathie, Resignation, Frust getränkt war.
Eine Art  Live-Bericht auf Brasil de Fato vermittelt anhand von Interviews mit einigen der TeilnehmerInnen und eigenen Beobachtungen der Journalistin Wichtiges: Viele Menschen aus den Unterklassenquartieren, viele Jugendliche. Das krasse Gegenteil der Demos der Rechten: fast ausschliesslich weiss, vorwiegend männlich, gut situiert, gesetztere Jahrgänge. Drei Beispiele: „Nivive Ferreira, 20, wartete auf KollegInnen, die in einem Combo von 10 Autobussen aus [der Favela] Heliópolis kommen sollten. ‚Am Sonntag sah ich niemand aus meiner Comunidad dabei. Die Leute waren in der Bar. Die Leute haben sich daran nicht beteiligt, weil sie es sind, die am meisten unter der Polizei und dem Mangel an staatlicher Politik leiden’. Die Studentin, die in der BewohnerInnenvereinigung von Heliópolis (Unas) engagiert ist, dass die Randviertel auch gegen ein Impeachment mobilisiert sind. ‚Ich bin hier, weil ich kein Rollback haben will, ich will keinen Rückschritt zum Beispiel bei den Rechten der Gays, der Minderheiten.‘“
„Die Menge von Jungen beeindruckte Natalia Rampazzi und Datieli Albuquerque, beide 17. ‚Das Durchschnittsalter hier muss bei 19 liegen‘, witzelte Natália. Sie und ihre Freundin schrieben sich in diesem Semester in der Universidad São Judas ein, dank des Stipendiums der Programa Universidade para Todos (ProUni). ‚Ich finde, es hat mehr Junge hier. Sie neigen mehr zur Revolte. Und auch, weil die PT-Regierung mehr für die Jungen tut.‘“
Die Rede Nacional de Médicas e Médicos Populares (Nationales Netzt der VolksärztInnen und –ärzte) thematisiert in ihrem Aufruf zur Demo gestern den Rechtsruck Dilma Rousseffs und „die Wahl des konservativsten Parlaments, das wir je hatten und das in nie gesehener Geschwindigkeit die konservative Agenda vorantreibt. Vorhaben, die die nationale Souveränität angreifen, aber auch die sozialen Rechte – wie etwa die Projekte gegen Notverhütungsmittel und Abtreibungshilfe, Senkung des Alters für Strafmündigkeit, Legalisierung der Leiharbeit und Zurückdrehen der Rechte der LGBT. Im Gesundheitsbereich haben wir neben den Budgetniederlagen und dem sogar mit Einverständnis der Regierung von Dilma erfolgten einströmen ausländischen Kapitals das Verfassungsvorhaben 451 des Abgeordneten Eduardo Cunha, das dem Einheitsgesundheitssystem den Todesstoss versetzt.“
Eine Konteroffensive, die nur in ihrem globalen Kontext, etwa den „xenofoben und faschistischen Reaktionen in Europa“ zu begreifen ist, Reaktionen in Folge der von den USA und Europa in Afrika und Nahost angefachten Kriege. „Keine Putschagenda in Brasilien kann ohne diesen Kontext begriffen werden. Hinter dem angelaufenen Putsch in Brasilien steckt eine Agenda mit klarem Ziel: die Kräfte für ein souveränes Projekt des Landes domestizieren … Ein Blick in das Programm Ponte para o Brasil der [mit dem PT noch verbündeten, aber den Absprung organisierenden Rechtspartei] PMDB zerstreut allfällige Zweifel. Was die Gesundheit betrifft, kann diese Agenda die Unterfinanzierung noch verschärfen und zum totalen Chaos im Gesundheitswesen führen, mit der Schliessung von Einrichtungen, der Beendigung des ‚Programa Mais Médicos para o Brasil‘ , mehr Privatisierungen und Zunahme der eh schon gravierenden Unterversorgung.“
Wer da worum gegen den Putsch mobilisiert und in welchem transnationalen „Spirit“ der betrieben wird – selbstredend verdient das im Mainstream keine Beachtung.
Heute hat der Gilmar Mendes vom Obersten Gericht STF die Ernennung Lulas zum Kabinettschef Dilmas erneut suspendiert und die Angelegenheit zurück auf die erstinstanzliche Stufe spediert. Möglich, dass Lula nun in den Knast muss, zumindest bis gegen Ende März, wenn ein mutmasslicher Rekurs vom STF beantwortet werden sollte. Dann werden weitere Figuren brillieren. Mendes ist ein Ultrakonservativer, vom neoliberalen und enorm korrupten Präsidenten Fernando Henrique Cardoso seinerzeit ins STF geholt, das er auch eine Weile präsidierte. Er war in mehrere Korruptionsfälle verwickelt und hat sich seit Jahren als hassgetriebener Feind des PT geoutet.

Brasilien: Vorwärts in die Weimarer Republik?

Freitag, 18. März 2016



(zas, 18.3.16) Vielleicht wird die brasilianische Präsidentin Dilma Rousseff zum Rücktritt gezwungen, wie der transnationale Mainstream hoffnungsvoll ankündigt. Es ist anstandslos zuzugeben: Nach Rousseffs Wahlsieg hat der Grossteil der Rechten, insbesondere das Medienimperium O Globo, keine Sekunde lang Zweifel daran gelassen, dass er nicht gewillt ist, dieses Ergebnis zu akzeptieren. Am letzten Wochenende gingen – je nach Quelle – zwischen Hunderttausende und zwei Millionen Leute auf die Strasse, für ein Impeachment der Präsidentin und die Einknastung des früheren Präsidenten Lula da Silva.
Folha de São Paulo, ein anderes Medienimperium, publizierte ein sozioökonomisches Profil der Demonstrierenden. Überraschung: Wie schon bei den rechten Mobilisierungen letztes Jahr waren es überwiegend Angehörige gut situierter Mittelschichten aufwärts, fast ausschliesslich weiss und primär männlich, die ihren Frust auf die Strasse trugen. Unterstützt von einem Aufmarsch neonazistischer, antischwarzer Kräfte. Genug, um einen SRF-Korrespondenten davon schwärmen zu lassen, dass die Menschen ihre traditionelle Scheu vor der Macht abzulegen begännen.

Teamwork Medien, Justiz, rechte Strasse
Kontext: die Untersuchung Lava Jato (ungefähr Hochdruckreiniger). Dabei geht es um behauptete und reale Korruptionsaffairen rund um den staatlich-privaten Erdölkonzern Petrobras, in die eine ganze Reihe von UnternehmerInnen und PolitikerInnen verschiedenster Couleur verstrickt sind. Der Chef des Multis Odebrecht ist in diesem Zusammenhang zu einer mehrjährigen Gefängnisstrafe verurteilt worden. Interessant ist, dass auch eine Reihe führender rechter PolitikerInnen, insbesondere auch der neoliberale Ex-Staatspräsident Fernando Henrique Cardoso (FHC), tief in der Sache stecken. Doch die brasilianische Justiz weiss zu differenzieren: Was rechts ist, ist Angelegenheit unterster Justizchargen, von denen nichts zu hören ist. Mit den Leuten des regierenden Partido dos Trabalhadores (PT) hingegen ist die Crème de la Crème der Justiz befasst: Vom Obersten Gericht (STF), in dem die Sympathien für die Militärdiktatur kaum verhehlt werden, bis zum Bundesuntersuchungsrichter Sérgio Moro, der am 13. März den Ex-Präsidenten Lula von der Bundespolizei (PF) zum Verhör zwangsvorführen liess. Zwecks geeignetem Wahrnehmungsmanagement liess der Justizapparat die Folha von der Vorführung im Voraus wissen, was für die entsprechenden, die rechten Herzen ungemein erwärmenden  Aufnahmen sorgte. Jetzt, nachdem Rousseff Lula als eine Art Ministerpräsident einsetzte, untersagte Moro weiteres Telefonabhören von Lula, doch entweder er oder ein erstinstanzlicher Untersuchungsrichter foutierten sich um diese gesetzlich zwingende Vorgabe. Eine Telefonüberwachung der Präsidentin ist ohnehin eindeutig illegal. In Rekordzeit, binnen dreieinhalb Stunden, landete das von der PF abgehörte Telefonat bei O Globo. Darin habe, so Moro, Rousseff die Amtseinsetzung Lulas als Manöver gegen seine, Moros, weitere Ermittlungen bezeichnet. Im Übrigen „verlangt die Demokratie, dass die Regierten wissen, was die Regierenden tun“, begründete der Jurist seinen klaren Gesetzesbruch.  
Die Veröffentlichung durch O Globo gab den Startschuss für sofortige neue Antiregierungsdemonstrationen vor dem Regierungssitz.  Doch was erregte den „Argwohn“ des Gesetzeshüters? Im Kurzgespräch teilte Rousseff Lula mit, sie schicke einen Boten mit dem Dokument, das „nur im Notfall“ für die Amtseinsetzung gebraucht werden solle. Für Moro das klare Indiz, dass die Ernennung Lulas einzig seine Untersuchungen behindern solle. Ziemlich plausibel dagegen die Erklärung Rousseffs. Da Lula wegen der Erkrankung seiner Frau womöglich nicht an der Einsetzungszeremonie hätte teilnehmen können, habe sie schon mal seine Unterschrift auf das Ernennungsformular einholen wollen. Als Beleg legte sie die von Lula, aber noch nicht von ihr, unterschriebene Urkunde vor. Selbstredend liess Bundesrichter Itagiba Catta Preta Lulas Ernennung superprovisorisch sistieren. Der Mann ist Militanter der Impeachmentbewegung gegen den PT, er liess seine einschlägige Facebook-Seite nach seinem Sistierungsbeschluss löschen.

Frente Brasil Popular
Nun, heute mobilisiert der Frente Brasil Popular, ein Zusammenschluss primär von Sozialorganisationen und einigen linken Parteien, gegen den  Medien-, Strassen- und Justizputsch. Keine einfache Sache. Denn Rousseff betreibt seit Beginn ihrer zweiten Amtszeit eine fürchterliche Politik der Anpassung an die Multis und die Rechte. Mit dem Ergebnis, dass die unten die Schnauze gestrichen voll haben. Was João Stedile, den bekannten Anführer der Landlosenbewegung MST, kürzlich zur Aussage veranlasste, die Politik der Regierung Rousseff – Sozialkürzungen, Stopp der Agrarreform  etc. - sei „idiotisch“ und „nicht verteidigbar“. Im gleichen BBC-Interview bezeichnete er den Unterschied Rousseff-Lula  als einen „von Tag und Nacht“. (Ein Echo dieser Ansicht ist das Gejammer heute in der NZZ, dass Lula mit seinem Interventionismus schlecht für die Wirtschaft wäre.) Allerdings verhindere die „idiotische Politik“ Rousseffs faktisch einen Wahlsieg Lulas 2018. Das MST ist eine der treibenden Kräfte im Frente Brasil Popular.

Ausnahmezustand
Doch warum der Verweis auf die Weimarer Republik im Titel? Ich habe ihn von einem Artikel des PT-Politikers Tarso Genro (Moro comanda o direito) von gestern. Genro warnt vor einem allgemeinen „Parteienverdruss“, der die Tür für eine autoritäre Lösung öffne. Insbesondere situiert er hier auch das Agieren der Justiz, etwa des Bundesrichters Sérgio Moro, die immer mehr einen Ausnahmezustand im Sinn des Nazi-Juristen („Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“) verhängt. Beispiel die Zwangsvorführung Lulas, eindeutig ein krimineller Akt zwecks Delegitimierung einer allfälligen Kandidatur dieses Manns auch im Fall einer Amtsenthebung Rousseffs, der heute als einziger Chancen gegen die Rechte hätte. Zur Illustrierung der These von den „chaotischen“ Zuständen die Tatsache, dass bei der rechten Grossmobilisierung kürzlich bekannte rechte Parteiexponenten wie Aécio Neves, der in der Präsidentschaftswahl Rousseff unterlag, ausgepfiffen und des Platzes verwiesen wurden. Im Gegensatz zu ultrarechten, mit Ovationen gefeierten  Abgeordenten wie Ronaldo Caiado oder Jair Bolsonaro, die für ihre faschistoide Praxis das Trump-Image der Aussenseiter benutzen. (Bolsonaro war vom Justizapparat im Voraus von der Zwangsvorführung Lulas benachrichtigt worden und sorgte für das entsprechende „Theater“.) Hinter der „Antikorruption“-Welle jetzt in Brasilien scheint eine Strategie zu stecken, die ein neues rechtes Regime zum Ziel hat, das sich tendenziell um solche Dinge wie Gewaltenteilung foutiert. Eine affirmative und dumpfe Ahnung davon hat sich auch in einige Gehirne im Mainstreammedium geschlichen, wenn etwa der zu Beginn erwähnte, für die weit rechts situierten Mobilisierungen schwärmende SRF-Korrespondent Achermann darauf hinweist, dass auch eine neue rechte Regierung korruptionsanfällig wäre. Dieses „Grundproblem Brasiliens“  bedürfe einer grundsätzlichen Lösung – vorgetragen im selbstverständlichen Tonfall des hochentwickelten Weissen.

A propos Korruption
Der Hintergrund des Petrobrás-Skandals ist selbstverständlich nicht die Korruption, sondern die nicht hinzunehmende Tatsache, dass dieser halbstaatliche Konzern (bis vor kurzem) die Entscheidungsgewalt über die Ausbeute der riesigen pré-sal-Vorkommen unter dem Meeresboden hatte. Gegen die Mehrheit der PT-Fraktion im Senat entschied Rousseff letzten Februar, ein Gesetzvorhaben des neoliberalen, zwei Mal unterlegenen Präsidentschaftsanwärters José Serra  zu unterstützen, das die pré-sal-Vorkommen faktisch in die Hände der ausländischen Multis legt.  Eine Senatsmehrheit nahm Serras „Innovation“ an (am gleichen Tag wie übrigens ein von der Regierung eingebrachtes „Anti-Terrorismus“-Gesetz). Man versteht, dass ein Stedile auf Lula setzt, auch wenn die Zeit grosser Rohstofferträge, die dessen Politik der Sozialreformen und exorbitanter Zinszahlungen an die Banken ermöglichte, erst mal vorbei ist. Lula würde im Kabinett Rousseff wohl solchen „Verirrungen“ widerstehen können. Doch zurück zur Korruption. Wer ist der mediale Volksheld Sérgio Moro? Der Gatte von Rosângela Wolff de Quadros Moro. Und wer ist die Frau? Emanuel Cancella, Koordinator der nationalen Ölgewerkschaft FNP, schreibt im Artikel Sérgio Moro, um juiz a serviço da TV Globo e do PSDB unter Berufung auf Wikileaks,  dass sie Anwältin der führenden Rechtspartei PSDB und mehrerer Ölmultis war. Sie bestreitet dies auf ihrer Facebook-Seite. Muss sie. Denn von Gesetzes wegen hätte ihr Gatte sich von sämtlichen Petrobrás-Untersuchungen wegen möglicher Befangenheit fernhalten müssen. Scheissgesetz!