(zas, 19.3.16) Die Demos gestern gegen den angelaufenen
Putsch der Medien und Justiz waren auf jeden Fall eindrücklich. Ganz im Gegenteil
ihre Wahrnehmung im Mainstream. In São Paulo seien nach Angaben „der Organisatoren“
je nach Quelle 100‘000 oder 200‘000 auf die Strasse gegangen. Das war’s denn etwa.
Dafür darf man eben in der NZZ online lesen, dass es letzten Sonntag 3
Millionen landesweit waren, die gegen die Regierung demonstrierten. Gerade noch
waren es zwei Millionen … Woher kommen diese Zahlen? Von den rechten
Propagandazentralen. Und die schwören bekanntlich auf Genauigkeit und lügen nie
so viel irgend wie noch halb plausibel in die Köpfe gepumpt werden kann. Nun, „die
Organisatoren“ der Demos gestern sind zusammengeschlossen im Frente Brasil
Popular. Auf seiner Homepage
redet besagter Frente von einer halben Million in São Paulo, und,
aufgeschlüsselt auf die Departementshauptstädte, landesweit von 1.3 Millionen, die
gegen die angedrohte Einknastung von Lula, das Impeachment der Präsidentin und
die massive rechte Offensive zur Wehr setzten.
In São Paulo, gestern. Quelle: Brasil de Fato |
Auf jedem Fall ist es dem Frente eine beeindruckende
Mobilisierung gelungen, in einem Ambiente, das von einer von der zunehmend
rechter werden Politik von Dilma Rousseff mit Apathie, Resignation, Frust getränkt
war.
Eine Art Live-Bericht
auf Brasil de Fato vermittelt
anhand von Interviews mit einigen der TeilnehmerInnen und eigenen Beobachtungen
der Journalistin Wichtiges: Viele Menschen aus den Unterklassenquartieren,
viele Jugendliche. Das krasse Gegenteil der Demos der Rechten: fast ausschliesslich
weiss, vorwiegend männlich, gut situiert, gesetztere Jahrgänge. Drei Beispiele:
„Nivive Ferreira, 20, wartete auf
KollegInnen, die in einem Combo von 10 Autobussen aus [der Favela] Heliópolis
kommen sollten. ‚Am Sonntag sah ich niemand aus meiner Comunidad dabei. Die
Leute waren in der Bar. Die Leute haben sich daran nicht beteiligt, weil sie es
sind, die am meisten unter der Polizei und dem Mangel an staatlicher Politik leiden’.
Die Studentin, die in der BewohnerInnenvereinigung von Heliópolis (Unas)
engagiert ist, dass die Randviertel auch gegen ein Impeachment mobilisiert sind.
‚Ich bin hier, weil ich kein Rollback haben will, ich will keinen Rückschritt
zum Beispiel bei den Rechten der Gays, der Minderheiten.‘“
„Die Menge von Jungen
beeindruckte Natalia Rampazzi und Datieli Albuquerque, beide 17. ‚Das
Durchschnittsalter hier muss bei 19 liegen‘, witzelte Natália. Sie und ihre
Freundin schrieben sich in diesem Semester in der Universidad São Judas ein,
dank des Stipendiums der Programa Universidade para Todos (ProUni). ‚Ich finde,
es hat mehr Junge hier. Sie neigen mehr zur Revolte. Und auch, weil die PT-Regierung
mehr für die Jungen tut.‘“
Die Rede Nacional de
Médicas e Médicos Populares (Nationales Netzt der VolksärztInnen und –ärzte)
thematisiert in ihrem Aufruf
zur Demo gestern den Rechtsruck Dilma Rousseffs und „die Wahl des konservativsten Parlaments, das wir je hatten und das in
nie gesehener Geschwindigkeit die konservative Agenda vorantreibt. Vorhaben,
die die nationale Souveränität angreifen, aber auch die sozialen Rechte – wie etwa
die Projekte gegen Notverhütungsmittel und Abtreibungshilfe, Senkung des Alters
für Strafmündigkeit, Legalisierung der Leiharbeit und Zurückdrehen der Rechte
der LGBT. Im Gesundheitsbereich haben wir neben den Budgetniederlagen und dem
sogar mit Einverständnis der Regierung von Dilma erfolgten einströmen
ausländischen Kapitals das Verfassungsvorhaben 451 des Abgeordneten Eduardo
Cunha, das dem Einheitsgesundheitssystem den Todesstoss versetzt.“
Eine Konteroffensive, die nur in ihrem globalen Kontext,
etwa den „xenofoben und faschistischen
Reaktionen in Europa“ zu begreifen ist, Reaktionen in Folge der von den USA
und Europa in Afrika und Nahost angefachten Kriege. „Keine Putschagenda in Brasilien kann ohne diesen Kontext begriffen
werden. Hinter dem angelaufenen Putsch in Brasilien steckt eine Agenda mit klarem
Ziel: die Kräfte für ein souveränes Projekt des Landes domestizieren … Ein
Blick in das Programm Ponte para o Brasil der [mit dem PT noch verbündeten,
aber den Absprung organisierenden Rechtspartei] PMDB zerstreut allfällige
Zweifel. Was die Gesundheit betrifft, kann diese Agenda die Unterfinanzierung
noch verschärfen und zum totalen Chaos im Gesundheitswesen führen, mit der
Schliessung von Einrichtungen, der Beendigung des ‚Programa Mais Médicos para o
Brasil‘ , mehr Privatisierungen und Zunahme der eh schon gravierenden
Unterversorgung.“
Wer da worum gegen den Putsch mobilisiert und in welchem transnationalen
„Spirit“ der betrieben wird – selbstredend verdient das im Mainstream keine
Beachtung.
Heute hat der Gilmar Mendes vom Obersten Gericht STF die
Ernennung Lulas zum Kabinettschef Dilmas erneut suspendiert und die Angelegenheit
zurück auf die erstinstanzliche Stufe spediert. Möglich, dass Lula nun in den
Knast muss, zumindest bis gegen Ende März, wenn ein mutmasslicher Rekurs vom STF
beantwortet werden sollte. Dann werden weitere Figuren brillieren. Mendes ist
ein Ultrakonservativer, vom neoliberalen und enorm korrupten Präsidenten
Fernando Henrique Cardoso seinerzeit ins STF geholt, das er auch eine Weile präsidierte.
Er war in mehrere Korruptionsfälle verwickelt und hat sich seit Jahren als
hassgetriebener Feind des PT geoutet.