Brasilien: Vorwärts in die Weimarer Republik?

Freitag, 18. März 2016



(zas, 18.3.16) Vielleicht wird die brasilianische Präsidentin Dilma Rousseff zum Rücktritt gezwungen, wie der transnationale Mainstream hoffnungsvoll ankündigt. Es ist anstandslos zuzugeben: Nach Rousseffs Wahlsieg hat der Grossteil der Rechten, insbesondere das Medienimperium O Globo, keine Sekunde lang Zweifel daran gelassen, dass er nicht gewillt ist, dieses Ergebnis zu akzeptieren. Am letzten Wochenende gingen – je nach Quelle – zwischen Hunderttausende und zwei Millionen Leute auf die Strasse, für ein Impeachment der Präsidentin und die Einknastung des früheren Präsidenten Lula da Silva.
Folha de São Paulo, ein anderes Medienimperium, publizierte ein sozioökonomisches Profil der Demonstrierenden. Überraschung: Wie schon bei den rechten Mobilisierungen letztes Jahr waren es überwiegend Angehörige gut situierter Mittelschichten aufwärts, fast ausschliesslich weiss und primär männlich, die ihren Frust auf die Strasse trugen. Unterstützt von einem Aufmarsch neonazistischer, antischwarzer Kräfte. Genug, um einen SRF-Korrespondenten davon schwärmen zu lassen, dass die Menschen ihre traditionelle Scheu vor der Macht abzulegen begännen.

Teamwork Medien, Justiz, rechte Strasse
Kontext: die Untersuchung Lava Jato (ungefähr Hochdruckreiniger). Dabei geht es um behauptete und reale Korruptionsaffairen rund um den staatlich-privaten Erdölkonzern Petrobras, in die eine ganze Reihe von UnternehmerInnen und PolitikerInnen verschiedenster Couleur verstrickt sind. Der Chef des Multis Odebrecht ist in diesem Zusammenhang zu einer mehrjährigen Gefängnisstrafe verurteilt worden. Interessant ist, dass auch eine Reihe führender rechter PolitikerInnen, insbesondere auch der neoliberale Ex-Staatspräsident Fernando Henrique Cardoso (FHC), tief in der Sache stecken. Doch die brasilianische Justiz weiss zu differenzieren: Was rechts ist, ist Angelegenheit unterster Justizchargen, von denen nichts zu hören ist. Mit den Leuten des regierenden Partido dos Trabalhadores (PT) hingegen ist die Crème de la Crème der Justiz befasst: Vom Obersten Gericht (STF), in dem die Sympathien für die Militärdiktatur kaum verhehlt werden, bis zum Bundesuntersuchungsrichter Sérgio Moro, der am 13. März den Ex-Präsidenten Lula von der Bundespolizei (PF) zum Verhör zwangsvorführen liess. Zwecks geeignetem Wahrnehmungsmanagement liess der Justizapparat die Folha von der Vorführung im Voraus wissen, was für die entsprechenden, die rechten Herzen ungemein erwärmenden  Aufnahmen sorgte. Jetzt, nachdem Rousseff Lula als eine Art Ministerpräsident einsetzte, untersagte Moro weiteres Telefonabhören von Lula, doch entweder er oder ein erstinstanzlicher Untersuchungsrichter foutierten sich um diese gesetzlich zwingende Vorgabe. Eine Telefonüberwachung der Präsidentin ist ohnehin eindeutig illegal. In Rekordzeit, binnen dreieinhalb Stunden, landete das von der PF abgehörte Telefonat bei O Globo. Darin habe, so Moro, Rousseff die Amtseinsetzung Lulas als Manöver gegen seine, Moros, weitere Ermittlungen bezeichnet. Im Übrigen „verlangt die Demokratie, dass die Regierten wissen, was die Regierenden tun“, begründete der Jurist seinen klaren Gesetzesbruch.  
Die Veröffentlichung durch O Globo gab den Startschuss für sofortige neue Antiregierungsdemonstrationen vor dem Regierungssitz.  Doch was erregte den „Argwohn“ des Gesetzeshüters? Im Kurzgespräch teilte Rousseff Lula mit, sie schicke einen Boten mit dem Dokument, das „nur im Notfall“ für die Amtseinsetzung gebraucht werden solle. Für Moro das klare Indiz, dass die Ernennung Lulas einzig seine Untersuchungen behindern solle. Ziemlich plausibel dagegen die Erklärung Rousseffs. Da Lula wegen der Erkrankung seiner Frau womöglich nicht an der Einsetzungszeremonie hätte teilnehmen können, habe sie schon mal seine Unterschrift auf das Ernennungsformular einholen wollen. Als Beleg legte sie die von Lula, aber noch nicht von ihr, unterschriebene Urkunde vor. Selbstredend liess Bundesrichter Itagiba Catta Preta Lulas Ernennung superprovisorisch sistieren. Der Mann ist Militanter der Impeachmentbewegung gegen den PT, er liess seine einschlägige Facebook-Seite nach seinem Sistierungsbeschluss löschen.

Frente Brasil Popular
Nun, heute mobilisiert der Frente Brasil Popular, ein Zusammenschluss primär von Sozialorganisationen und einigen linken Parteien, gegen den  Medien-, Strassen- und Justizputsch. Keine einfache Sache. Denn Rousseff betreibt seit Beginn ihrer zweiten Amtszeit eine fürchterliche Politik der Anpassung an die Multis und die Rechte. Mit dem Ergebnis, dass die unten die Schnauze gestrichen voll haben. Was João Stedile, den bekannten Anführer der Landlosenbewegung MST, kürzlich zur Aussage veranlasste, die Politik der Regierung Rousseff – Sozialkürzungen, Stopp der Agrarreform  etc. - sei „idiotisch“ und „nicht verteidigbar“. Im gleichen BBC-Interview bezeichnete er den Unterschied Rousseff-Lula  als einen „von Tag und Nacht“. (Ein Echo dieser Ansicht ist das Gejammer heute in der NZZ, dass Lula mit seinem Interventionismus schlecht für die Wirtschaft wäre.) Allerdings verhindere die „idiotische Politik“ Rousseffs faktisch einen Wahlsieg Lulas 2018. Das MST ist eine der treibenden Kräfte im Frente Brasil Popular.

Ausnahmezustand
Doch warum der Verweis auf die Weimarer Republik im Titel? Ich habe ihn von einem Artikel des PT-Politikers Tarso Genro (Moro comanda o direito) von gestern. Genro warnt vor einem allgemeinen „Parteienverdruss“, der die Tür für eine autoritäre Lösung öffne. Insbesondere situiert er hier auch das Agieren der Justiz, etwa des Bundesrichters Sérgio Moro, die immer mehr einen Ausnahmezustand im Sinn des Nazi-Juristen („Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“) verhängt. Beispiel die Zwangsvorführung Lulas, eindeutig ein krimineller Akt zwecks Delegitimierung einer allfälligen Kandidatur dieses Manns auch im Fall einer Amtsenthebung Rousseffs, der heute als einziger Chancen gegen die Rechte hätte. Zur Illustrierung der These von den „chaotischen“ Zuständen die Tatsache, dass bei der rechten Grossmobilisierung kürzlich bekannte rechte Parteiexponenten wie Aécio Neves, der in der Präsidentschaftswahl Rousseff unterlag, ausgepfiffen und des Platzes verwiesen wurden. Im Gegensatz zu ultrarechten, mit Ovationen gefeierten  Abgeordenten wie Ronaldo Caiado oder Jair Bolsonaro, die für ihre faschistoide Praxis das Trump-Image der Aussenseiter benutzen. (Bolsonaro war vom Justizapparat im Voraus von der Zwangsvorführung Lulas benachrichtigt worden und sorgte für das entsprechende „Theater“.) Hinter der „Antikorruption“-Welle jetzt in Brasilien scheint eine Strategie zu stecken, die ein neues rechtes Regime zum Ziel hat, das sich tendenziell um solche Dinge wie Gewaltenteilung foutiert. Eine affirmative und dumpfe Ahnung davon hat sich auch in einige Gehirne im Mainstreammedium geschlichen, wenn etwa der zu Beginn erwähnte, für die weit rechts situierten Mobilisierungen schwärmende SRF-Korrespondent Achermann darauf hinweist, dass auch eine neue rechte Regierung korruptionsanfällig wäre. Dieses „Grundproblem Brasiliens“  bedürfe einer grundsätzlichen Lösung – vorgetragen im selbstverständlichen Tonfall des hochentwickelten Weissen.

A propos Korruption
Der Hintergrund des Petrobrás-Skandals ist selbstverständlich nicht die Korruption, sondern die nicht hinzunehmende Tatsache, dass dieser halbstaatliche Konzern (bis vor kurzem) die Entscheidungsgewalt über die Ausbeute der riesigen pré-sal-Vorkommen unter dem Meeresboden hatte. Gegen die Mehrheit der PT-Fraktion im Senat entschied Rousseff letzten Februar, ein Gesetzvorhaben des neoliberalen, zwei Mal unterlegenen Präsidentschaftsanwärters José Serra  zu unterstützen, das die pré-sal-Vorkommen faktisch in die Hände der ausländischen Multis legt.  Eine Senatsmehrheit nahm Serras „Innovation“ an (am gleichen Tag wie übrigens ein von der Regierung eingebrachtes „Anti-Terrorismus“-Gesetz). Man versteht, dass ein Stedile auf Lula setzt, auch wenn die Zeit grosser Rohstofferträge, die dessen Politik der Sozialreformen und exorbitanter Zinszahlungen an die Banken ermöglichte, erst mal vorbei ist. Lula würde im Kabinett Rousseff wohl solchen „Verirrungen“ widerstehen können. Doch zurück zur Korruption. Wer ist der mediale Volksheld Sérgio Moro? Der Gatte von Rosângela Wolff de Quadros Moro. Und wer ist die Frau? Emanuel Cancella, Koordinator der nationalen Ölgewerkschaft FNP, schreibt im Artikel Sérgio Moro, um juiz a serviço da TV Globo e do PSDB unter Berufung auf Wikileaks,  dass sie Anwältin der führenden Rechtspartei PSDB und mehrerer Ölmultis war. Sie bestreitet dies auf ihrer Facebook-Seite. Muss sie. Denn von Gesetzes wegen hätte ihr Gatte sich von sämtlichen Petrobrás-Untersuchungen wegen möglicher Befangenheit fernhalten müssen. Scheissgesetz!