Agnese
Marra*
Der
Entscheid von Präsident Michel Temer, die Sicherheit der „wunderbaren Stadt“
den Militärs zu übergeben, folgte einem Wahlkalkül. Vorallem vertiefte es die
Angst der BewohnerInnen der Favelas von Rio, die vom Staat seit Jahren schon
kriminalisiert werden.
Nehmen Sie
keinen Regenschirm mit, damit man ihn nicht mit einer Waffe verwechsle und Sie
erschiesse. Teilen Sie Ihren Freunden mit, wohin Sie gehen und wann Sie wieder
zurück sein werden. Haben Sie etwas Teures dabei, halten Sie die Quittung
parat, damit sie nicht meinen, es wäre gestohlen. Halten Sie Ihren Wagen an,
bitten Sie den Soldaten um die Erlaubnis, das Handschuhfach zu öffnen und Ihre
Ausweise vorzulegen, andernfalls könnte er denken, Sie wollten eine Waffe
ziehen. Spät nachts nicht ausgehen. Und wenn Sie eine Frau sind, homosexuell
oder transsexuell, nicht allein ausgehen, stets in Begleitung.
Ratschläge.
Warnungen. Sie dominieren in den Social Media, seit Präsident Michel Temer
letzten Freitag die Sicherheit der wunderbaren Stadt in die Hände der Militärs legte.
(…)
Es war die
Armee, die als erste Besorgnis über die ihr aufgetragene Verantwortung
ausdrückte. Diese Woche verlangte der Heereskommandant General Eduardo Villas
Bõas „rechtliche Garantien“ dafür, dass seine Untergebenen nicht von der
ordentlichen, sondern nur von der Militärjustiz gerichtet werden: „Erst verlangt man von uns, die Dealer zu
bekämpfen, aber wenn dann einer meiner Männer in Notwehr tötet, wird er
rechtlich verfolgt.“ Überdies verglich Villas Bõas die aktuelle Situation
für seine Soldaten mit jener der Militärdiktatur: „Wir wollen dann keine Wahrheitskommission oder Anschuldigungen für Dinge,
die wir nicht gemacht haben“, sagte er in TV Globo.
(…)
Zurzeit ist
das Gesetz auf der Seite der Militärs. Denn letzten November wurde eine
Regelung angenommen, die Soldaten vor zivilen Gerichtsverfahren wegen Tötungen bei
Operationen wie der in Rio laufenden bewahrt. „Das war eine erstes Alarmsignal, das wir von der Universität aus
kritisiert haben: dass sich die Politik militarisiert, was fürchterliche Folgen
für die Bevölkerung hätte. Genau das ist jetzt der Fall“, sagte Ignacio Cano
zu Brecha.
(…)
Eine der umstrittensten
Massnahmen, die Verteidigungsminister Raul Jungmann einführen will, besteht
darin, der Armee die Möglichkeit zu geben, kollektive Durchsuchungs- und
Haftbefehle auszustellen. Diese Befehle würden dann nicht für ein spezifisches
Haus gelten, sondern für irgendwelche Räume irgendwelcher BewohnerInnen. „In der städtischen Realität von Rio de
Janeiro wird oft ein Haus durchsucht, aber der Gangster weicht in ein anderes
nahegelegenes Haus aus; deshalb sind kollektive Befehle nützlicher“,
argumentierte Jungmann.
Ob dies
durchkommt, weiss man nicht, denn dieser Vorschlag,stösst mit auf die grösste Opposition
der Staatsanwaltschaft. Doch Justizminister Torquato Jardim, der die Vorfälle
in der Favela Rocinha mit dem „Krieg gegen den Terror“ der USA gegen die
islamistischen Terroristen verglich, zeigte, dass er für eine Politik der
harten Hand eintritt: „Wir werden alle
nötigen Sondermassnahmen ergreifen, um diesen Krieg zu gewinnen“, erklärte
er im Correo Braziliense.
(…)
Neben
vielem anderen bedeuten die Militärs für María do Rosario da Silva (36) zum
Beispiel, dass sie es sich zwei Mal überlegt, ihre Tochter in die Schule Vila
Holanda in der Favela Complexo da Maré zu bringen – wegen der Gefahr, in eine
Schiesserei zu geraten. Und wer es glücklich bis zur Schule schafft, muss als
erstes den Schulsack leeren. So geschehen diesen Mittwoch in der Favela Kelson’s
im Norden der Stadt, wo die Militärs die Kinder zwischen 7 und 12 Jahren in
einer Reihe antreten liessen, um ihre Sachen zu zeigen, die von den mit
Kriegswaffen ausgerüsteten Soldaten inspiziert wurden.
·
*Estado
de Excepción en Río de Janeiro. Zuerst
erschienen in der uruguayischen Zeitschrift Brecha, danach von Rebelión am 24. Februar
2018 übernommen.
"Willkommen in Syrien". |