Sich die Hände verbrennen

Freitag, 23. Februar 2018



Eric Nepomuceno*
Es gibt viel zu analysieren bei Michel Temers Militarisierungsdekret für die Provinz von Rio de Janeiro. Theoretisch geht es nur um eine Intervention in die öffentliche Sicherheit wegen der Gewaltexplosion. Tatsächlich geht es um mehr.
Im Lauf der letzten neuneinhalb Jahre intervenierten die Streitkräfte, insbesondere das Heer, zwölf Mal in Rio, speziell in seiner Hauptstadt. Aber stets nur punktuell, auf Verlangen des jeweiligen Provinzgouverneurs und im Verbund mit den lokalen Sicherheitskräften. Die Resultate waren minim, und die Aktionen hinterliessen insbesondere bei den BewohnerInnen der Favelas einen berechtigten Eindruck von Gewalt und Demütigung.
Früherer Militäreinsatz in der Favela Rocinha.

Jetzt ist vieles anders. Mit der Ernennung eines Generals – Walter Braga Netto – zum Interventionschef für den ganzen Bereich der öffentlichen Sicherheit unterstellt ihm das Temer-Dekret die zivile Polizei (Ordnung und Kripo), die Militärpolizei [A.d.Ü.: trotz ihres Namens nicht Teil der Streitkräfte, sondern dem Gouverneur unterstellt], das Gefängniswesen, die polizeilichen Ermittlungsorgane und sogar die Feuerwehr.
Und weiter wird Braga Netto nicht Gouverneur Luis Fernando Pezão Bericht erstatten, sondern direkt dem Verteidigungsminister, Raul Jungmann, und dem Chefgeneral für nationale Sicherheit, Sergio Etchegoyen.  Der absolut unfähige Provinzgouverneur gab gestern zu: „hier endet“ seine Karriere.
General Braga Netto kann im ganzen Bereich der öffentlichen Sicherheit nach Belieben Personal einsetzen, absetzen oder versetzen. Er kann und wird über die Repression in den Hochburgen des Drogenhandels, der praktisch alle der über tausend Favelas der Stadt kontrolliert, und über Massnahmen in der Provinz, die ebenfalls unter dem Bandenkrieg um die Territorialkontrolle leidet, bestimmen.
Konkret wird die Reichtums- und Bevölkerungs-mässig zweitgrösste brasilianische Provinz, eine Art Schaufenster für die Welt, militärisch interveniert. Und es gibt eine neue Macht: Das Heer wird das ganze Sicherheitskorps der Provinz und eine grosse Menge militärischer Truppen kommandieren. Es wird in Wirklichkeit bestimmen, was und wann etwas gemacht wird. Eine unerhörte Massnahme, von extremer Schwere und bestimmt spärlichstem Nutzen. Die Soldaten sind für den Kampf gegen den Feind ausgebildet, nicht für Kriminalistik. Dies, um nicht zu sagen, dass sie in ihrer übergrossen Mehrheit weder die Stadt Rio noch die Gassen und Wege der Berge kennen, die von schwer bewaffneten Banden, die wenig oder nichts zu verlieren haben, kontrolliert werden.
Praktisch einhellig haben die angesehensten Experten für öffentliche Sicherheit in Rio die Initiative von Temer scharf abgelehnt. Der jahrzehntelang mit dem Thema befasste Spanier Ignacio Cano meinte: “Ein weiterer Schritt in die stets gleiche Richtung. Er huldigt dem Mythos, die Armee sei die Lösung.“ Auch die brasilianische Soziologin Julia Leimgruber hält die Intervention für wirkungslos.
Die Provinz ist wortwörtlich bankrott. Die Hälfte der Polizeiwagen fährt nicht mehr wegen fehlendem Service. Die Lohnzahlung in diesem Sektor erfolgt mit zweimonatiger Verspätung. Die schusssicheren Westen haben in ihrer Mehrheit ihre funktionsdauer überschritten. Gleichzeitig ist die Bewaffnung der Drogendealer state of the art und jener der Sicherheitskräfte überlegen.
Aber all dies macht Rio nicht zum Ausnahmefall in Brasilien: Gewalt und Unsicherheit breiten sich in vielen anderen Provinzen aus, sogar mit höherem Terrorindex als dem von Rio.
Warum also die exklusive Militärintervention? Erstmal wegen ihrer Sichtbarkeit und der Nonstop-Kampagne der grossen Medien, wieder einmal angeführt von TV Globo. Jetzt, während des Karnevals, zeigte der Sender Festszenen aus allen Provinzhauptstädten des Landes, aus Rio aber vorallem Gewaltszenen.
Und weil Temer darauf spekulierte, mit einer Massnahme, die den Mittelschichten passen und die konservativsten Sektoren positiv beeinflussen würde, seine fast bei null liegende Beliebtheitsrate ein wenig zu steigern. Und noch aus einem konkreten Grund: Solange es irgendwo im Land eine Bundesintervention gibt, kann der Kongress keine Verfassungsänderung beschliessen. Und darum geht es im Grund: Über die von Temer und den Kapitaleignern mit Klauen und Zähnen verteidigte Reform des Rentensystems kann der Kongress nicht abstimmen. Genauer, sie kann da nicht Schiffbruch erleiden, was ungweigerlich der Fall wäre.
Temer kann sich eines unpopulären Themas entledigen und versuchen, seiner mehr als farblosen Figur etwas Glanz zu verleihen. Was er vielleicht nicht weiss, ist, dass er sich in Tat und Wahrheit seine Hände verbrennt. Und die, die wegen seines Dekrets angegriffen und gedemütigt werden, sind nicht die Dealer, sondern die eh sich selbst überlassenen BewohnerInnen der Favelas. Die, übrigens, auch wählen gehen.
·        Página/12, 17.2.18: Con las dos manos en el fuego