Eric
Nepomuceno*
Es gibt
viel zu analysieren bei Michel Temers Militarisierungsdekret für die Provinz
von Rio de Janeiro. Theoretisch geht es nur um eine Intervention in die
öffentliche Sicherheit wegen der Gewaltexplosion. Tatsächlich geht es um mehr.
Im Lauf der
letzten neuneinhalb Jahre intervenierten die Streitkräfte, insbesondere das
Heer, zwölf Mal in Rio, speziell in seiner Hauptstadt. Aber stets nur
punktuell, auf Verlangen des jeweiligen Provinzgouverneurs und im Verbund mit
den lokalen Sicherheitskräften. Die Resultate waren minim, und die Aktionen
hinterliessen insbesondere bei den BewohnerInnen der Favelas einen berechtigten
Eindruck von Gewalt und Demütigung.
Früherer Militäreinsatz in der Favela Rocinha. |
Jetzt ist
vieles anders. Mit der Ernennung eines Generals – Walter Braga Netto – zum Interventionschef
für den ganzen Bereich der öffentlichen Sicherheit unterstellt ihm das
Temer-Dekret die zivile Polizei (Ordnung und Kripo), die Militärpolizei
[A.d.Ü.: trotz ihres Namens nicht Teil der Streitkräfte, sondern dem Gouverneur
unterstellt], das Gefängniswesen, die polizeilichen Ermittlungsorgane und sogar
die Feuerwehr.
Und weiter
wird Braga Netto nicht Gouverneur Luis Fernando Pezão Bericht erstatten,
sondern direkt dem Verteidigungsminister, Raul Jungmann, und dem Chefgeneral
für nationale Sicherheit, Sergio Etchegoyen. Der absolut unfähige Provinzgouverneur gab
gestern zu: „hier endet“ seine
Karriere.
General
Braga Netto kann im ganzen Bereich der öffentlichen Sicherheit nach Belieben
Personal einsetzen, absetzen oder versetzen. Er kann und wird über die
Repression in den Hochburgen des Drogenhandels, der praktisch alle der über tausend
Favelas der Stadt kontrolliert, und über Massnahmen in der Provinz, die
ebenfalls unter dem Bandenkrieg um die Territorialkontrolle leidet, bestimmen.
Konkret
wird die Reichtums- und Bevölkerungs-mässig zweitgrösste brasilianische
Provinz, eine Art Schaufenster für die Welt, militärisch interveniert. Und es
gibt eine neue Macht: Das Heer wird das ganze Sicherheitskorps der Provinz und
eine grosse Menge militärischer Truppen kommandieren. Es wird in Wirklichkeit
bestimmen, was und wann etwas gemacht wird. Eine unerhörte Massnahme, von
extremer Schwere und bestimmt spärlichstem Nutzen. Die Soldaten sind für den
Kampf gegen den Feind ausgebildet, nicht für Kriminalistik. Dies, um nicht zu sagen,
dass sie in ihrer übergrossen Mehrheit weder die Stadt Rio noch die Gassen und
Wege der Berge kennen, die von schwer bewaffneten Banden, die wenig oder nichts
zu verlieren haben, kontrolliert werden.
Praktisch
einhellig haben die angesehensten Experten für öffentliche Sicherheit in Rio
die Initiative von Temer scharf abgelehnt. Der jahrzehntelang mit dem Thema
befasste Spanier Ignacio Cano meinte: “Ein
weiterer Schritt in die stets gleiche Richtung. Er huldigt dem Mythos, die
Armee sei die Lösung.“ Auch die brasilianische Soziologin Julia Leimgruber hält
die Intervention für wirkungslos.
Die Provinz
ist wortwörtlich bankrott. Die Hälfte der Polizeiwagen fährt nicht mehr wegen fehlendem
Service. Die Lohnzahlung in diesem Sektor erfolgt mit zweimonatiger Verspätung.
Die schusssicheren Westen haben in ihrer Mehrheit ihre funktionsdauer
überschritten. Gleichzeitig ist die Bewaffnung der Drogendealer state of the art und jener der
Sicherheitskräfte überlegen.
Aber all
dies macht Rio nicht zum Ausnahmefall in Brasilien: Gewalt und Unsicherheit
breiten sich in vielen anderen Provinzen aus, sogar mit höherem Terrorindex als
dem von Rio.
Warum also
die exklusive Militärintervention? Erstmal wegen ihrer Sichtbarkeit und der
Nonstop-Kampagne der grossen Medien, wieder einmal angeführt von TV Globo. Jetzt,
während des Karnevals, zeigte der Sender Festszenen aus allen
Provinzhauptstädten des Landes, aus Rio aber vorallem Gewaltszenen.
Und weil
Temer darauf spekulierte, mit einer Massnahme, die den Mittelschichten passen und
die konservativsten Sektoren positiv beeinflussen würde, seine fast bei null
liegende Beliebtheitsrate ein wenig zu steigern. Und noch aus einem konkreten
Grund: Solange es irgendwo im Land eine Bundesintervention gibt, kann der
Kongress keine Verfassungsänderung beschliessen. Und darum geht es im Grund: Über
die von Temer und den Kapitaleignern mit Klauen und Zähnen verteidigte Reform
des Rentensystems kann der Kongress nicht abstimmen. Genauer, sie kann da nicht
Schiffbruch erleiden, was ungweigerlich der Fall wäre.
Temer kann
sich eines unpopulären Themas entledigen und versuchen, seiner mehr als
farblosen Figur etwas Glanz zu verleihen. Was er vielleicht nicht weiss, ist,
dass er sich in Tat und Wahrheit seine Hände verbrennt. Und die, die wegen
seines Dekrets angegriffen und gedemütigt werden, sind nicht die Dealer, sondern
die eh sich selbst überlassenen BewohnerInnen der Favelas. Die, übrigens, auch
wählen gehen.
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17.2.18: Con las
dos manos en el fuego