von Jasmine
Pétry*
Ein Jahr.
Der erste Jahrestag der Friedensabkommen ist niederschmetternd. Morde,
Verfolgungen und Drohungen. Worüber soll manj sich freuen, ein Jahr nach
Unterzeichnung dessen, was ein historisches Abkommen zwischen der Regierung und
der FARC-Guerilla sein sollte, das unter fast 70 Jahre bewaffneten Kampfs einen
Schlussstrich ziehen sollte?
Insgesamt
sollen 18.3 % der 6 Abkommenspunkte umgesetzt worden sein.[1] Um genauer zu sein: diese 18.3 %
sind grossteils der Guerilla geschuldet, die ihre Verpflichtungen aus den
Abkommen honoriert hat, also sich der Justiz stellen, Waffen und Güter abgeben
und eine politische Partei gründen. Was den Rest betrifft – Landreform, Opfer
des Konflikts, Garantie der Nicht-Wiederholung, freiwilliger Coca-Ersatz,
Amnestie, Spezialjustiz für Kriegsverbrechen: nichts oder fast nichts wurde
umgesetzt. 600 ehemalige FARC-Mitglieder sind zwar amnestiert, aber weiter im
Gefängnis. Jeden Tag wird offenkundiger, dass der kolumbianische Staat seine
Verpflichtungen nicht einhält. Ex-Guerillas und SozialaktivistInnen werden
zunehmend ermordet und bedroht. Dem Studieninstitut für Entwicklung und Frieden
(Indepaz), wurden letztes Jahr 170 Kader der Sozialorganisationen umgebracht.
Dies bedeutet einen Mord auf 2.1 Tagem 45 % mehr als 2016.[2] Im Januar 2018 sind Indepaz zufolge
23 Kader der Sozialbewegungen ermordet worden, fünf davon nachgeweisenermassen
von der Armee.[3]
Andererseits zählt die FARC-Partei
49 ermordete Ex-Guerillas oder Angehörige seit Unterzeichnung des Abkommens am
24. November 2016.[4] Soeben trifft die Nachricht von der
Ermordung von vier weiteren Ex-Guerillas der FARC-EP ein, unter ihnen ein
Minderjähriger. Von der schlimmen Gesamtzahl sind acht im laufenden Jahr
ermordet worden. Die Situation ist so, dass die UNO sie als alarmierend
bezeichnete und davon ausgeht, dass für die FARC-Mitglieder keine ausreichenden
Schutzmassnahmen gelten.[5] Ungefähr die Hälfte der ermordeten
FARC-Mitglieder waren amnestierte Ex-Gefangene; das deutet darauf, dass
Freigelassene aussergerichtlich hingerichtet werden. 2018 ist Wahljahr. Die
Zunahme der Gewalt gegen die Sozialbewegungen und die politische Opposition
wächst offenbar im Rhythmus, dass die Wahltermine (11. März und 27. Mai) näher
rücken. Es scheint, dass die ersten “Wahlen in Frieden” nichts am Politikmodell
der traditionellen Machtgruppen der letzten 70 Jahre geändert haben.
"Der Krieg ist vorbei"- Links der kolumbianische Präsident Santos, in der Mitte der kuabnische Vermittler Castro und rechts der EX-FARC-Kommandant Timochenko. |
So wie die
Guerilla ihre Waffen abgab, hat das Terror-Regime wieder Fahrt aufgenommen. Die
FARC ist heute ein Partei, die vollkommen transparent gegen alle Unbill um ihre
politische Existenz kämpft. Jetzt, zu Beginn von 2018, haben die Morde an
SozialaktivistInnen und Ex-Guerillas der FARC-EP nochmals zugenommen. Und die
Drohungen der paramilitärischen Gruppen in den verschiedenen Regionen
intensivieren sich. Laut der Defensoría del Pueblo, also der der
Generalstaatsanwaltschaft unterstellten Ombudsstelle für Menschenrechte,
mussten zwischen dem 17. Und dem 20. Januar 2018 mehr als 1000 Menschn aus
verschiedenen Gebieten des Landes flüchten.[6] Zudem haben in Massakern zehn
Menschen ihr Leben verloren und sind vierzehn andere verletzt worden. Und die
ONIC[7] meldet, dass die indigenen
Gemeinschaften wieder falsos positivos[8] denunzieren. Vor wenigen Tagen ist
Aracely Canaveral Vélez, eine Pensionierte aus der Konfektionssparte, aber
weiter in der Gewerkschaft und neu in der nach der Demobilisierung entstandenen
FARC-Partei aktiv, von den Paramilitärs der Autodefensas Gaitansitas de
Colombia (AGC) mit dem Tod bedroht worden. Die AGC schrieben in ihrem Pamphlet:
„… Aracely Canaveral ab sofort und für
immer zum militärischen Objekt erklären (…) Jeder Verbrecher der FARC, der sie
besucht oder kontaktiert, wird ebenfalls liquidiert.“ Während des
Verfassens dieser Zeilen wurde der Bruder des Bürgermeisters von Buenos Aires
im Departement Cauca ermordet.[9]
Am 15.
September 2016 erklärte der Staatspräsident: „Als Regierung müssen wir unsere Verpflichtungen einhalten und die
köperliche Unversehrtheit jeder Person garantieren, die am politischen Leben
teilnimmt, und insbesondere sicher stellen, dass kein Mitglied einer Partei,
einschliesslich der politischen Bewegung, die aus dem Übergang der FARC ins
zivile Leben entstehen soll, Opfer der Gewalt wird.“ Was die 1985 als einer
der zahllosen Friedensversuche zwischen der Regierung und der Guerilla der
FARC-EP entstandene politische Bewegung Unión Patriótica betrifft, meinte
Santos an jenem Tag: „Ich verpflichte
mich feierlich vor Ihnen, alle nötigen Massnahmen zu ergreifen, damit in Kolumbien
nie mehr eine politische Organisation durchmachen muss, was die Unión
Patriótica durchmachen musste“ (die Ermordung von 5000 ihrer Mitglieder in
acht Jahren). Nun, Herr Präsident, wo bleibt Ihre Verpflichtung angesichts der
systematischen Ermordung von Mitgliedern oder SympathisantInnen der neuen
FARC-Partei? Oder sollte Ihr reales, nicht nur verbales Engagement den
Projekten der Minenförderung wie jenem von Guarango im Dorf La Aguada nahe
Medellín, wo Aracely lebt und wo die Paramilitärs ungehindert agieren?
Die
Europäische Union, offizielle Garantin des Friedensprozesses, unterzeichnete am
25. Janaur 2018 ein Abkommen mit dem Fondo Colombia en Paz für € 12 Mio. für
den Postkonflikt[10]. Dürfen wir EuropäerInnen fragen,
ob die Übergabe dieser Mittel an einen Staat, der seine eingegangenen
Verpflichtungen nicht einhält, ethisch vertretbar ist?
Dieser
Friedensprozess stellte die grösste Chance für einen Ausweg des Gewaltszyklus
dar, in dem Kolumbien seit mehr als einem halben Jahrhundert steckt; die grosse
Gelegenheit dafür, dass Politik ohne Waffen gemacht werden kann. Aber das
Erstarken der paramilitärischen Aktivitäten und der Repression durch Armee und
Polizei stellen diese historische Möglichkeit in Frage. Sind die FARC-EP
eigentlich nicht aus der bäuerlichen Selbstverteidigung gegen die Gewalt des
Staates entstanden?
·
Die
Autorin ist Mitglied von Arlac, Association des Réfugiés de l’Amérique Latine
et des Caraïbes (Belgique)
____________________________
(zas,
4.2.18) In der letzten Zeit vergeht selten ein Tag ohne die Nachricht von einem
oder mehreren Morden an AktivistInnen in Gebieten mit historischer Präsenz der
FARC, aber auch der anderen Guerilla, des ELN. Die „Friedensdynamik“ wird immer
beklemmender, trotz tapferer Versuche der FARC-Führung, einen unter den
Bedingungen der medialen Umzingelung, der staatlichen Nicht-Umsetzung der
Abkommen und der eskalierenden Repression extrem prekären Wahlkampf zu führen.
In den Auffangzonen für die Demobilisierten sind meistens nicht einmal die
grundlegendsten Voraussetzungen für den Aufenthalt grosser Gruppen von
Ex-KämpferInnen gegeben; keine sanitären Bedingungen, keine akzeptablen
Unterkunftsbedingungen, keine Berufsschulungskurse etc. Deswegen und wegen der offensichtlichen
Nicht-Einhaltung der Abkommen durch den Staat versuchen immer mehr
Ex-Guerillas, sich alleine oder in Gruppen durchzuschlagen; sie verlassen die
Lager ganz oder temporär, einige versuchen zu Verwandten zu gelangen, andere
schliessen sich den dissidenten Guerillagruppen der Ex-Farc oder dem ELN an
etc. Kurz, die interne Disziplin geht vor die Hunde. Die ELN-Guerilla
ihrerseits befindet sich in Quito, Ecuador, ebenfalls in Friedensverhandlungen
mit dem Regime. Dieses setzt diese aus, wenn die Guerilla bewaffnete Aktionen
nach dem von der Regierung durchgeboxten Auslaufen einer temporären Waffenruhe
unternimmt. Die FARC-Führung attestiert Präsident Santos die Bereitschaft, die
Abkommen eigentlich umsetzen zu wollen, ohne diese Einschätzung allerdings zu
begründen. Doch wachsende Teile der ehemaligen Truppe, ihrer sozialen Basis und
wohl auch die ELN-Guerilla können hinter der aktuellen Dynamik nichts anderes
erkennen als den unbedingten Willen der Oligarchie und der USA, nach der
Entwaffnung der FARC ein allgemeines Terrorregime zur gesellschaftlichen Norm
zu machen.
[1] Bericht des Observatorio de
Seguimiento de Implementación de los Acuerdos de Paz (OIAP) vom 5. Januar 2018.
[2] El Tiempo, Rubrik Nación, 7. Januar
2018. Indepaz, geleitet von einem ehemaligen Gesundheitsminister, gilt als
autoritative Quelle.
[3] Telesur,
2. Februar 2018.
[4] Semana, 23. Januar 2018.
[5] !Pacifista! Online, 2. Februar
2018.
[6] El Espectador, 22. Januar
2018.
[7] Organización Nacional Indígena de
Colombia.
[8] Der Begriff bezieht sich auf
Opfer der Streitkräfte, die als gefallene Guerillas ausgegeben werden. So können
die Militärs positive Resultate ihrer Handlungen vorweisen und die Beteiligten
Belohnungen einheimsen. Für die Zeit von 2007 bis 2009 sind mehr als 4000
solcher Fälle registriert.
[9] El País, 24. Januar 2018.
[10] El Espectador, 25. Januar
2018.