Venezuela: «Klappe zu» macht uns nicht schöner

Montag, 12. August 2019


Jessica Dos Santos*

Vor wenigen Tagen erfuhr ich, dass die Tochter einer Nachbarin Opfer zahlreicher Misshandlungen durch ihren Ehemann ist, weil «ohne ihn könnte ich in dieser schweren Krise nicht durchkommen, denn ich verdiene nur den Mindestlohn, und die Lösung bringt er, vor allem für die Medikamente der Tochter.»
Gleichzeitig kämpft eine ehemalige Arbeitskollegin für mehr Alimente seitens des Vaters ihrer Kinder. Das Gesetz legt einen Prozentsatz des Festlohns dafür fest, aber seine wichtigen Monatseinkünfte kommen aus dem informellen Sektor, was sie weiss, aber nicht beweisen kann.
Und jeden Tag müssen mehr und mehr KollegInnen ihren Versuch der wirtschaftlichen Unabhängigkeit an den Nagel hängen, um sich ganz der Hausarbeit und den Kindern zu widmen: nicht als (selbstverständlich absolut gültige) freie Wahl, sondern unter Zwang (es wird z. B. immer schwieriger, für die Kinderbetreuung aufzukommen). So übt die Wirtschaftslage einen immer massloseren und umfassenden Einfluss auf das Leben der Frauen aus.
Zuerst kam der Mangel an Hygieneartikeln bei Menstruation (Binden etc.), dann kamen die hohen Kosten für die Empfängnisverhütung (die immer mehr steigen), und heute bestimmt die sexistische Gewalt (in ihren verschiedenen Formen) die Szene.
Dazu liefert der venezolanische Staat seit langem keine Daten. Das Neueste, was wir kennen, war die knappe Erklärung von Staatsanwalt Tareck William Saab von letztem Dezember (als dank unserem Druck der Feminizid der venezolanischen Tänzerin Mayell Hernández in die Schlagzeilen kam): «In unserer Amtszeit kam es zu 96 Fällen von Feminiziden; 85 mutmasslich Verantwortliche bekamen Freiheitsentzug; es kam zu 78 Anschuldigungen und zu 73 Anklagen.» Danach gab es dazu keine weiteren Angaben mehr.
Wie war es vorher? Was kam danach? Wie sieht es heute aus? Müssen wir für eine Aktualisierung auf einen weiteren Mord warten?
Heute fällt es den Behörden leichter, von einem Nationalen Plan der humanisierten Geburt (parto humanizado)[i] zu reden, dessen Reichweite leider weniger gross als erwünscht und als im TV dargestellt ist, oder dem Plan der Boni (der ist ok, aber das reicht nicht mal für Windeln).
Unterdessen vertiefen sich einige von uns Frauen in die Debatte, ob wir nosotras, nosotros oder nosotres sagen sollen[ii] oder einige glauben, die Demontage des Konzepts der romantischen Liebe sei wichtiger als diese Wirklichkeit, die uns verschlingt: Sie bringen uns um, auch die mit theoretisch sehr klaren Konzepten.
Nur ein Beispiel: Im Mai wurde Melissa Sidney Arcilas Ruiz mit zwölf Messerstichen ermordet, durch José Gregorio Pérez, seit einem Jahr ihr Ex-Partner (und Vater ihrer zwei Kinder). Melissa verbrachte die zwölf Monate seit der Trennung mit Anzeigen gegen den Aggressor, der ihr in zwei früheren Gewalttaten schon die Nase gebrochen hatte. Wie wurde sie von den Behörden behandelt? Ihren Angehörigen zufolge mit Nicht-Beachtung, vom «weil uns die Tinte für den Druck des Wegweisungsbefehls fehlt», über «du musst den blauen Fleck, die Wunde bringen» bis zur Festnahme des Typen und seiner Freilassung wenige Stunden später.
Also?
2014 erreichten wir mit einem anstrengenden Kampf, dass Feminizid und Anstiftung zu Selbstmord als Delikte typisiert wurden. Dies gestattete, die Anzahl von Fällen geschlechtsspezifischer Gewalt sichtbar zu machen.
Ich erinnere mich, dass die Berechnungen für die Jahre 2015 und 2016 ergaben, dass deswegen alle drei Tage eine Frau starb. Wie viele sind es heute? Denn, ich weiss nicht, wie das bei Ihnen ist, aber ich erfahre jeden Tag von einem neuen Fall (viele, sehr viele, mit vorausgegangenen Anzeigen). Ebenso lässt uns eine oberflächliche Mediendurchsicht, für Juni mindestens 13 Feminizide zu erkennen und eine ähnliche Zahl für Juli (auch wenn die Medien immer noch von einem Delikt aus Leidenschaft reden).  Die Mehrheit dieser Fälle ereignet sich im privaten Raum, die Täter sind die Partner oder Ex-Partner.
Und eine einfache Medienlektüre (die viele von uns machen und dann die Stimme erheben) erlaubt uns, mehr als 40 im Ausland ermordete Venezolanerinnen zu zählen, nachdem sie in die Netze des Frauenhandels gerieten.
Soll so viel Blick-Abwenden uns bedeuten, es sei Zeit, dass wir uns aus dem öffentlichen Raum zurückziehen, nachhause gehen und die Klappe halten, denn so sehen wir hübscher aus oder können uns mindestens sehen?
Wir müssen zahllose Probleme des täglichen Überlebens lösen und gleichzeitig müssen wir eine neue Kampfagenda entwerfen, trotz aller Differenzen, um zu verhindern, dass diese Dinge sich weiter ereignen. Wir müssen uns in der Aktivierung wieder begegnen.
* 15yultimo.cm, 7.8.19: Calladitas nos vemos más bonitas.


[i] A.d.Ü.: Ein vor zwei Jahren lanciertes Programm rund um die Schwangerschaft zugunsten vor allem von verletzlichen Frauen mit Schwerpunkt im Kinder-/Frauenspital Hugo Chávez in Caracas.
[ii] «Nosotras» ist von Feministinnen für das früher einzig dominierende, männlich geprägte «nosotros» für «wir», bei dem Frauen «mitgedacht» werden», eingeführt worden. «Nosotres» gibt das «wir» für beide oder mehrere Geschlechter wieder.