Das Monster vor der Tür, Agrarindustrie, Pharma, Kolonialismus, Klassenkampf

Mittwoch, 18. März 2020


(zas, 18.3.20) Unbedingt zum Thema Corona und Kapitalismus zu lesen:

By Haymarket Books / March 12 2020
und
Ein Gespräch mit dem Evolutionsbiologen Rob Wallace über die Gefahren von Covid-19, die Verantwortung der Agrarindustrie und nachhaltige Lösungen zur Bekämpfung von Infektionskrankheiten
Von Rob Wallace (Interview: Yaak Pabst) marx21
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Das Monster vor der Tür

In seinem Corona-Artikel geht er auf 3 Punkte ein:
1.       Die Kolonialismusfrage. Als die spanische Grippe 1918-1919 zwischen 1 – 2 Prozent der Weltbevölkerung dahinraffte, galt (und gilt bis heute) die mediale Aufmerksamkeit dem Geschehen in Europa. Davis dazu:
«Aber es wird selten gesagt, dass sich rund 60 Prozent der weltweiten Todesfälle in Westindien ereigneten, wo Kornexporte ins Vereinigte Königsreich und eine brutale Requisitionspraxis mit einer grossen Dürre zusammenfielen. Die daraus resultierende Nahrungsknappheit trieb Millionen an den Rand des Verhungerns. Sie wurden Opfer einer finsteren Synergie von Mangelernährung, die ihre Immunabwehr gegen Infektionen schwächte, und einer grassierenden bakteriellen und virologischen Lungenentzündung». Heute «weiss niemand, was in den kommenden Wochen in Lagos, Nairobi, Karachi oder Kalkutta passieren wird.»
Die Klassenfrage in den USA. Die Grippeepidemie 2018 hat
«den schockierenden Mangel an Spitalbetten nach 20 Jahren profitorientierter Streichung von Aufnahmekapazität (die bereichsspezifische Form von Just-in-time-Management) offengelegt … Die Alters- und Pflegeheimindustrie, die 2.5 Millionen ältere Americans warenhausmässig aufnimmt, ist seit langem ein Skandal. Der New York Times zufolge sterben jedes Jahr 380'000 PatientInnen in den Pflegeheimen wegen der mangelnden Kontrolle von Grundprozeduren der Infektionskontrolle. Viele Heime – vor allem in den Südstaaten – finden es billiger, Bussen für Hygieneverletzungen zu bezahlen als neues Personal anzustellen und auszubilden.»
2.       Der Coronaausbruch hat sofort die krassen Klassenunterschiede im Gesundheitswesen aufgezeigt:
«Die Leute mit guter Krankenversicherung und der Möglichkeit, von zuhause aus zu arbeiten oder zu unterrichten, sind angenehm isoliert, solange sie die Sicherheitsregeln befolgen. Staatsangestellte und andere Gruppen von gewerkschaftlich organisierten ArbeiterInnen mit akzeptabler Versicherung werden vor der schwierigen Wahl zwischen Einkommen und Schutz stehen. Während Millionen von DienstleistungsarbeiterInnen im Tieflohnsektor, LandwirtschaftsarbeiterInnen, temporär Angestellte, Arbeitslose und Obdachlose den Wölfen zum Frass vorgeworfen werden.»
3.       Die Pharmaindustrie. «15 der 18 grössten Unternehmen haben Forschung und Entwicklung von neuen Antibiotika und Virenmittel ganz aufgegeben.» Es gibt für sie lukrativere Bereiche wie «Herzarzneien, suchterzeugende Beruhigungsmittel und Behandlung von männlicher Impotenz». Ein genereller Impfstoff gegen Grippe allgemein wäre seit Jahrzehnten möglich, «also ein Vakzin, das die nicht mutationfähigen Teile der Oberflächenproteine des Virus angreift», aber war nie Priorität.

Agrarindustrie
Auszug aus dem Interview mit Wallace:
Du erforschst Epidemien und ihre Ursachen seit mehreren Jahren. In deinem Buch "Big Farms Make Big Flu" versuchst du, die Zusammenhänge zwischen industriellen landwirtschaftlichen Methoden, Ökolandbau und virusbedingter Ansteckungskrankheiten aufzuzeigen. Was sind deine Erkenntnisse?
Die eigentliche Gefahr jedes neuen Ausbruchs ist das Versagen, oder, besser gesagt, die zweckdienliche Weigerung zu begreifen, dass jeder neue Covid-19-Fall kein Einzelfall ist. Das vermehrte Auftreten von Viren steht in engem Zusammenhang mit der Nahrungsmittelproduktion und der Profitabilität der multinationalen Unternehmen. Wer verstehen will, warum Viren immer gefährlicher werden, muss das industrielle Modell der Landwirtschaft und insbesondere der Viehzucht untersuchen. Gegenwärtig sind nur wenige Regierungen und wenige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler dazu bereit. Ganz im Gegenteil: Wenn die neuen Virusinfektionen ausbrechen, sind die Regierungen, die Medien und sogar die meisten medizinischen Einrichtungen so auf jeden einzelnen Notfall konzentriert, dass sie die strukturellen Ursachen, die dazu führen, dass mehrere eher marginale Krankheitserreger nacheinander zu plötzlicher weltweiter Berühmtheit gelangen, außer Acht lassen.
Wer ist daran schuld?
Ich habe industrielle Landwirtschaft gesagt, aber es gibt einen größeren Rahmen dafür. Das Kapital erobert weltweit die letzten Urwälder und die letzten von Kleinbauern bewirtschafteten Flächen. Diese Investitionen treiben die Entwaldung und damit eine Entwicklung voran, die zur Entstehung neuer Krankheiten führt. Die funktionelle Vielfalt und Komplexität dieser riesigen Landflächen wird so vereinheitlicht, dass zuvor eingeschlossene Krankheitserreger auf die lokale Viehzucht und die menschlichen Gemeinschaften überspringen. Kurz gesagt, die Metropolen des globalen Kapitals, Orte wie London, New York und Hongkong, müssen als Krisenherd für die wichtigsten Krankheiten betrachtet werden.
Bei welchen Krankheiten ist das der Fall?
Es gibt derzeit keine "kapitalfreien" Krankheitserreger. Selbst die Weltabgeschiedensten sind betroffen, wenn auch in entfernter Weise. Ebola, Zika, die Coronaviren, das Gelbfieber, verschiedenste Vogelgrippen und die afrikanische Schweinepest bei Schweinen sind nur einige der vielen Erreger, die aus dem entlegensten Hinterland in Stadtrandgebiete, in die regionalen Hauptstädte und schließlich in das globale Reisenetz gelangen. Es braucht nur wenige Wochen von den Flughunden in Kongo, die vermutlich das Ebolavirus übertragen, bis zu den Sonnenanbetern in Miami, die an dem Virus sterben.
(…)
Durch Züchtung genetischer Monokulturen von Nutztieren werden alle eventuell vorhandenen Immunschranken beseitigt, die die Übertragung verlangsamen könnten. Eine große Tierpopulation und -dichte fördert hohe Übertragungsraten. Solche beengten Verhältnisse beeinträchtigen die Abwehrkräfte des Immunsystems der Tiere. Ein hoher Durchlauf von Tieren, der Teil jeder industriellen Produktion ist, versorgt die Viren mit ständig neuen Wirtstieren, was die Ansteckungsfähigkeit der Viren fördert. Mit anderen Worten: Die Agrarindustrie ist so auf Gewinn ausgerichtet, dass die Entscheidung für ein Virus, das eine Milliarde Menschen töten könnte, das Risiko wert zu sein scheint.