El Salvador: Viren, Maras, Viren...

Mittwoch, 29. April 2020


(zas, 29.4.20) Seit letztem Freitag werden in El Salvador urplötzlich über 20 Morde pro Tag verübt, nachdem es offiziell in der Zeit zuvor 2-3 waren. Die Täterschaft stand schon “fest”, bevor die Ermittlungen überhaupt begannen: die Maras. Das ist bis jetzt wahrscheinlich, aber nicht gesichert. Das verhinderte letzten Samstag keineswegs eine schnelle Reaktion des Präsidenten, die gleiche wie schon in der Vergangenheit: “Höchster Alarm in allen Gefängnissen für Bandenmitglieder. Aufgrund geheimdienstlicher Informationen über Mordebefehle aus den Gefängnissen. 24h/Tag Totaleinsperrung, alle Tage, solange die Polizeioperationan andauern. Die Anführer kommen in Einzelhaft.“ Die Rechtslage hat sich seit Februar nicht geändert: Der Staatspräsident hat danach nichts zu beordern, die Gefängnisleitung kann den einzig entscheidungsbefugten HaftrichterInnen Gesuche für bestimmte Haftregimes stellen. RichterInnen hoben nach ein paar Tagen vielerorts das verschärfte Haftregime auf. Damals ging es um einen angeblich von Maras verübten Mord an einem Soldaten auf Heimurlaub; vermutlich aber wurde der Junge Opfer eines Streits um Wasserquellen. “Unwichtig”. Es galt damals, die Bevölkerung aufzuhetzen gegen eine Parlamentsmehrheit, die unziemenderweise wissen wollte, wofür der Präsident gerade wieder einen neuen 100-Millionen-Kreditantrag stellte.
Am Sonntag doppelte Bukele nach: “Polizei und Armee müssen ihr Leben schützen, das ihrer Kollegen und der ehrlichen Bürger. Der Einsatz tödlicher Gewalt ist zur Selbstverteidigung oder zur Verteidigung des Lebens der Salvadorianer bewilligt. Wir rufen die Opposition dazu auf, sich auf die Seite der ehrlichen Bürger zu stellen und die von ihr kontrollierten Institutionen, aufzuhören, diejenigen zu schützen, die unser Volks ermorden.” 
Notwehr war schon bisher kein Delikt. Unter “Opposition” fasst das Regime mit Vorliebe seinen Hauptfeind FMLN mit der Rechtspartei ARENA (soweit noch nicht auf Linie) zusammen. So publiziert Bukele als erste Antwort auf seinen Tweet folgende “Bürgermeinung”: “Dieser Abschaum steckt dahinter, sie wollen die Pläne für die öffentliche Sicherheit boykottieren”, zusammen mit einer Fotomontage FMLN/ARENA. Auch Sicherheitsminister Rogelio Rivas wusste in das Horn seines Capos zu blasen: “Unser Land erlebt eine Zunahme der Morde; es scheint, sie haben ihnen politisch motivierte Befehle erteilt, um unsere Regierung zu zwingen, Notmassnahmen zu ergreifen und uns nachher zu kritisieren, weil wir das Leben der Salvadoreños mit all unserer tödlichen Kraft verteidigen.”
Am Samstag diktierte Buekele, dass die gefangenen Mitglieder verfeindeter Mara-Organisationen anders als bisher ab sofort in den Grosszellen nicht mehr getrennt werden. In dem Mass, wie sich die alte Mara-Weltsicht vom unbedingten Kampf gegen die jeweils andere Mara erhalten hat, wird es damit zwangsläufig wieder zu Toten kommen. Das war in den Nuller Jahren der Grund für ihr Trennung in den Knästen.
Im Land sind Armee und Polizei omnipräsent, kaum sonst jemand ist auf den Strassen. Kein Wunder, kommen Fragen auf. Wie etwa seitens des in Nicaragua asylierten Ex-Präsidenten Mauricio Funes, der sich mehrere Male als bemerkenswert gut informiert erwiesen hat. Er meinte: “Wie kommt es zu diesen Verbrechen vor den Augen von Polizei und Armee, wenn Nayib alle Sicherheitskräfte ins Territorium geschickt hat? Wie kommt es, dass die geheimdienstliche Information über die aus den Gefängnis stammenden Befehle erst nach der Tat erfolgt? (...) Wer hat die Befehle aus den Gefängnissen übermittelt, wenn angeblich alle Telefonsignale zu 100 % blockiert und alle Besuche vom Notstandsdekret verboten sind?”
Je nach Quelle fallen die Antworten unterschiedlich aus. Jeanette Aguilar, während Jahren Kriminalitätsexpertin der Jesuitenuni UCA, fragt sich: “Wie erklären sich diese Morde in einem militarisierten Land, mit mehr als 40’000 Militärs auf den Strassen, mit obligatorischer Quarantäne?” Ihre Antwort: “Was wirklich klar ist, die Botschaft, die sie senden, ist, dass es trotz der ganzen Regierungspropaganda eine territoriale, parastaatliche Macht gibt - sie, die Banden. Ich interpretiere das als eine Botschaft, die die Banden der Regierung schicken, und die wir von aussen nicht ganz entschlüsseln können, denn wir wissen nicht, wie sich die Regierung in den letzten Monaten zu diesen Gruppen verhalten hat.”

Maras als Ordnungsmacht
Dass die Dauerbehauptung des Regimes, die Lage unter Kontrolle zu haben, gelogen ist, steht fest (s. in diesem Blog El Salvador: Gewalt, Lügen, Gehirnwäsche und Putsch in slow motion – aktueller Stand). Das hat sich auch in der jetzigen Phase der Coronabedrohung deutlich gezeigt. Ende März beschlossen die drei wichtigsten Mara-Strukturen – die grösste, die Mara Salvatrucha oder MS-13, sowie die Sureños und die Revolucionarios, in die sich die Organisation Barrio 18 gespalten hat –die Ausgangssperre der Regierung in «ihren» Zonen zu unterstützen. Das Portal El Faro zitierte dafür diverse Begründungen. Da sagte ein Marero, im Notfall würden sie im Spital bestimmt nicht mit einem Atemgerät behandelt, ein anderer meinte, je mehr Virus, desto mehr Bullen in der Zone. Jedenfalls sei man übereingekommen, dass ab 31. März pro Familie nur eine Person zu bestimmten, von den Maras diktierten Öffnungszeiten der Geschäfte einkaufen darf. Wer sich nicht daran halte, werde verprügelt oder ermordet. Ausserhalb der Geschäftsöffnungszeiten dürfe sich niemand draussen aufhalten. Interessant diese Aussage eines MS-Sprechers: «Kontrollen [der Sicherheitskräfte] hat es auf den Strassen, aber nicht in den Comunidades. Es gibt Patrouillen, aber wenn sie weg sind, kommen alle raus und feiern. … Uns respektieren sie, wohl oder übel.»
Wenige Tage später zirkulierten Videos aus MS-kontrollierten Zonen, in denen Quarantänebrecher sich an die Hauswand stellen mussten, um «ihre» Baseballschläger-Hiebe zu bekommen. Laut dem ehemaligen El Faro-Journalisten Roberto Valencia soll bloss die MS diese Praxis angewendet haben, während die Sureños sich darauf spezialisierten, in «ihren» Zonen breit Hilfspakete an arme Familien zu verteilen. Wie das ähnlich die Kartelle in Mexiko oder das Comando Vermelho in Rio de Janeiro tun. Die MS ihrerseits scheint mehr auf die Strategie jener kolumbianischer Paramilitärs zu setzen, die im Department Nariño die Todesstrafe für QuarantänebrecherInnen androhten. Einig waren oder sind sich die Maras offenbar in der Aufforderung an «ihre» Bevölkerung, die Quarantäneverordnungen der Regierung zu beachten. Insgesamt deutet auch diese Epidemie-Praxis der Maras auf das Entstehen einer Art paramilitärischen Formationen hin, die Ordnungs- oder auch Sozialfunktionen wahrnehmen. Eine interessante Frage ist, woher die Sureños die Menge an verteilten Bedarfsgüter haben.

Maras, transnationaler Drogendeal und ein neualter Chefermittler der Polizei
Wie ist oder war die Beziehung Maras/Bukele? Viel ist von einem geheimen Stillstandabkommen die Rede, das die tiefe Mordrate erklären könne. Die oben erwähnte Jeanette Aguilar antwortete Anfang März auf die Frage nach einem neuen die tiefe Mordrate erklärenden Stillhalteabkommen: «Ja, diese Information habe ich von Polizeiquellen. Das ist natürlich schwierig zu belegen. Die Veränderungen fallen auf, nicht nur die der Banden, es scheint eine Linie zwischen den verschiedenen Akteuren der Gewalt zu geben.» Mit anderen Akteuren meint sie im Interview etwa polizeiinterne Todesschwadronen oder internationale Drogenhandelsringe. Ein Teil der Maras ist nach allen Erkenntnissen immer mehr an die Drogenkartelle angebunden – die meisten gegenseitigen Morde finden seit langem entlang der Schmuggelkorridore statt, dienen also deren Kontrolle. Auffallend ist, dass es nach Angaben der Generalstaatsanwaltschaft und der Polizei letztes Jahr (ab 1. Juni regierte Bukele) zu einem markanten Einbruch bei beschlagnahmten Kokainmengen gekommen ist, nach dem Rekord im letzten FMLN-Regierungsjahr.


In diesem Zusammenhang wirkt auch die am Sonntag bekanntgewordene Ernennung des Kommissars Héctor Mendoza Cordero zum Subdirector de Investigaciones der Policía Nacional, also zum höchsten Ermittler der Polizei, mitten in der neuen Mordwelle eigenartig.  Héctor Silva ist ein bekannter Journalist, der früher mehrere Primeurs aus den USA verbuchen konnte, mit Infos aus der US-Justiz zu Vorgängen in El Salvador. So auch in einem Artikel zu Mendoza Cordero aus dem Jahr 2013 in Insight Crime, einem an das US-Justizdepartment angelehnten Portal. Danach spielte Mendoza, in jenen Jahren Polizeichef im Westen des Landes, eine wichtige Rolle in kriminellen Machenschaften des Unternehmers Sandoval Villeda, der Teil des danach aufgeflogenen Drogen-Cartel de Texis gewesen sein soll. Ermittlungen belasteten Mendoza schwer, aber schadeten seiner Karriere nicht. Beim Regierungsantritt der 2. FMLN-Regierung 2014 wurde Mendoza, schon damals Chefermittler der Polizei, von diesem Posten abgesetzt, dafür machte ihn die US-Botschaft zum Vizechef der US-kolumbianischen Polizei- (und Militärschule) ILEA in El Salvador. 

Wie Aguilar sagte, die Lage der jetzigen Mordwelle können wir nicht klar “entschlüsseln (...), denn wir wissen nicht, wie sich die Regierung in den letzten Monaten zu diesen Gruppen verhalten hat.” Wenn es ein Stillhalteabkommen Maras/Regime gab, kann es jetzt nicht nur vorübergehend obsolet geworden sein. Denkbar ist auch ein partielles Stillhalteabkommen mit Teilen der Maras, die übergerodneten Interessen nicht in die Quere kommen. Die faktische Einstellung von Kokainbeschlagnahmungen (nicht erst seit Ausbruch der Covid-10-Epidemie) in einer Zeit, als der transnationale Deal quer durch Zentralamerika unvermindert anhielt (die kolumbianischen Kokainrekordernten sollten schliesslich monetarisiert werden) ist tatsächlich beunruhigend. Und die Ernennung des neuen, US-protegierten Chefermittlers mitten in einer wieder aufflammenden Mordserie im Land kann auch als Teil einer Disziplinierungsoffensive gegen Mara-Sektoren gelesen werden. Sollten wirklich Maras – die Rede ist insbesondere von der MS – für die neue Mordserie verantwortlich sein, müsste dahinter auf jedenfall ein wichtiges Motiv stecken, das das Verhalten Regierung/Maras markant verändert hätte. Es gibt null plausiblen Grund, warum die Maras ausgerechnet die aktuelle Situation der Militarisierung des ganzen Landes mit weitgehender Ausgangssperre für eine massive Herausforderung der etablierten Mächte gewählt haben sollen.

Die Angst unten, die Hetze oben
Letzten Montag appellierte die Bukele erneut an faschistische Reflexe: “Ab sofort bleiben alle Zellen mit Bandenmitgliedern versiegelt. Man wird nicht mehr nach aussen blicken können. Dies wird die Kommunikation mittels Gesten zum Gang verunmöglichen. Sie werden drinnen sein, im Dunkeln, mit ihren Freunden der anderen Banden.” Begleitet von Fotos wie diesem:



Die Kommunkation mittels Gesten verunmöglichen? Am 28. März reagierte Bukele indirekt auf die vielen Fragen, wie es denn überhaupt zur Befehlsausgabe aus den Knästen habe kommen können. Seine Version: “Wie es kommt, dass die Befehle rauskommen, wenn alles blockiert ist? Antwort: Mit Freilassungen. Am Donnerstag wurde ein zu 175 Jahren verurteilter Anführer auf freien Fuss gesetzt. Er kam mit einer Appellation frei. Genau einen Tag danach begannen die Morde. Aber was bringt es, die Zellen zu versiegeln, wenn das nicht verhindert, dass die Justiz sie raus lässt? Eben, um zu verhindern, dass so Informationen an andere Zellen gelangen. Wir haben gemerkt, dass sie sich so verständigten.” Angehängt ein Video von gestikulierenden Mareros an der Gittertür ihrer Zelle.
Diese Herleitung ist absoluter Quatsch. Kommt einer raus, der dem Präsidenten zufolge eigentlich für 175 Jahre einsitzen sollte, besteht im observierten Land keine Möglichkeit für die Sicherheitsapparate, dem Typen ein paar Stunden auf den Fersen zu bleiben. Dafür zeigen sich die Maras binnen Stunden bereit für Grossoperationen. David Morales, der bekannte frühere Ombudsman für Menschenrechte, äusserte soeben: “Die aktuelle Mordwelle hängt (...) von einem freigelassenen Häftling ab? Dies scheint mir keine seriöse These zu sein; sie versucht, die Komplexität der kriminellen Strukturen (...) zu negieren.” Zu dem Freigelassenen machte niemand von der Regierung trotz Dauereinsatz auf Twitter weitere Angaben. Medienberichten zufolge kam am letzten Donnerstag ein einziger Mensch frei, ein im ersten Verfahren zu 350 Jahren verurteiltes Mitglied der MS. Der Mann hatte rekurriert, nach drei Jahren ohne rechtskräftige Verurteilung habe er freigelassen werden müssen. Mehr ist zu diesem ominösen Fall bisher nicht bekannt.
Logischer Schluss: Der Mordbefehl kam nicht von Insassen. Doch diese sind die “Aussätzigen” par excellence, ideale Schuldenböcke, um von dem, gemessen an der Dauerpropaganda des Regimes, eklatanten “Versagen” der brillanten Verbrechensbekämpfung abzulenken. Die Mareros sind bei Vielen wegen ihrer scheusslichen Taten verhasst, Aussagen wie “Zellentüre zu, Schlüssel wegwerfen” sind Alltag. Da dockt die faschistische Regimehetze an. Verwünschungen, auch bösartige, geboren aus der Angst realer oder potentieller Opfer, sind nicht das Gleiche wie ihre Zuspitzung durch Leute in den Machtzirkeln.

Die Scheisse kocht, doch das State Department beruhigt
Egal, wie diese Geschichte weiter geht, sie passt zur allgemeinen Marschrichtung des Regimes hin zu diktatorischen Zuständen. Die Frage ist, wie lange diese Tendenz aufrecht gehalten werden kann. An der Epidemiefront verschärfen sich die Widersprüche. Dies nicht primär wegen der Viruskrankheit per se (offiziell zurzeit insgesamt 377 Fälle, 9 Tote, dominierend jetzt die Ansteckungsrate landesintern). Täglich werden neue Grausamkeiten aus den “Quarantänezentren” bekannt; die parlamentarisch bewilligte Kreditaufnahme in der Höhe von $ 2 Mrd. ist nach Angaben Bukeles blockiert (nein, nicht von “immer den Gleichen”, sondern offenbar wegen mangelnden Marktinteresses); statt der angekündigten $ 300 Nothilfe pro Monat an angeblich drei Viertel der Bevölkerung hat das Regime jetzt begonnen, Lebensmittelpakete im Wert von real unter $ 30 zu verteilen (Breite unklar) ... ob die Maras bei möglichen Hungerprotesten weiter “Ordnungsfunktionen” übernehmen, dürfte nicht so sicher sein. Und international kommt das Regime unter Beschuss. Vivanco von Human Rights Watch wird fast täglich schärfer in seiner Kritik an der Aushebelung der Gewaltenteilung. Sogar die ultrarechte Mary Anastasia O’Grady, Mitglied des Editorail Board von Murdochs Wall Street Journal, schrieb am 26. April unter dem Titel El Salvador’s President Is No Friend of the U.S.: «Die Regierungen, die Trumps Immigrationpolitik unterstützen und sich zu Venezuela auf die Seite der USA schlagen, scheinen Alliierte zu sein. Aber wenn sie gleichzeitig wie Bukele zuhause die Demokratie unterhöhlen, arbeiten sie gegen die Interessen der USA.» Sie nervt, dass Bukele mit der Missachtung des Obersten Gerichts (s. El Salvador: Zwischen Delirium und Diktatur II) ein bewährtes must der imperialen Herrschaftssicherung negiert. Bislang aber stehen die Trump-Administration (und damit die OAS) hinter Bukele. Zwar haben einige Medien im Land betont, dass Michael Kozak, der neokonservative Lateinamerika-Zuständige im State Department) in einem Tweet vom 25. April die Staatsgewalten zu Kooperation aufgefordert hat, aber in seinen Presserläuterungen vom Vortag macht er deutlich, dass Washington in den «Meinungsdifferenzen» zwischen Parlament und Exekutive «zu Fragen der optimalen Umsetzung von Quarantäne und social distancing» keinen «Versuch der Unterdrückung der freien Meinungsäusserung oder so etwas sieht.» Ändert sich diese Haltung nicht, ist kein realer Rückwärtsgang der Bukele-Administration unter internationalem Druck wahrscheinlich. Entscheidend ist die Dynamik vor Ort. 
Am Nationaltag letzten September ergötzte sich das präsidiale Paar an der theatralischen Inszenierung seiner Mara-Bekämpfung.
Jetzt.


Nicaragua kämpft gegen Covid-19

https://www.jungewelt.de/artikel/376851.nicaragua-nicaragua-k%C3%A4mpft-gegen-covid-19.html

Aus: Ausgabe vom 21.04.2020, Seite 6 / Ausland
Nicaragua

Mittelamerikanisches Land im Vergleich zu Nachbarn bislang gut aufgestellt. Hilfe aus Kuba
Von Volker Hermsdorf
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Temperaturcheck am Eingang der American University in Managua in Nicaragua (19.3.2020)
Während aus den USA, dem Epizentrum der weltweiten Coronaviruspandemie, am Montag bereits über 750.000 bestätigte Infektionen und mehr als 41.000 an den Folgen der Lungenkrankheit Covid-19 Verstorbene gemeldet wurden, scheinen einige Länder Mittelamerikas bisher kaum betroffen zu sein. Nach Angaben der Johns-Hopkins-Universität wurden in Costa Rica zu Beginn dieser Woche 660 Infizierte und nur fünf Verstorbene gezählt, Guatemala meldete 289 Coronavirusinfektionen und sieben Tote. Das Nachbarland Nicaragua hält mit zehn bestätigten Infektionen und nur zwei Verstorbenen den Minusrekord in der Region. Für keines dieser mittelamerikanischen Länder lassen sich die Zahlen überprüfen. Dennoch wird in westlichen Medien vor allem Misstrauen gegenüber Nicaragua gesät.
Tatsächlich habe die Regierung ihres Landes bereits Ende Januar in Zusammenarbeit mit der Weltgesundheitsorganisation (WHO) umfangreiche Präventionsmaßnahmen eingeleitet, berichtete die Fachärztin María Eugenia García in dem Blog »Lista Informativa Nicaragua y más«. So seien einreisende Personen kontrolliert und Menschen mit Symptomen unter Beobachtung gestellt worden. Das Personal im Gesundheitswesen wurde geschult, Tests zur Früherkennung geordert und Mitarbeiter der Behörden zu Vorträgen an Schulen geschickt. Außerdem seien 19 Krankenhäuser für die Behandlung von Covid-19-Patienten vorbereitet worden.
Auch in ländlichen Gebieten zogen Gesundheitsbrigadisten von Haus zu Haus, um über Hygienemaßnahmen zu informieren. Da ein großer Teil der Bevölkerung von Straßenverkäufen, Dienstleistungen und anderen informellen Tätigkeiten lebt, seien die empfohlenen Einschränkungen jedoch nicht überall positiv aufgenommen worden, räumt García ein. Aufgrund der von rechten Oppositionellen geschürten politischen Konfrontation wurden Mitglieder der Regierungspartei »Sandinistische Nationale Befreiungsfront« (FSLN) und Studenten bei Hausbesuchen teilweise auch attackiert.
Obwohl die Bevölkerung zur Einschränkung von persönlichen Kontakten aufgefordert, die wöchentlichen Demonstrationen zur Unterstützung der FSLN eingestellt und die Schulen zunächst bis zum 20. April geschlossen wurden, irritieren Berichte und Fotos von vollen Märkten, sportlichen und religiösen Veranstaltungen. Die der WHO untergeordnete »Panamerikanische Gesundheitsorganisation« (PAHO) warnte einer Meldung der US-Nachrichtenagentur Associated Press zufolge in der vergangenen Woche vor einem »Mangel an sozialer Distanzierung«.
Ungeachtet interner Widerstände und der von den USA seit Jahren gegen Nicaragua verhängten Sanktionen steht das international anerkannte Gesundheitssystem des Landes im Vergleich zu den Nachbarländern gut da. Die Regierung hat auch in entlegenen Regionen Krankenhäuser aufgebaut und medizinisches Personal ausgebildet. Heute sind über 90 Prozent der Krankenhäuser öffentlich, und die Behandlung ist dort für Bürger des Landes kostenlos.
Zur Unterstützung örtlicher Mediziner hatte Präsident Daniel Ortega über seine Stellvertreterin Rosario Murillo am 17. März beim kubanischen Gesundheitsministerium um weitere Hilfe gebeten. Einen Tag später nahm ein Team von Virologen, Epidemiologen und Intensivmedizinern der internationalen Hilfsbrigade »Henry Reeve« die Arbeit in Nicaragua auf. Am 9. April schickte Havanna außerdem 8.000 Dosen des in Kuba hergestellten Medikaments »Heberon Alfa R« mit dem Wirkstoff »Interferon alpha-2b«, mit dem in China gute Ergebnisse bei der Behandlung von Covid-19-Patienten erzielt worden waren.
Nachdem er rund einen Monat nicht in der Öffentlichkeit aufgetreten war, versprach Ortega am Mittwoch in einer Rede, dass die Gesundheitsexperten des Landes trotz ihrer durch die US-Sanktionen begrenzten Ressourcen »unermüdlich mit Disziplin, Bewusstsein und Hingabe« daran arbeiten würden, die Ausbreitung des Virus einzudämmen. Der gewählte Präsident verurteilte zugleich »die Heuchelei der kapitalistischen Länder, die Geld für den Krieg, aber nicht für die Gesundheit ausgeben«.

Schweiz/Pflege: Nicht auf unserem Rücken!

Sonntag, 26. April 2020

Das Flugbaltt in einem PDF-File hier.





25. April 1975: Nelkenrevolution in Portugal

Samstag, 25. April 2020

In Europa ... eine Hoffnung. Ja, das gab's; ja, das wird's geben. Freuen wir uns am Aufbruch, der gleich ist, magisch, überall auf der Welt. Die Gesichter, die lachen, die Freude erzählen. Und weinen wir. Und vergessen wir nicht: Wer diese Revolution bekämpft hat, das war ganz vorne die deutsche SPD.
A luta continua.



aus Wikileaks:

Grândola, Vila Morena

Grândola, Vila Morena (deutsch Grândola, braungebrannte Stadt) ist ein berühmtes portugiesisches Kampflied, das der antifaschistische Liedermacher José Afonso getextet und komponiert hat. Es wurde zur Hymne der Nelkenrevolution von 1974.
José Afonso schrieb das Lied bereits 1964 für den Arbeiterverein Sociedade Musical Fraternidade Operária Grandolense, den „Musikverein Arbeiter-Brüderlichkeit“ in Grândola. Es ist im Stil des Cante Alentejano, des Wechselgesangs des südportugiesischen Alentejo, komponiert; die Melodie ist auch für andere traditionelle Texte im Alentejo im Gebrauch. Diese Chorgesänge mit Vorsänger und Polyphonie (2014 in die Liste des immateriellen Weltkulturerbes der UNESCO aufgenommen) sind tief in der Volkskultur dieser ländlichen Gegend verwurzelt und haben eine Tradition, die bis ins Mittelalter zurück reicht (Cantus gemellus).[1] Seit der Römerzeit lebten in der Region Alentejo viele Landarbeiter, die solche Lieder auch bei der Arbeit in den Latifundien der Großgrundbesitzer sangen. Der Text bezieht sich auf die Solidarität der Landarbeiter und – in Anspielung an die Prinzipien der Französischen Revolution – ihre Werte Gleichheit (igualdade) und Brüderlichkeit (fraternidade), ohne im Hinblick auf eine revolutionäre Intention konkreter zu werden. Und doch reichten die Andeutungen für das damalige Regime: Grândola wird als sonnige Stadt besungen, in der man an jeder Ecke auf einen Freund und in jedem Gesicht auf Gleichheit trifft. Afonso verwendet das Bild der Steineiche, „die ihr Alter nicht mehr weiß“, in deren Schatten der „Schwur von Grândola“ geleistet wird.

In der Nacht vom 24. auf den 25. April 1974 sendete der katholische Rundfunksender Rádio Renascença das Lied. Die Zeitung República hatte schon am Vorabend für Eingeweihte den kleinen Hinweis gebracht, das Musikprogramm der Nacht sei besonders lohnend. Um 0:25 Uhr wurde die erste Strophe verlesen:
„Grândola, braungebrannte Stadt, Heimat der Brüderlichkeit. Das Volk ist es, das am meisten bestimmt in dir, o Stadt.“
Zeca Afonso
Anschließend wurde das Lied zweimal in voller Länge abgespielt, gesungen von José Afonso. Dabei war schon die Nennung des Namens José Afonso in der Presse verboten. Für die eingeweihten Soldaten und Zivilisten des Movimento das Forças Armadas (MFA) war es das vereinbarte Zeichen für den Beginn des Aufstands gegen die salazaristische Diktatur. Auch wenn es nicht jedem Radiohörer sofort klar war, worauf genau dieses Signal abzielte, war dessen Aufrufcharakter deutlich erkennbar. Als die Truppen des MFA, die gegen 5:30 Uhr durch die Avenida da Liberdade ihre ersten Ziele in der Hauptstadt Lissabon ansteuerten, einige der strategisch wichtigsten Ministerien, darunter das Heeresministerium, erreichten, säumten schon Tausende von Lissabonern, allen Ratschlägen der Operationszentrale des MFA zum Trotz, die Straßen. Sie liefen neben den Armeefahrzeugen her, jubelten den Befreiern zu, viele sprangen sogar auf. Die junge Truppe empfand die überschäumende Begeisterung der Bevölkerung nicht als störend, sondern als Bestätigung und Anfeuerung. Der Zug der Kolonne aus Santarém vom Terreiro do Paço und die steilen Straßen hinauf zum Carmo, am Rand des Bairro Alto, glichen einem Triumphzug. Die ersten roten Nelken tauchten auf – im April haben sie Saison –; mit ihnen wurden die Uniformen der Soldaten und ihre Gewehrläufe geschmückt. Nach den Blumen erhielt die Revolution den Namen „Nelkenrevolution“. Knapp 18 Stunden nach der Ausstrahlung des Liedes war die Diktatur gestürzt.
Am 15. Februar 2013 wurde durch das Absingen von Grândola, vila morena eine Rede des portugiesischen Ministerpräsidenten Pedro Passos Coelho im Portugiesischen Parlament gestört, um gegen die Sparpolitik der Regierung und der Troika zu demonstrieren.[2] Einige Tage später wurde das Lied in Madrid auf dem Platz Puerta del Sol gesungen.[3] Der portugiesische Minister für Parlamentsangelegenheiten, Miguel Relvas, wurde am 19. Februar 2013 durch das Protestlied gestört.[4] Hunderttausende sangen das Lied aus Protest gegen die Sparpolitik auf den landesweiten Protestaktionen am 2. März 2013.[5] Grândola, vila morena entwickelt sich zur Hymne der Protestbewegung gegen die Austeritätspolitik.[6]

Grândola, Vila Morena (Deutsch Übersetzung)

Deutsch Übersetzung
A A

Grândola,Braune Stadt

Grândola, Braune Stadt
Heimat der Bruderschaft
Das Volk hat die Macht
in dir drin,oh Stadt
 
in dir drin, oh Stadt
Das Volk hat die Macht
Heimat der Bruderschaft
Grândola, braune Stadt
 
In jeder Ecke, ein Freund
in jedem Gesicht, Gleichheit
Grândola, braune Stadt
Heimat der Bruderschaft
 
Heimat der Bruderschaft
Grândola,braune Stadt
In jedem Gesicht, Gleichheit
das Volk hat die macht
 
im Schatten einer Steineiche
Die ihr Lebensalter nicht mehr kannte
Schwörte ich als Lebensgefährtin zu haben
Grândola, nach ihrem Belieben
 
Grândola, nach ihrem Belieben
Schwörte ich als Lebensgefährtin zu haben
im Schatten einer Steineiche
Die ihr Lebensalter nicht mehr kannte

El Salvador: Zwischen Delirium und Diktatur II


(zas, 25.4.20) Teil I dieses Artikels beleuchtete die Realität der Coronavirus-Massnahmen der Regierung Bukele und wie sich die alte und neue aufwärts mobile neue Kleptokratie auf Krisengewinnlertum vorbereiten. Die «gesundheitspolitischen» Massnahmen der Regierung basieren auf Repression, ob in Quarantänelagern, Spital oder auf der Strasse.
___________
Die Faschisten der Zukunft werden nicht das Stereotyp von Hitler oder Mussolini haben. Sie werden keine harten militärischen Gesten machen. Es werden Männer sein, die über alles reden, was die meisten Leute hören wollen. Über Güte, Familie, gute Bräuche, Religion und Ethik. In dieser Stunde wird der neue Dämon auftauchen, und nur wenige werden erkennen, dass sich die Geschichte wiederholt.
Diese Linien werden meist Saramago zugeschrieben, zu Unrecht, wie die Fundação José Saramago sagt. Sie treffen aber einige aktuelle Tendenzen, zum Beispiel in El Salvador, nicht schlecht.

Polizei und Armee nahmen nach amtlichen Angaben bis am 16. April wegen Missachtung der Ausgangssperre rund 2500 Menschen fest. Nach welchen Kriterien? Keine, die festgelegt wären. Verteidigungsminister Merino weiss Besseres: «Man merkt, wenn sie lügen.» Viele Geschichte zirkulieren von Zwangsquarantänen für Leute, weil sie am ersten Tag der weitgehenden Ausgangssperre keine Bescheinigung des Arbeitsgebers dabei hatten (von der im Dekret nicht die Rede war) oder etwa neben Nahrungsmittel auch ein Bier in der Einkaufstasche hatten. Oder da ist die Geschichte vom zusammengeschlagenen alten Campesino, der seit Jahrzehnten immer seine ein bis zwei Kühe versorgen geht; vom wegen Quarantäne-Widersetzlichkeit Jungen, der die bei seiner Mutter bestellten Pupúsas ordnungsgemäss im Quartier austrug; vom Mann mit geistiger Behinderung, der Polizeiprügel bezog; von den Menschen, die sich vor dem Haus mal mit den Nachbars austauschen wollten etc. pp.
Usulután: Uniformierter traktiert Mann mit geistiger Behinderung. Quelle: Arpas.

Die alte, seit den Friedensabkommen von 1992 eingedämmte Selbstherrlichkeit der Sicherheitskräften kehrt zurück. Gefördert von oben. So machte Sicherheitsminister Rogelio Rivas am 2. April klar, dass es um Bestrafung geht, nicht um Gesundheit: “Wir bitten [die Leute, bei der Ausgangssperre] mit zumachen, sonst werden sie in ein Quarantänezentrum gebracht, wo sie das Risiko eingehen, sich mit dem Virus anzustecken.” Der gleiche Täter twitterte am 21. März: “Ich betone: Versuchen Sie nicht, den Sanitätskontrollen über die grüne Grenze auszuweichen, denn wir werden den Aufenthaltsort dieser Personen ausmachen und sie in Quarantäne setzen.” Untermalt vom folgenden Bild des Rektors Roger Arías von der links geprägten Universidad de El Salvador (UES) im Quarantänezentrum.

Das gefiel Bukele, der eine halbe Stunde später den Tweet von Rivas so kommentierte: “Der Rektor der Universidad de El Salvador verletzt den Gesundheitsschutz und reist über die grüne Grenze ein. Wir selber bringen unserem Volk den Tod.” Und noch einer fand Gefallen: US-Botschafter Ronald Johnson versah den Tweet Bukele/Rivas mit einem Like. Tatsache ist: Arias kam, wie die UES im Detail darlegte, Stunden vor Inkrafttreten des Quarantänedekrets für alle Einreisenden unter Vorweisung seines Passes am Grenzposten Las Chinamas von einem Rektorentreffen in Guatemala zurück und meldete sich nachträglich beim Gesundheitsministerium für eine freiwillige Einweisung in ein Quarantänezentrum. Die UES ist eher links geprägte Universität und ihr Rektor engagiert im Kampf gegen die Wasserprivatisierung.

Freiheitsrechte u.dgl.
Am 26. März ordnete die Verfassungskammer des Obersten Gerichts provisorisch die Freilassung dreier in den Lagern inhaftierter Personen an. Hauptgrund: Die Parlamentsdekrete zum Notstand und zum Ausnahmezustand (s. Teil 1) lieferten für Verhaftungen durch Polizei oder Militär keine Rechtsgrundlage, ausser in Fällen von medizinischem begründeten Corona-Verdacht. Dies unter der Voraussetzung einer adäquaten medizinischen Betreuung und der Einhaltung der verfassungsmässig garantierten Menschenrechte. Die Kammer ordnete über die drei konkret involvierten Personen hinaus explizit die Freilassung aller nicht nach den angegebenen Kriterien Verhafteten aus.
Am 8. April erklärte die Kammer in einem weiteren Urteil zum gleichen Thema: “... alle Behörden müssen sich vergegenwärtigen, dass die Verletzung  der Verfassungsbestimmungen sanktioniert wird und besonders, dass die Verantwortung für eine solche Rechtsverletzung persönlich ist (...); zu erinnern ist auch daran, dass bei Verletzungen von Grund- oder Menschenrechten die Gehorsamspflicht nicht gilt; dass für jede solche Verletzung sowohl die, die den Befehl dazu erteilt haben, wie die, die ihn ausführen oder das zulassen, gerade stehen müssen.”
Nun, Bukele hatte schon in seiner cadena nacional vom 6. April (s. Teil I) klar gemacht, was er von der Sache hält: “Ich habe dem Verteidigungsminister, dem Polizeidirektor und dem Sicherheitsminister Anweisungen gegeben, härter gegen die die Leute auf der Strasse vorzugehen ... Mir wird das ‘au, sie haben mir das Handgelenk umgedreht’ in den Social Media nicht wichtig sein”.
Auch eine Reihe nach dem 26. März erlassener weiterer Kammerurteile wie die obligatorische Information von Internierten über die Resultate ihrer Covid-19-Tests ignoriert das Regime. Immerhin gilt die Verfassungskammer als oberste Instanz der drei Staatsgewalten für alle Verfassungsfragen. Als eine frühere Kammer eine ganze Serie eindeutig politisch motivierter Urteile gegen die FMLN-Regierungen (und damalige Parlamentsmehrheiten) fällte, gab es kein rechtliches Mittel des Widerstands dagegen.
Am 14.4. lief das Ausnahmezustandsdekret aus, weil die Parlamentsmehrheit einer nochmaligen Verlängerung die Zustimmung verweigerte. Mit diesem Ausnahmezustand legitimierte die Regierung die Verletzungen der verfassungsmässigen Rechte der wegen Nichteinhaltung der Quarantäne Verhafteten. Am 16. April verlängerte das Parlament einstimmig das bisherige Dekret zum Notzustand bis Ende Monat, schob aber tags darauf ein weiteres, an die Urteile der Verfassungskammer angelehntes Dekret nach, das die Beachtung der Menschenrechte und der gesundheitspolitischen Standards zur Bedingung für das staatliche Agieren in diesem Kontext machte.
Kein Parlamentsdekret für den Ausnahmezustand? No problem. Ab dem 14. April gilt Exekutivdekret 19. Inhalt laut Bukele: “Grundsätzlich die gleiche Quarantäne mit den gleichen Sanktionen plus den in den letzten Tagen angekündigten.” Neu ist mit diesem Dekret u. a, dass jetzt “alle Personen verpflichtet sind, den (...) Delegierten des Gesundheitsministeriums den Zutritt zwecks Inspektion zu Wohnungen, Lokalen, öffentlichem oder privatem Grund zu gewähren, um sanitäre Massnahmen im Kampf gegen die Pandemie des Covid-19 zu evaluieren.” Wer ohne gültigen Grund auf der Strasse festgenommen wird, kommt für 30 Tage in ein Quarantänelager.
Alles rechtens. Nur die Richter und die Menschenrechtsorganisationen kapieren das nicht. Dabei hat es Javier Argueta, Rechtsberater des Präsidenten und zuvor Chef der Rechtsabteilung des Grossunternehmerverbandes ANEP, am 8. April erklärt: Nur medizinisch indizierte Personen kommen in die “Betreuung”. Und das sind auch alle auf der Strasse Aufgegriffenen, da potentielle “Ansteckungsvehikel” (im Gegensatz etwa zu den vielen risikoarmen VerkäuferInnen auf den Märkten und im Supermarkt.)
In einer weiteren Resolution  legte die Verfassungskammer am 15. April die Untrennbarkeit der durch die Verfassung garantierten Freiheitsrechte dar, die nicht einzeln zum Nachteil der anderen priorisiert werden können. Das Recht auf Gesundheit etwa heble nicht das Habeas Corpus aus (das Recht auf richterliche Überprüfung einer Haft). Eine Einschränkung von Grundrechten in Notlagen müsse begründet und verhältnismässig sein. Die Resolutionen der Verfassungskammer seien im Übrigen nicht einfach interpretierbare Vorschläge, sondern von den anderen Staatsgewalten zu befolgen. Das Verbot der Kammer, Leute ohne eine klare, vom Parlament zu beschliessende gesetzliche Grundlage zu verhaften und in die Quarantänelager zu stecken, gelte auch für den Präsidenten. Dessen Dekrete können die parlamentarische Gesetzgebung nicht ersetzen. Infolgedessen diktiert die Kammer die strikte Befolgung ihrer einschlägigen Resolutionen (Freilassung der Leute in den Quarantänezentren, sofern nicht belegbar medizinische Gründe dagegen sprechen),  und verlangt, dass die Handhabung z. B. des Exekutivdekrets 19 oder von Artikeln des Gesundheitsgesetzes sich “strikt an die Interpretation” der Kammer halte. Notwendig sei ein zwischen Parlament und Gesundheitsministerium abgestimmtes Gesetz unter Beachtung der von der Kammer gesetzten Eckpfeiler. Schliesslich müsse der (staatliche, aber regierungsunabhängige) Ombudsmann für Menschenrechte alle fünf Tage die Kammer über die Befolgung ihrer Anordnungen orientieren.

Gegen die «Virus-Fraktion»
Soweit ist das der übliche rechtsstaatliche Diskurs. Politische Ideologie? Klar, wie es solchen abstrakten Postulaten zu eigen ist. Nicht unähnlich dem gesundheitspolitischen Aufruf, sich fleissig die Hände zu waschen. Richtig, wo das möglich ist; zynisch dort, wo nicht. Wie im hauptstädtischen Vorort Apopa, wo vor wenigen Tagen BewohnerInnen von zahlreichen dichtbevölkerten Stadtteilen protestiert haben, weil bei ihnen seit 3 Wochen kein Wasser mehr fliesst. (Dafür kontrollieren Polizei und Armee die Einhaltung der Ausgangssperre.) In El Salvador haben wir die letzten Jahre gesehen, wie die vorherige Verfassungskammer die FMLN-Regierung finanziell erwürgte. Umgekehrt sehen wir jetzt, dass sich die Kammer (vorderhand) quer stellt. Das trägt ihr Angriffe und Lob ein.
Für die Angriffe steht Bukele in gewohnter Manier: “Die Verfassungskammer delegiert den verfassungswidrigen Ombudsmann, um die Quarantäne zu überwachen und zu versuchen, uns alle Instrumente zu nehmen, um sie durchzusetzen? Ein schlechter Witz. KEINE Resolution steht über dem Verfassungsrecht auf das Leben und die Gesundheit des salvadorianischen Volkes. Ich verstehe ihr morbides Verlangen nicht, dass unsere Leute sterben, aber ich schwor, die Verfassung zu befolgen und befolgen zu lassen. So wie ich eine Resolution, die mir befiehlt, Salvadorianer zu töten, nicht befolgen würde, kann ich auch eine Resolution, die mir befiehlt, sie sterben zu lassen, nicht befolgen. 5 Personen werden nicht den Tod von hundertausenden Salvadorianern beschliessen. Egal, wie viel Tinte und Siegel sie haben.”
Lob kommt auch aus internationalen Gefilden: vom deutschen Botschafter in El Salvador etwa, von der UNO-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet, vereinzelt von US-Abgeordneten, von einem Medium wie die New York Times oder etwa von der internationalen AnwältInnenvereinigung IBAR. Sie protestieren gegen die Aufhebung der Gewaltentrennung. De Americas-Direktor von Human Rights Watch, José Miguel Vivanco, eher bekannt für seine Treue zur strategischen Linie des State Departments, hatte Bukele wegen einer Kritik in seinem Twitter-Account blockiert. Kürzlich griff HRW die Epidemie-Politik Bukeles in scharfen Worten an. Den von Vivanco beanstandeten Tweet hatte Bukele am 29. März als Antwort auf die Kritik von Menschenrechtsorganisationen veröffentlicht: “Manchmal scheint es, dass einige “Menschenrechtsorganisationen” nur dafür arbeiten, dass mehr Menschen sterben. Als es um die Verbrechensbekämpfung ging, dachte ich, das sei was Ideologisches. Aber jetzt sind sie auch auf der Seite des Virus.”


«La Libertad»
Spät in der Nacht von Freitag, dem 17. April verhängte Bukele eine radikale Ausganssperre über das Städtchen Puerto La Libertad. Wie üblich per Twitter. Angegebener Grund: zuviel Bewegung auf den Strassen. Bukele an den Armeeminister: «Minister Merino, verhängen Sie über Puerto La Libertad eine sanitäre Sperre. Bis zu einer neuen Avisierung müssen alle Personen zuhause bleiben und 100 % aller Geschäfte geschlossen sein. Auch [bisherige] Ausgangsbewilligungen sind nicht mehr gültig..» Merino twitterte seinem Chef keine halbe Stunde später: Befehl werde ausgeführt. Kein Samstageinkauf, kein Wasser für Viele? So lernt man gehorchen. Als in einer benachbarten Gemeinde zwei Wassertechniker wie gewohnt an einem Wassertank einer Basisorganisation für Haushalte mehrerer Gemeinden, darunter Puerto La Libertad, die Wasserzufuhr regulieren wollten, wurden sie von einer Armeepatrouille wegen Verletzung der Quarantäne verprügelt. Energisch auch der Minister himself: Er überprüfte bewaffnet mit einem M-16 die Durchsetzung der «Sanitätsmassnahme». Als er bei einer Tankstelle einen Angestellten erspähte, liess er sich dabei filmen, wie er dem sagte: «Ich zähle bis 5» und du bist weg. 

Quelle Twitter Merino.
Nach 48 Stunden hob Bukele seine offiziell mit contact tracing begründete Massnahme auf. Im Puerto gab es nicht einen offiziellen Fall von möglicher Covid-19-Ansteckung. Es wurde auch kein einziger Test durchgeführt. Gesundheitspersonal war schlicht nicht involviert, keine Spur von contact tracing. Der Infektiologie-Chef des grössten Spitals im Land, Rolando Cedillos (s. auch Teil I), meinte denn auch: «Dies eine sanitäre Sperre zu nennen, überdehnt den Begriff. Der Befehl dazu hat nichts damit zu tun, sondern mit dem Ärger des Präsidenten wegen dem, was er in den Nachrichten sah.» Oder vielleicht weniger individualpsychologisch: mit Gehorsamserzeugung in der Bevölkerung. 
La Libertad. 2 Fischer und 2 Bäcker dingfest gemacht. Quelle: El Faro.
Auch auf anderem Gebiet zeigte sich der Präsident entscheidingsfreudig.. Der FMLN-Bürgermeister Mario Meléndez von Panchimalco nahe der Hauptstadt denunzierte auf Facebook, dass zwei mit Dünger gefüllte Lastwagen des Landwirtschaftsministeriums Lieferung bei einem Mitglied der Bukele-Partei Nuevas Ideas (NI) ablieferten, und wie die Gemeinde die Ladung des einen Camions in die Obhut der Gemeinderegierung verbrachte. NI wurde also in flagranti bei einem klaren Gesetzesverstoss ertappt (Staatspropaganda für eine Partei). Rechtlich hatte die Gemeinde wohl keine Handhabe zur Requirierung des Düngers, moralisch natürlich schon. Per Twitter forderte Bukele den Generalstaatsanwalt Raúl Melara zur Verhaftung des «Plünderers» auf, dieser gab umgehend ebenfalls per Twitter den Auftrag dazu. Drei Tage später kam der Bürgermeister frei, bis zu seinem Prozess. Von einem Verfahren gegen den Landwirtschaftsminister ist nichts zu hören. Zu bemerken ist, dass die FMLN-Leute in Panchimalco gleich nach der Verhaftung öffentliche Protestblockaden organisiert und danach die Freilassung Meléndez’ gefeiert hatte. 
Panchimalco.
Gewöhnungsübungen
In anderen Zusammenhängen bringt Bukele Sympathien für BügermeisterInnen auf. Am gleichen Tag, an dem er Puerto La Libertad militarisierte, meldeten sich einige solcher Figuren (alle von Rechtsparteien) mit der Bitte, das auch in ihren Gemeinden zu tun. Am 18. April erlaubte er den BürgermeisterInnen des Landes, zusätzlich zu seinem Dekret 19 weitere «Zirkulationsmassnahmen» zu ergreifen. Er empfahl auch gleich, die Gemeindepolizeien dafür einzusetzen. Denn «es ist klar, dass es an der Ausweitung der Ansteckungen interessierte Sektoren der formalen und faktischen Macht gibt. Sie opfern nicht zum ersten Mal Menschenleben für die Erreichung ihrer politischen Ziele.»
Einer, der sofort anbiss, war der ARENA-Bürgermeister von San Salvador, Ernesto Muyshondt, ein früher Vertreter der Allianz mit Bukele. Er verhängte im Stadtzentrum in Kooperation mit Bukele eine von Militär, National- und Gemeindepolizei durchgesetzte Sperre, die nur durchlässig für Menschen sein sollte, die in Sektoren wie Spitälern oder Banken arbeiteten oder glaubwürdig auf dem Grossmarkt einkaufen wollten. Die ursprünglich nur für zwei Tage angekündigte, schon mal bis zum 28. April verlängerte Sperre soll der Virusverbreitung in der normalerweise stark frequentierten Zone entgegenwirken. Die Leute sollen sich wieder daran gewöhnen, dass die Armee sagt, wo’s lang geht. Und die Regierung könnte allfällige negative Konsequenzen abschieben und gleichzeitig indirekt weitere Radikalisierungsschritte forcieren. Oder zeigen, wie breit abgestützt ihre Politik ist.
San Salvador: Armeeschutz vor Ansteckung.
Einige BürgermeisterInnen hatten schon angekündigt, verschärfte Ausgangssperren zu verhängen. Sie liessen das für den Moment bleiben, nachdem Generalstaatsanwalt Melara – ein ARENA-Mann, der kaum zum Bukele-Lager zählt – sie vor einem Strafverfahren warnte, wenn sie ihre Befugnisse überschritten. Dafür zeigte sich einer über die Kooperation Bukele/Muyshondt erfreut, von dem in der letzten Zeit inhaltlich wenig zu hören war: US-Botschafter Ronald Johnson: Dass die beiden «zusammenarbeiten, um die Massnahmen zum Schutz der Hauptstadt zu koordinieren, verdient Achtung.» Der Trumpismus erkennt die Seinen. (Gestern twitterte Trump, er werde Bukele Beatmungsgeräte liefern, denn «sie haben an der Südgrenze gut mit uns zusammengearbeitet». Gemeint ist die Jagd der salvadorianischen Behörde auf MigrantInnen an der nach Zentralamerika verlegten US-«Grenze».)


Parlament ab in die Quarantäne?
Seit vorgestern liefert der Bukelismo eine gravierende Probe seines Könnens. Einer 2/3-Mehrheit im Parlament war es gerade gelungen, ein Veto des Präsidenten zu einem vor wenigen Tagen verabschiedeten Gesetz zu überstimmen. Das Gesetz will, dass die Regierung für das Spitalpersonal Schutzkleidung bereitstellen und eine Lebensversicherung abschliessen muss. (Laut Medienberichten sind schon über 100 Pflegende inkl. ÄrztInnen infiziert.) Eine gleich gelagerte Abstimmung sollte ein Veto des Präsidenten gegen ein Parlamentsdekret überstimmen, das die Regierung verpflichtete, die Rückkehr von im Ausland gestrandeten SalvadorianerInnen zu organisieren. (Aus Italien etwa hören wir regelmässig von Leuten ohne Geld und Rückkehrmöglichkeit, die nur dank der Solidarität der Community überhaupt was zu essen und ein prekäres Obdach haben.) Doch halt! Die FMLN-Abgeordnete Yanci Urbina hatte in der Debatte vorher einen Hustenanfall gehabt. Die ARENA Abgeordnete Milena Mayorga, hardcore bukelista, versandte sofort einen Tweet mit dem Bild der hustenden Yanci und einem Hinweis auf Covid-19. Bukele nahm die Vorgabe auf und twitterte (mit Verweis auf die Epidemiekommission EICE der Regierung): «Die EICE hat im Tagungssalon des Parlaments bedeutenden Verdacht auf Covid-19 entdeckt. Es wird die Beendigung der Plenarversammlung und die Selbstisolation aller Abgeordneter und des Personals empfohlen, bis die verdächtigen Fälle und ihre Kontakte» abgeklärt sind. Die Abgeordneten zweier mit dem Bukelismo alliierter Rechtsparteien verliessen darauf in grosser Eile das Parlament, das Quorum war damit nicht mehr gegeben, die Session war abgebrochen, weitere Veto-Überstimmungen vom Tisch. Gestern erschienen diese Parlis erst gar nicht zur Weiterführung der Session. Ohnehin hat das Parlament wichtigeres zu tun als zu meckern. Im Moment gerade einem von der Regierung und dem Unternehmerverband ANEP ausgeheckten Plan für die «Ankurbelung» der Wirtschaft und Sozialleistungen zuzustimmen. Kostenpunkt: eine weitere Milliarde Dollars (s. Teil I und Der IWF «hilft») Um den ParlamentarierInnen die Dringlichkeit dieses Vorhabens näher zu bringen, versuchten gestern Teams der EICE, das Parlament auf Infektionen zu untersuchen. Am 9. Februar liess Bukele im Zusammenhang mit einem Kreditwunsch das Parlament von Armeeeinheiten besetzen – und dieses Mal per Virus räumen. Natürlich hinderte ihn das gestern nicht daran, dem Parlament vorzuwerfen, seinen $ 1-Milliarden-Antrag nicht zügig zu behandeln.
 
Kein Zutritt zum Parlament: EICE-Labor.
Sie wusste schon bvorher von der Show.

Ein EICE-Wagen verfolgte Yanci Urbina auf den Nachhauseweg. Die FMLN-Abgeordnete Dina Araujo befürchtet, dass Bukele, gestützt auf sein Dekret 19, ParlamentarierInnen zwangsweise auf das Virus untersuchen lassen und danach in Quarantänezentren entsorgen will.


Die Compas in El Salvador berichten weiter von einer grossen Popularität Bukeles. Seit Februar verbreitet er erfolgreich Panik unter den Leuten und präsentiert sich als einzige Alternative zu einem apokalyptischen Massensterben. Gleichzeitig schürt er Hass gegen die jetzt mit dem Virus, gestern und morgen wieder mit den Maras verbündete Opposition, insbesondere den FMLN. Natürlich, die Leute in den Ansteckungslagern werden nicht Spalier für den Präsidenten stehen. Offen höhnisch teilen Funktionäre mit, ihre Haftdauer könne deutlich mehr als 30 Tage betragen, Bukele twitterte kürzlich, es habe keine Eile, ihnen (allfällige) Testergebnisse mitzuteilen. Doch sie und die Oppositionellen sind die Aussätzigen, die «unser aller» Leben gefährden. So funktioniert das immer noch.
Wenn Bukele sich mit der Justiz anlegt, wenn er die parlamentarische Opposition einschüchtern will, wenn er (auch nur leicht) kritische Medien reihenweise ignoriert oder finanziell stranguliert, wenn er viel besser Bescheid über Epidemisches weiss als all die Doktoren und sonstigen Kurvenzeichner (s. Teil I), wenn El Salvador unter seiner Führung zum Leuchtturm der Welt wird, wenn sich Paranoid-Apokalyptisches mit Messianismus paart, dann ist die psychologische Interpretation schnell zur Hand. Sie kann richtig sein oder nicht, sie greift auf jeden Fall zu kurz.
Medardo González, der ehemalige FMLN-Chef, analysierte Anfang April das Phänomen der Popularität Bukeles, der «im Notstand fast als einziger nationaler Sprecher fungiert. Aber das hat seine Grenzen», z. B. in den kommenden gigantischen Wirtschaftsproblemen und der nicht verhüllbaren Korruption bei den angeblich für soziale Transfers und Ankurbelung bestimmten Milliarden, die im Zentrum von Deals zwischen einer Fraktion der traditionellen Oligarchie und der staatlich gespiesenen Bourgeoisie um Bukele stehen. «Das weiss Bukele und deshalb versucht er die Opposition zu schlagen. Er wird mit seiner Logik der Viktimisierung fortfahren. Er hat keine wirksamere Politik. Aber der Teil der betrogenen Bevölkerung wird ihre Stimme erheben und andere politische Referenten suchen (…) Wir müssen Vorschläge vor allem für die Verletzbarsten entwickeln und dafür sorgen, dass diese Vorschläge im Volk bekannt und aufgenommen werden. Der FMLN ist eine politische (elektorale) Partei, aber darüber hinaus auch eine Partei der Volks - und sozialen Bewegungen, eine in der territorialen Basis der Comunidad verankerte Partei.»
Bleibt zu hoffen, dass der FMLN diesem Ziel etwas gerecht werden kann. Und Bukele bis dann nicht die Grundlagen für einen neuen langen Krieg geschaffen haben wird.
"Hilf auch du: Zahle, um zu helfen." Quelle: Fianzministerium.