Brasilien: „Eine konservative Offensive will das Land anästhesieren“

Montag, 29. Januar 2018



Im wichtigsten Prozess in der Geschichte dieses Landes serviert eine schwarze Frau drei weissen Herren den Kaffee, während sie über einen Einwanderer aus dem Nordosten zu Gericht sitzen. Wenn wir diese Symbolik nicht begreifen, werden wir dieses Land nie verstehen.“

(zas, 29.1.18) Lula, eine Lichtgestalt? Er, der in seiner Präsidentschaft die Soyaisierung der Landwirtschaft mit Gentechsaatgut von Monsanto vorantrieb? Er, der eine Weile lang der Darling am WEF war? Keine Lichtgestalt. Aber der von Millionen der Unterklassen geliebte ehemalige Gewerkschafter hatte den Hunger massiv reduziert, stand für die Befreiung aus Armut von mehreren zehn Millionen Menschen  und liess sich – trotz Sirenenklängen aus den imperialistischen Metropolen von der gemässigten versus die populistische Linke – nie gegen Venezuela, gegen Kuba, gegen Bolivien vereinnahmen. Es geht so schnell vergessen: Als z. B. 2008 die weissen Eliten den reichen „Halbmond“ Boliviens vom indigenen Rest des Landes abtrennen wollten und unter US-Regie eine bewaffnete Revolte anstrebten, stellte Lula unmissverständlich klar, dass aus einer abtrünnigen Region nicht eine Ware nach Brasilien exportiert werden könne. Das schmerzte die Oligarchie im Halbmond. Das Brasilien Lulas und des PT war eine zentrale Kraft für die Neuformierung der lateinamerikanischen Einheit jenseits des Diktats von Washington (und der EU). Zusammen mit Hugo Chávez und Néstor Kirchner war Lula wesentlich mitbeteiligt am Scheitern des Projekts einer kontinentweiten Freihandelszone (ALCA), das heute neu aufgelegt wird. Vor wenigen Tagen las ich eine Stellungnahme einer argentinischen Gruppe zu Brasilien und dem Prozess gegen Lula, der zufolge der PT nichts als eine gemässigte Façon des Kapitalismus repräsentiere und heute die Gelegenheit beim Schopf ergriffen werden müsse, dass die Klasse sich selber direkt und ohne Vermittlung organisieren und ihr Schicksal bestimmen. Eine Zielvorgabe für lange, sehr lange Zyklen, die als revolutionäre Handlungsanweisung für hier und heute so erhellend und produktiv ist wie das Skandieren des „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“
Lieber etwas Bescheideneres wie der folgende Text mit seinen zwei, drei Blitzlichtern auf die Dynamik der Konterrevolution. Lieber der Augenöffner von der schwarzen Frau, die den weissen Herren den Kaffee serviert, als ob „grosser Worte“ übersehen, weshalb die transnationale Reaktion so entfesselt gegen die Erinnerung an ein eben noch vorhandenes anderes Brasilien wütet. 
Pablo Gentili, der Autor des folgenden Textes, ist Exekutivsekretär des Consejo Latinoamericano de Sciencias Sociales (CLACSO) und Dozent an der Universität von São Paulo. Der seit 25 Jahren in Brasilien lebende Argentinier beschreibt einen Schlüsseltag in der Geschichte Brasiliens und der Region, den 24. Januar,und die Gespräche mit Lula vor und nach dem Urteil der Kammerrichter in Porto Alegre.
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Pablo Gentili*
Lula stützt seinen Kopf auf die linke Hand. Er scheint nicht müde, obwohl seine ganze Entourage nach Wochen der Anspannung und Nervosität erschöpft ist. Es fehlen ein paar Stunden, bis das 4. Regionale Bundesgericht das Urteil von Richter Sérgio Moro bestätigt. Lula zeigt sich als realistisch und übernimmt die Aufgabe, die Stimmung unter den Angehörigen, Freunden und Mitarbeitenden zu heben. Das war immer so. In den schwierigsten Momenten seiner Präsidentschaft kam er in den Palacio do Planalto (Regierungssitz) und wenn er jemanden mit niedergeschlagener Miene sah, sagte er: „Was soll diese Miene? Du hast doch nicht etwa die Zeitungen gelesen?“ Um dann in Gelächter auszubrechen.
Wie Lula wissen alle, die ihn an diesem 24. Januar in der Metallergewerkschaft von São Paulo begleiten, dass sie der Chronik eines angekündigten Urteils beiwohnen. Die Farce geht weiter, begonnen von Richter Moro, mit dem der Ex-Präsident ein Gespräch führte, das Kafka erbleichen lassen und den Neid der Marx Brothers auf sich ziehen würde. Ein Prozess, in dem nichts bewiesen werden muss. Gegen Lula wurde schon alles als feststehend bewertet, mittels des juristischen Kniffs der Überzeugung des Richters, der sog. Finalen Handlungslehre[1], der Missachtung eines fairen Verfahrens und des Vorsatzes, Rache zu einem Rechtsakt zu machen. Das nennt sich lawfare: Einsatz der Justiz, um politische Gegner fertig zu machen. 
Gefangener unter der Militärdiktatur.

Richter Moro lässt Lula 2015 illegal zu einer einvernahme zwangsvorführen.

Das Team des Ex-Präsidenten verfolgt die Verhandlung am Fernsehen und weist darauf hin, wie die Richter ihre endlosen Urteile verlesen, geschrieben schon vor der Anhörung der Verteidigung von Lula, der gerade mal eine Viertelstunden für ihre Argumente eingeräumt wurde. Ein privilegierter Verfahrensbeobachter, der im Gerichtssaal von Porto Alegre anwesende australische Jurist Geoffrey Robertson, wird später äussern: „Dies war kein faires Verfahren. Die Richter sprachen während fünf Stunden und verlasen einen Script, den sie vor jeglicher Anhörung eines Plädoyers verfasst hatten. In einem Berufungsverfahren müssen die Richter zuerst die Parteien anhören, bevor sie ein Urteil fällen.“
Ausser Lula verfolgen alle die Reaktionen in den Social Media. Mit am meisten Wirkung zeigte ein Tweet des Journalisten Rodrigo Vianna: „Im wichtigsten Prozess in der Geschichte dieses Landes serviert eine schwarze Frau drei weissen Herren den Kaffee, während sie über einen Einwanderer aus dem Nordosten zu Gericht sitzen. Wenn wir diese Symbolik nicht begreifen, werden wir dieses Land nie verstehen.“[2]
Lula im Nordosten, September 2017.

Lula umarmt einen seiner Söhne, sagt ihm etwas ins Ohr und geht nach Hause, bevor der letzte Richter zu reden anfängt. In der Gewerkschaft bleiben mehr als 500 Leute, Mitarbeitende, AktivistInnen der Sozialbewegungen, des MST und Dutzende von Medienarbeitende aus 34 Länder. In der Gewerkschaftszentrale, die stets auch das Heim des Ex-Präsidenten gewesen ist, bleibt die Traurigkeit. Hier fand vor einigen Monaten die Totenwache für Marisa Leticia statt, die Frau von Lula, die diese Richter jetzt als Mittäterin eines Delikts bezeichnen, das niemand begangen hat. Vor genau einem Jahr, an einem 24. Januar, erlitt Marisa Leticia den Schlaganfall, der sie das Leben kosten würde. Das Datum, das die brasilianische Justiz wählte, um Lula erneut zu verurteilen. 
Marisa Leticia und Inacio Lula
Pablo Gentili: Welche Herausforderungen stellen sich dem PT und den fortschrittlichen Kräften Brasiliens?
Lula: Die Herausforderung ist, die im Gang befindlichen Rückschritte in Sachen Demokratie und Rechte der Arbeiter zu vermeiden. Besonders jetzt mit der Rentenreform der Putschregierung von Michel Temer. Und diesen Oktober wirklich freie und demokratische Wahlen zu garantieren. Eine konservative Offensive will das Land anästhesieren. Sie sagten, das Problem in Brasilien seien der PT und die Regierung Dilma. Also setzten sie die von 54 Millionen gewählte Präsidentin und versprachen, alles würde besser. Danach sagten sie, das Problem seien die Arbeitsrechte. Und sie eliminierten diese Rechte. Jetzt sagen sie, das Problem seien das Rentensystem und ich.
Aber das brasilianische Volk wacht auf und entdeckt, dass sie nicht wie versprochen die Krankheit heilen, sondern die lebenswichtigen Organe des Landes rauben: unsere Naturressourcen, die Rechte des Volkes, das öffentliche Erbe. Die Rechte hat geputscht, aber nach mehr als einem Jahr können sie nicht mit einem anderen Kandidaten aufwarten als einem Neofaschisten, einem Verteidiger der Militärdiktatur, einem Sexisten und Gewalttäter wie Jair Bolsonaro. Ein Abgeordneter, der in der Session der Absetzung von Dilma Rousseff sein Votum jenem General widmete, der sie gefoltert hatte, als sie 19 war. Andererseits hört die Kandidatur von Lula nicht auf zu wachsen und alle Wahlumfragen anzuführen. 
August 2017.
 
Warum ereignet sich all dies?
Weil dem Volk klar wurde, dass der Putsch nicht gegen Dilma, gegen Lula, gegen den PT gerichtet war. Sondern gegen die Arbeiter, die Mittelschicht, gegen die, die eine enorme Anstrengung machen, um in Würde zu überleben. Der Putsch richtete sich gegen die demokratischen Errungenschaften, die dazu geführt hatten, dass Brasilien die Armut, die soziale Ungerechtigkeit, den Hunger bedeutend reduzieren konnte. Sogar ein breiter Sektor der Mittelschicht, die den Putsch unterstützt hatte, leidet unter seinen Folgen. Wenn wir nicht rechtzeitig reagieren, wird Brasilien wieder ein Land sein, in dem ein Drittel der Bevölkerung Rechte hat, während, wie schon heute, tausende von Kindern auf den Strassen hungern. Die sozialen Indikatoren des Landes haben sich auf bestürzende Weise verschlechtert.
·        gekürzt aus Página/12, 28.1.18: “Una ofensiva conservadora trata de anestesiar el país”


[1] Vom Nazi- (und späteren BRD-) Juristen Hans Welzel entwickelte Theorie, der zufolge Hauptverantwortlicher für ein Delikt ist, wer im Gegensatz zu Mitbeteiligten das Schlussergebnis eines Geschehens kontrolliert.
[2] Historisch extrem arme, am wenigsten „weisse“ Region des Landes.


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Das Verhör
(zas) Am 24. Januar wurde Lula erneut dafür verurteilt, dass er angeblich vom Bauriesen OAS für das Zuschanzen von staatlichen Bauaufträgen eine Wohnung bekommen habe. Dafür verurteilte ihn schon der Untersuchungsrichter Sérgio Moro (zu dieser Person s. Die Korruption – das Problem in Lateinamerika?) im Mai letzten Jahres. Es gibt nicht ein Dokument, nicht einen Beweis für diese Beschuldigung. Erhellend dafür dieser Auszug aus Moros Verhör von Lula:
-Die Wohnung gehört Ihnen?
- Nein.
- Sicher?
- Sicher.
- Dann gehört Ihnen die Wohnung nicht?
- Nein.
- Auch nicht ein wenig?
- Nein.
- Sie bestreiten also, dass sie Ihnen gehört?
- Ich bestreite es.
- Und wann kauften Sie sie?
- Nie.
- Und wieviel kostete sie Sie?
- Nichts.
- Und seit wann besitzen Sie sie?
- Seit nie.
- Sie gehört also nicht Ihnen?
- Nein.
- Sind Sie sicher?
- Ich bin es.
- Sagen sie mir: Warum wählten Sie diese Wohnung und nicht eine andere aus?
- Ich habe sie nicht ausgewählt.
- Hat Ihre Frau sie ausgewählt?
- Nein.
- Wer hat sie ausgewählt?
- Niemand.
- Und weshalb kauften Sie sie dann?
- Ich habe sie nicht gekauft.
- Sie wurde Ihnen geschenkt…
- Nein.
- Und wie haben Sie sie erworben?
- Sie gehört mir nicht.
- Sie bestreiten, dass sie Ihnen gehört?
- Habe ich Ihnen schon gesagt.
- Beantworten Sie die Frage!
- Ich habe sie schon beantwortet.
- Sie bestreiten es?
- Ich bestreite es.
- Sie gehört Ihnen also nicht…
- Nein.
(…)
-                  Herr Richter, haben Sie irgendeinen Beweis dafür, dass mir diese Wohnung gehören soll, dass ich dort gelebt, dort eine Nacht verbracht haben soll, dass meine Familie umgezogen sei? Oder haben Sie irgendeinen Vertrag, eine Unterschrift von mir, eine Banküberweisung, irgendetwas?
-                  Nein, deshalb frage ich Sie.
-        Ich habe Ihnen schon geantwortet.

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"Dieses Urteil [gegen Lula] hilft dabei, einen Teil der Bedenken des Marktes bezüglich der Präsidentschaftswahlen zu mindern", erklärte Alberto Ramos, brasilianischer Chefökonom der US-amerikanischen Bank Goldman Sachs.
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