Im wichtigsten Prozess in der Geschichte dieses Landes serviert eine schwarze Frau drei weissen Herren den Kaffee, während sie über einen Einwanderer aus dem Nordosten zu Gericht sitzen. Wenn wir diese Symbolik nicht begreifen, werden wir dieses Land nie verstehen.“
(zas, 29.1.18) Lula, eine Lichtgestalt? Er, der
in seiner Präsidentschaft die Soyaisierung der Landwirtschaft mit
Gentechsaatgut von Monsanto vorantrieb? Er, der eine Weile lang der Darling am
WEF war? Keine Lichtgestalt. Aber der von Millionen der Unterklassen geliebte
ehemalige Gewerkschafter hatte den Hunger massiv reduziert, stand für die
Befreiung aus Armut von mehreren zehn Millionen Menschen und liess sich – trotz Sirenenklängen aus den
imperialistischen Metropolen von der gemässigten versus die populistische Linke
– nie gegen Venezuela, gegen Kuba, gegen Bolivien vereinnahmen. Es geht so
schnell vergessen: Als z. B. 2008 die weissen
Eliten den reichen „Halbmond“ Boliviens vom indigenen Rest des Landes abtrennen
wollten und unter US-Regie eine bewaffnete Revolte anstrebten, stellte Lula
unmissverständlich klar, dass aus einer abtrünnigen Region nicht eine Ware
nach Brasilien exportiert werden könne. Das schmerzte die Oligarchie im
Halbmond. Das Brasilien Lulas und des PT war eine zentrale Kraft für die
Neuformierung der lateinamerikanischen Einheit jenseits des Diktats von
Washington (und der EU). Zusammen mit Hugo Chávez und Néstor Kirchner war Lula wesentlich
mitbeteiligt am Scheitern des Projekts einer kontinentweiten Freihandelszone
(ALCA), das heute neu aufgelegt wird. Vor wenigen Tagen las ich eine Stellungnahme
einer argentinischen Gruppe zu Brasilien und dem Prozess gegen Lula, der
zufolge der PT nichts als eine gemässigte Façon des Kapitalismus repräsentiere
und heute die Gelegenheit beim Schopf ergriffen werden müsse, dass die Klasse
sich selber direkt und ohne Vermittlung organisieren und ihr Schicksal
bestimmen. Eine Zielvorgabe für lange, sehr lange Zyklen, die als revolutionäre
Handlungsanweisung für hier und heute so erhellend und produktiv ist wie das
Skandieren des „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“
Lieber etwas Bescheideneres wie der folgende
Text mit seinen zwei, drei Blitzlichtern auf die Dynamik
der Konterrevolution. Lieber der Augenöffner von der schwarzen Frau, die den
weissen Herren den Kaffee serviert, als ob „grosser Worte“ übersehen, weshalb
die transnationale Reaktion so entfesselt gegen die Erinnerung an ein eben noch
vorhandenes anderes Brasilien wütet.
Pablo Gentili, der Autor des folgenden Textes,
ist Exekutivsekretär des Consejo
Latinoamericano de Sciencias Sociales (CLACSO) und Dozent an der Universität
von São Paulo. Der seit 25 Jahren in Brasilien lebende Argentinier beschreibt
einen Schlüsseltag in der Geschichte Brasiliens und der Region, den 24. Januar,und
die Gespräche mit Lula vor und nach dem Urteil der Kammerrichter in Porto
Alegre.
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Pablo Gentili*
Lula stützt seinen Kopf auf die linke Hand. Er
scheint nicht müde, obwohl seine ganze Entourage nach Wochen der Anspannung und
Nervosität erschöpft ist. Es fehlen ein paar Stunden, bis das 4. Regionale
Bundesgericht das Urteil von Richter Sérgio Moro bestätigt. Lula zeigt sich als
realistisch und übernimmt die Aufgabe, die Stimmung unter den Angehörigen,
Freunden und Mitarbeitenden zu heben. Das war immer so. In den schwierigsten
Momenten seiner Präsidentschaft kam er in den Palacio do Planalto (Regierungssitz) und wenn er jemanden mit
niedergeschlagener Miene sah, sagte er: „Was
soll diese Miene? Du hast doch nicht etwa die Zeitungen gelesen?“ Um dann
in Gelächter auszubrechen.
Wie Lula wissen alle, die ihn an diesem 24.
Januar in der Metallergewerkschaft von São Paulo begleiten, dass sie der
Chronik eines angekündigten Urteils beiwohnen. Die Farce geht weiter, begonnen
von Richter Moro, mit dem der Ex-Präsident ein Gespräch führte, das Kafka
erbleichen lassen und den Neid der Marx Brothers auf sich ziehen würde. Ein
Prozess, in dem nichts bewiesen werden muss. Gegen Lula wurde schon alles als feststehend
bewertet, mittels des juristischen Kniffs der Überzeugung des Richters, der
sog. Finalen Handlungslehre[1], der Missachtung eines fairen
Verfahrens und des Vorsatzes, Rache zu einem Rechtsakt zu machen. Das nennt
sich lawfare: Einsatz der Justiz, um
politische Gegner fertig zu machen.
Gefangener unter der Militärdiktatur. |
Richter Moro lässt Lula 2015 illegal zu einer einvernahme zwangsvorführen. |
Das Team des Ex-Präsidenten verfolgt die
Verhandlung am Fernsehen und weist darauf hin, wie die Richter ihre endlosen Urteile
verlesen, geschrieben schon vor der Anhörung der Verteidigung von Lula, der
gerade mal eine Viertelstunden für ihre Argumente eingeräumt wurde. Ein
privilegierter Verfahrensbeobachter, der im Gerichtssaal von Porto Alegre
anwesende australische Jurist Geoffrey Robertson, wird später äussern: „Dies war kein faires Verfahren. Die Richter
sprachen während fünf Stunden und verlasen einen Script, den sie vor jeglicher
Anhörung eines Plädoyers verfasst hatten. In einem Berufungsverfahren müssen
die Richter zuerst die Parteien anhören, bevor sie ein Urteil fällen.“
Ausser Lula verfolgen alle die Reaktionen in
den Social Media. Mit am meisten Wirkung zeigte ein Tweet des Journalisten
Rodrigo Vianna: „Im wichtigsten Prozess
in der Geschichte dieses Landes serviert eine schwarze Frau drei weissen Herren
den Kaffee, während sie über einen Einwanderer aus dem Nordosten zu Gericht
sitzen. Wenn wir diese Symbolik nicht begreifen, werden wir dieses Land nie
verstehen.“[2]
Lula im Nordosten, September 2017. |
Lula umarmt einen seiner Söhne, sagt ihm etwas
ins Ohr und geht nach Hause, bevor der letzte Richter zu reden anfängt. In der
Gewerkschaft bleiben mehr als 500 Leute, Mitarbeitende, AktivistInnen der
Sozialbewegungen, des MST und Dutzende von Medienarbeitende aus 34 Länder. In
der Gewerkschaftszentrale, die stets auch das Heim des Ex-Präsidenten gewesen
ist, bleibt die Traurigkeit. Hier fand vor einigen Monaten die Totenwache für
Marisa Leticia statt, die Frau von Lula, die diese Richter jetzt als Mittäterin
eines Delikts bezeichnen, das niemand begangen hat. Vor genau einem Jahr, an
einem 24. Januar, erlitt Marisa Leticia den Schlaganfall, der sie das Leben
kosten würde. Das Datum, das die brasilianische Justiz wählte, um Lula erneut
zu verurteilen.
Marisa Leticia und Inacio Lula |
Pablo Gentili: Welche
Herausforderungen stellen sich dem PT und den fortschrittlichen Kräften
Brasiliens?
Lula: Die Herausforderung ist, die im Gang
befindlichen Rückschritte in Sachen Demokratie und Rechte der Arbeiter zu
vermeiden. Besonders jetzt mit der Rentenreform der Putschregierung von Michel
Temer. Und diesen Oktober wirklich freie und demokratische Wahlen zu
garantieren. Eine konservative Offensive will das Land anästhesieren. Sie
sagten, das Problem in Brasilien seien der PT und die Regierung Dilma. Also
setzten sie die von 54 Millionen gewählte Präsidentin und versprachen, alles
würde besser. Danach sagten sie, das Problem seien die Arbeitsrechte. Und sie
eliminierten diese Rechte. Jetzt sagen sie, das Problem seien das Rentensystem
und ich.
Aber das brasilianische Volk wacht auf und
entdeckt, dass sie nicht wie versprochen die Krankheit heilen, sondern die lebenswichtigen
Organe des Landes rauben: unsere Naturressourcen, die Rechte des Volkes, das
öffentliche Erbe. Die Rechte hat geputscht, aber nach mehr als einem Jahr
können sie nicht mit einem anderen Kandidaten aufwarten als einem
Neofaschisten, einem Verteidiger der Militärdiktatur, einem Sexisten und
Gewalttäter wie Jair Bolsonaro. Ein Abgeordneter, der in der Session der
Absetzung von Dilma Rousseff sein Votum jenem General widmete, der sie
gefoltert hatte, als sie 19 war. Andererseits hört die Kandidatur von Lula
nicht auf zu wachsen und alle Wahlumfragen anzuführen.
August 2017. |
Warum ereignet sich
all dies?
Weil dem Volk klar wurde, dass der Putsch nicht
gegen Dilma, gegen Lula, gegen den PT gerichtet war. Sondern gegen die
Arbeiter, die Mittelschicht, gegen die, die eine enorme Anstrengung machen, um
in Würde zu überleben. Der Putsch richtete sich gegen die demokratischen
Errungenschaften, die dazu geführt hatten, dass Brasilien die Armut, die
soziale Ungerechtigkeit, den Hunger bedeutend reduzieren konnte. Sogar ein
breiter Sektor der Mittelschicht, die den Putsch unterstützt hatte, leidet
unter seinen Folgen. Wenn wir nicht rechtzeitig reagieren, wird Brasilien wieder
ein Land sein, in dem ein Drittel der Bevölkerung Rechte hat, während, wie
schon heute, tausende von Kindern auf den Strassen hungern. Die sozialen Indikatoren
des Landes haben sich auf bestürzende Weise verschlechtert.
·
gekürzt
aus Página/12, 28.1.18: “Una
ofensiva conservadora trata de anestesiar el país”
[1] Vom Nazi- (und späteren BRD-)
Juristen Hans Welzel entwickelte Theorie, der zufolge Hauptverantwortlicher für
ein Delikt ist, wer im Gegensatz zu Mitbeteiligten das Schlussergebnis eines
Geschehens kontrolliert.
[2] Historisch extrem arme, am
wenigsten „weisse“ Region des Landes.
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Das Verhör
(zas) Am 24. Januar wurde Lula erneut dafür
verurteilt, dass er angeblich vom Bauriesen OAS für das Zuschanzen von
staatlichen Bauaufträgen eine Wohnung bekommen habe. Dafür verurteilte ihn
schon der Untersuchungsrichter Sérgio Moro (zu dieser Person s. Die
Korruption – das Problem in Lateinamerika?) im Mai letzten Jahres. Es gibt
nicht ein Dokument, nicht einen Beweis für diese Beschuldigung. Erhellend dafür
dieser Auszug aus Moros Verhör von Lula:
-Die Wohnung gehört Ihnen?
- Nein.
- Sicher?
- Sicher.
- Dann gehört Ihnen die Wohnung nicht?
- Nein.
- Auch nicht ein wenig?
- Nein.
- Sie bestreiten also, dass sie Ihnen gehört?
- Ich bestreite es.
- Und wann kauften Sie sie?
- Nie.
- Und wieviel kostete sie Sie?
- Nichts.
- Und seit wann besitzen Sie sie?
- Seit nie.
- Sie gehört also nicht Ihnen?
- Nein.
- Sind Sie sicher?
- Ich bin es.
- Sagen sie mir: Warum wählten Sie diese
Wohnung und nicht eine andere aus?
- Ich habe sie nicht ausgewählt.
- Hat Ihre Frau sie ausgewählt?
- Nein.
- Wer hat sie ausgewählt?
- Niemand.
- Und weshalb kauften Sie sie dann?
- Ich habe sie nicht gekauft.
- Sie wurde Ihnen geschenkt…
- Nein.
- Und wie haben Sie sie erworben?
- Sie gehört mir nicht.
- Sie bestreiten, dass sie Ihnen gehört?
- Habe ich Ihnen schon gesagt.
- Beantworten Sie die Frage!
- Ich habe sie schon beantwortet.
- Sie bestreiten es?
- Ich bestreite es.
- Sie gehört Ihnen also nicht…
- Nein.
(…)
-
Herr
Richter, haben Sie irgendeinen Beweis dafür, dass mir diese Wohnung gehören
soll, dass ich dort gelebt, dort eine Nacht verbracht haben soll, dass meine
Familie umgezogen sei? Oder haben Sie irgendeinen Vertrag, eine Unterschrift
von mir, eine Banküberweisung, irgendetwas?
-
Nein,
deshalb frage ich Sie.
-
Ich
habe Ihnen schon geantwortet.
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"Dieses Urteil [gegen Lula] hilft dabei,
einen Teil der Bedenken des Marktes bezüglich der Präsidentschaftswahlen zu
mindern",
erklärte Alberto Ramos, brasilianischer Chefökonom der US-amerikanischen Bank
Goldman Sachs.
aus amerika21,
28.1.18: Verurteilung
Lulas in Brasilien stößt auch international auf Kritik.
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