Das Morden in Nicaragua geht weiter. Beide Seiten werden
brutal. Eine Lösung ist nicht in Sicht.
(zas, 5.6.18) Ich dachte, die Praxis, Leute der Gegenseite
nackt auszuziehen und zu quälen, sei gewissen Strukturen der Rechten
vorbehalten. Falsch gedacht. In der Sendung A los 4 Vientos
berichtete gestern William Grigsby, dessen Integrität wir seit Jahren kennen,
die Geschichte eines Jungen in der Stadt Chinandega. Er ist zuhause und erhält
einen Anruf: Sein Freund ist bei einer Oppositionsdemo verletzt worden. Er verlässt
sein Haus, steigt aufs Moto und will zum Ort des Geschehens fahren. Doch eine
Gruppe Sandinistas packt ihn, schleppt ihn in ein Haus, zieht ihn aus und
verprügelt ihn. Zu seinem Glück kommt eine Person hinzu, die ihn kennt: «Nee,
lasst mal, das ist der und der.» Er darf gehen, aber noch nicht mal seine
Unterhose lassen sie ihn anziehen.
4 Vientos. |
Andere Geschichte, heute früh: Ein kommuner Sicherheitsangestellter
(Typ Securitas) des Marktes in der Stadt Granada geht an einer Strassensperre
vorbei. Die «Friedlichen» erkennen ihn, halten ihn für einen Angestellten des
Bürgermeisteramtes, fangen an, ihn auszuziehen und zu schlagen. Sie wollen ihn
niederstechen, aber andere Leute der Sperre verhindern das.
Dritte Geschichte: Den 24-jährigen Sandinista Eddy Zelaya
packen sie an der Strassensperre des Städtchen Tipitapa, binden ihn an einen
Pfosten und quälen ihn. Er liegt jetzt im Spital.
Gerade kommt die Nachricht: Das Bürgermeisteramt von Granada
brennt.
In einem Video verliest ein Vermummter das Kommuniqué eines
Frente Norte Carlos Fonseca Amador (Name des historischen FSLN-Gründers).
Tenor: Bei jedem Mord an einem Sandinista schlagen wir zurück.
Aus Masaya, wo schwere Kämpfe toben, kommt ein Video einer
gefangen genommenen Soldatin. Sie wird vor einer wütenden, teilweise vermummten
Gruppe von Frauen und Männern vorgeführt und dann in ein Haus verbracht. Es ist
offensichtlich, dass die Gruppe Kommandostrukturen kennt. Die Armee ist nicht
in die Auseinandersetzungen involviert; sie beschränkt sich auf Objektschutz u.
ä. In einem Teil von Masaya scheint eine Situation der Doppelmacht zu
existieren. Die «Menschenrechtsorganisation» ANPDH fungiert als Sprachrohr der
bewaffneten Strukturen, ein berüchtigter Pfarrer scheint sowas wie ein politischer
Ratgeber derselben zu sein.
Auf einer sandinistischen Homepage sah ich eine
Grussbotschaft von Daniel Ortega an die «leidgeprüften» Brüder in Masaya. Nach
zu vielen Worten wie «Liebe», «Versöhnung», «Gebet», «Christentum» stellte ich
das Video ab. In welcher Welt lebt der Mann?
In diesen Tagen kommt es vor allem im östlichen Teil
Managuas zu einer Welle brutaler Raubüberfälle und anderer Gewalttaten. Es ist
die Gegend, in denen Banden und Drogenhandel offenbar schon vor den Unruhen den
Ton angaben. Verbrechen wie das am Kneipenbesitzer mit US-Pass vom 1. Juni (s.
Post von gestern), den die Polizei offenbar aufgeklärt hat, sind von einer für
die Narcos typischen Brutalität. Seinen Freund hatten sie schon in ihrer
Gewalt. Dieser rief den Barbesitzer um Hilfe herbei, er sei in Problemen wegen
seines Wagens. Kaum angekommen, wurde der Barbesitzer entkleidet und ermordet.
Den Freund hielten die Täter für tot, weshalb er schwerverletzt überlebte. Die
beiden Wagen verbrannten sie. Die Polizei identifizierte die Täter als
Mitglieder einer Bande, die in der Gegend der besetzten Universität Upoli
operiert. In dieser Zone ist es seit April oft zu Schüssen und anderen
Gewaltakten gegen AnwohnerInnen gekommen. Seit langem machen sandinistische
Kreise kriminelle Strukturen dafür verantwortlich, die mit den angeblich nicht-
studentischen-BesetzerInnen der Rechtspartei MRS kooperierten. Die drei
ultrarechten nicaraguanischen «Menschenrechtsorganisationen» und in ihrem
Gefolge Amnesty International oder die Menschenrechtsorganisation der OAS erkennen
aber nur Angriffe «sandinistischer Horden» auf idealistische Studis. Beide
Seiten werfen sich vor, die Banden und Strukturen der organisierten
Kriminalität für ihre Zwecke eingespannt zu haben. Vorstellbar, dass die Bullen
mal mit einer, die Rechte mit einer anderen Gruppe anbandelte. Ziemlich klar
ist, dass die Besetzung der Upoli eng mit solchen Elementen verbandelt ist. Wie
andere warnt auch William Grigsgby in der Diskussionsrunde der 4 Vientos vor
einer von OK, Narcos usw. angestossenen, kaum mehr reversiblen Brutalisierung
des Landes. Welcome to Central America.
(Vielleicht die Frage, warum die Polizei in diesem Fall mit
drohender US-Weiterung so schnell Untersuchungsergebnisse erzielte, während man
davon für die Morde in der ersten Phase der Unruhen nichts weiss?)
Einen Eindruck von dieser Sorte Militanz und ihrer selbstverständlichen
Straflosigkeit vermittelt das folgende Video. Bei der Universität UNAN in
Managua hatten «Rebellen» den Feind erblickt, nämlich Angestellte der Gemeindeverwaltung,
die den Fehler begingen, zu meinen, sie dürften die Strasse benutzen. Die Frau
im Off sagt gegen Schluss: «Das sind Asoziale,
das sind keine Studenten.»
Dieses noch: In A los 4 vientos von gestern gehen die beiden
unkonventionellen sandinistischen und der oppositionelle Journalist nochmals
auf die Weichenstellung vom 30. Mai ein, die «Mutter aller Demos». Auch sie
haben eine Menge Versionen über das Was und Wie gehört, aber feststeht, dass es
zu den ersten Zusammenstössen, wie gestern hier berichtet, in der Gegend des Sportstadions
gab. Die ersten beiden Toten waren Sandinistas. Im Gegensatz zu Informationen,
die am Vortag bei uns eintrafen, haben sich die Auseinandersetzungen dann auch
auf das Gebiet bei der Jesuitenuni UCA ausgeweitet, wo es zu zwei Toten vor Ort
und zwei weiteren später (einer in Polizeihaft – misshandelt?) gekommen sei.
Interessant ist die Beobachtung, die alle drei unterschrieben, dass die schweren
Angriffe auf das Stadion nachts liefen, als keine DemonstrantInnen mehr auf der
Strasse waren. Und dass der grösste Teil der zuvor friedlichen Demo an einem
anderen Ort, dem Metro Centro, endete, wie eigentlich vorgesehen. Der Marsch
zur UCA bzw. in die Nähe der sandinistischen Mobilisierung war insofern eine Art
«Nachdemo», aber von rechts.