(zas, 29.6.18) Vor einigen Tagen erhielt die
Städtepartnerschaft Delémont-La Trinidad ein Info-Update zur Lage in dieser
kleinen, rechts regierten Stadt auf der Strasse von Estelí nach Sébaco und weiter
nach Managua. Ein Auszug daraus:
____
Was nennen sie Studenten? Die von der Gemeinderegierung
meiner Stadt bezahlten Vandalen. Eine Gruppe von Jungen, die nicht studieren
und auf Drogen sind.
Es gibt kein Recht mehr auf Bewegungsfreiheit in den
Strassen von La Trinidad, denn heute erwachten wir mit noch mehr Barrikaden.
Sie riefen nach Geld aus den USA, damit am Dienstag ein Bus
voller Bewaffneter vom Ausland ankam.
Nennt man das jetzt Terrorismus oder Studenten?
Sie riefen danach: Seit April steigt die Arbeitslosigkeit in
Nicaragua, da die Leute, die sich ihr Brot jeden Tag mit Strassenverkauf
verdienen, dies nicht mehr tun können. Und viele RentnerInnen können wegen der
Strassensperren nicht mehr ihre Monatsrente holen.
Einer Mutter, die eine Sperre passierte, entrissen sie ihr
Mädchen und vergewaltigten es.
Wer ist Terrorist? Wer ist der Mörder?
Als sie auf der Strasse frei töteten und dann die Leichen
anzündeten, sagte der Zyniker vom TV-Sender, der sie unterstützt, zum
Kameramann: Nimm es gut auf!
Wer verletzt das Recht von wem? Als sie meinen Kindheitsfreund
mit Kugeln und Schlägen aus dem Haus zerrten, wo er eine Geburtstagstorte für
seinen 6-jährigen Sohn aufgetischt hatte?
Und sie schossen meinem anderen Freund seit Kindheitstagen nach,
als er über die Dächer abhaute, damit sie ihn nicht umbringen. Beide waren
Nachbarn von mir.
Also wer verletzt hier die Rechte? Sie sagen verallgemeinernd,
es sei die nicaraguanische Bevölkerung.
ABER DIE NICARAGUANISCHE BEVÖLKERUNG IST NICHT SO. WIR
LEBTEN IN FRIEDEN, GINGEN UNSERER ARBEIT NACH UND VERDIENTEN EHRLICH UNSER
BROT. DIE BEVÖLKERUNG BLEIBT ZUHAUSE, WIR SIND KEINE VANDALEN.
Gestern haben sie eine Strassensperre in Estelí geräumt. Wen
verhafteten sie dabei? Drei bewaffnete Salvadorianer.
Es ist nicht die Bevölkerung, es sind nicht die Studenten,
es waren die USA, die nicht wollten, dass es in Nicaragua weiter die beste
Sicherheit in Zentralamerika gäbe, die Wirtschaft weiter wachse und das Land
von Finanzierung durch die Gringos unabhängig werde und Mittel in Japan, China
und Europa sucht, Sie sind an allem, was hier geschieht, schuld.
In den Social Media zirkuliert die Info, die Armee sage
«nein» zum Präsidenten.
Das ist eine Lüge.
Der Präsident will die Armee nicht einsetzen und sucht
stattdessen eine Lösung.
Aber wie das erreichen, wenn die katholische Kirche hier im
Land nicht Vermittlerin ist, sondern diesen Massenmord mitfinanziert und
unterstützt?
Ich habe euch verrückt gerne und vergesst nicht: Die
Solidarität ist die Zärtlichkeit der Völker.
________
(zas) Nach Darstellung vieler Sandinistas spielt
insbesondere die katholische Kirche eine wichtige logistische und
mobilisierende Rolle in den Unruhen. Vielerorts sind demnach die Kirchen
veritable Kommando-, Verpflegungs- und Mobilisierungszentralen für die Umsturzkräfte.
Nicht erstaunlich, aber «reizend», da die Kirche offiziell im nationalen Dialog
zwischen den beiden verfeindeten Lagern vermittelt und zu den wichtigsten «Infoquellen»
der diversen internationalen Organisationen gehört, die sich, wie die OAS,
Amnesty International, das UNO-Menschenrechtskommissariat für Menschenrechte,
in Nicaragua auf Seiten der Kräfte des regime
change engagieren.
Da ist die oben angetönte parteiische Rolle der Bischofskonferenz
im Dialogprozess. Am 31. Mai suspendierte sie den Dialog aufgrund der
Ereignisse um die «Mutter aller Demonstrationen» vom Vortag (landesweit 15 Tote)
mit der Begründung,
sie habe «… die von bewaffneten regierungsnahen
Gruppen gegen die Zivilbevölkerung verübten Gewalttaten mit Schmerzen
mitverfolgt (…) Wir halten fest, dass der Nationale Dialog nicht weitergeführt
werden kann», solange das nicaraguanische Volk (…) unterdrückt und ermordet
wird.» Ansonsten erbat sie die Barmherzigkeit der Heiligen Jungfrau für die
Mütter der Ermordeten, deren Leid sie ja kenne.
Längst nicht alles, was an diesem 30. Mai geschah, ist klar.
Doch einige Dinge stehen fest: Die tatsächlich enorme Demo der Opposition – von
der klassischen Rechten und ihrem Klerus über enttäuschte Sandinistas bis zu
vielen jugendlichen Kontingenten – war ungestört abgelaufen, kein Polizist in
Sicht. Danach setzten sich militante Teile ab und zogen in Richtung der Sandinistas,
die von einer Gegenmobilisierung («Gesang und Gebet» nannte das die Propaganda
der Vizepräsidentin) heimgingen. Hier kam es zu ersten Feuergefechten, die
ersten beiden Toten waren Sandinistas. Ein kleiner Teil der ursprünglichen
Demo, der die militanten Kräfte bis zur Jesuitenuniversität UCA begleitet hatte
(aber nicht weiter) geriet vermutlich wegen dieser in der Nähe stattfindenden
Auseinandersetzung in Panik und flüchtete in die UCA. Die Rechte beschreibt die
Panik als Resultat eines Beschusses durch «sandinistische Horden», was aber
nach allem, was wir wissen, eine Erfindung ist (s. Nicaragua:
Schlimme Eskalation). Die meisten Toten gab es erst spät nachts, als mit
Bestimmtheit keine DemonstrantInnen mehr auf den Strassen waren, aber es beim
wiederholt von den Rechten angegriffenen Nationalen Stadion zu Attacken und Gegenattacken
kam.
Doch wie die Rechte oder Amnesty gehen für die
Bischofskonferenz offiziell alle Toten auf das Konto der Regierung, weshalb sie
den Dialog erst mal abbrach. Dies passte bestens zu den Kalkülen der Kräfte für
den regime change, deren Angst,
Daniel Ortega könnte in Verhandlungen wie früher das Lager der Opposition spalten,
noch heute jederzeit sichtbar ist. Eine Verschärfung der Lage aber würde dank
internationaler Parteinahme solche Tendenzen unterbinden. Erst morgen Samstag
soll es wieder eine Grossdemo der Rechten geben. Die «Mutter aller Demos» hatte
einen Monat ohne Demos, dafür mit zunehmend heftigeren bewaffneten Aktionen
eröffnet. Erst seit ca. einer Woche scheint diese Dynamik an Stärke zu
verlieren. In Nicaragua:
Von der «Mutter aller Demonstrationen» sehen wir den Pfarrer des Städtchens Nueva
Guinea, wie er seiner «Herde» die Anweisungen für die Demo vom 30. Mai in
Managua weiterleitet, und dabei betont, es sei nötig, «ins Herz des Problems zu gehen». Nach Auskunft des Radio La Primerísima, dem
wir seit vielen Jahren verbunden sind – etwa wegen seiner Politsendungen mit
der unzensurierten Zuschaltung von Spontananrufenden – ist Nueva Guinea kein
Einzelfall. Die Kirche war in die Unruhen involviert.
Auf Ähnliches bezieht sich die Anschuldigung gegen die Kirche
in der Mail oben. Weihbischof Silvio Báez und ein Bischofskomplize wollten die
unterdessen wiederaufgenommene Dialogrunde Mitte Juni mit der Begründung der
Unvereinbarkeit der Positionen abbrechen. Bischof Bosco Vivas verhinderte dies,
die Diskussion ging weiter und es kam zu einem Zwischenergebnis,
das die Regierung verpflichtete, etwa das UNO-Menschenrechtskommissariat zur
Teilnahme an einer internationalen Untersuchung einzuladen. Für die Regierung
war dagegen der Beschluss positiv, dass eine aus den Dialoglagern zu bildende
Verifizierungskommission einen «Plan zur
schnellstmöglichen Aufhebung der Strassensperren» erarbeiten sollte. Noch
am gleichen Abend liess die am Zwischenresultat beteiligte Oppositionsallianz
dieses platzen: Die Strassensperren würden erst aufgehoben, wenn die Repression
definitiv beendet sei. Und schnell schob die Allianz nach, erst wenn die
einzuladenden internationalen Organisationen den Erhalt der Einladung bestätigten,
könnten die Verhandlungen überhaupt fortgeführt werden. Auch Weihbischof Báez bediente
sich dieser Sprachregelung: «Die Plenarsitzung
des nationalen Dialogs ist suspendiert, bis diese Organisationen zeigen, dass
sie eingeladen worden sind.» Denn, so Báez: «Hier können nicht weiter Menschen umgebracht werden.»
Der Priester von Nueva Guinea, der die Anweisungen «von oben»
weitergibt, ist kein Einzelfall. Was etwa ist vom «Seelenhirten» im folgenden
Video zu halten, der am 30. Mai die Leute vor der UCA in nicht sehr
salbungsvollen Tonfall aufruft: «No se
acobarden! No se acobarden! No se acobarden! (Werdet nicht feige!)».
Im nächsten Video beteiligt sich ein Pfarrer an der «Ausräumung»
des Polizeipostens von Diriamba. Nach Tagen der Belagerung (s. Nicaragua:
Kurzinfos) konnte die Polizei als Resultat von Verhandlungen die Stadt
verlassen.
Solche Beispiele gibt es mehrere. Zwei besonders stossende
sollen noch erwähnt werden:
Am 19. Juni räumten starke Polizeieinheiten, unterstützt von
sandinistischen Gruppen (einige bewaffnet), die Strassensperren zwischen Managua
und der seit Wochen verkehrsmässig abgeschnittenen Stadt Masaya. Sie drangen
ins Stadtzentrum vor. Wir haben viele Berichte über Angst und Schrecken in
dieser Zeit in Masaya erhalten, von den Sprachrohren der Rechten stets als sandinistischer
Terror denunziert, gegen den sich die Bevölkerung von Masaya heldenhaft
auflehne. Am 18. Juni hatte die Oppositionsallianz hier die Ausrufung eines «befreiten
Territoriums» angekündigt. Daraus wurde ebenso wie in León, wo die Rechte dem
Beispiel folgen wollte, nichts. Die Polizei nahm eine Reihe von Verhaftungen
vor, nach dem, was die rechten Medien mitteilen, keine zwanzig, wenige angesichts
der Verhältnisse. Noch am gleichen Tag tweetete
Weihbischof Báez, DER Liebling der Rechten und starker Mann für die Bischöfe in
den Dialogrunden: «Priester in Masaya
informieren mich, dass in der Zone von San Jerónimo [Pfarrei in Masaya] Schüsse
fallen. Bitte, ich bitte alle auf den Barrikaden, schützt euer Leben. Das ist
nicht Feigheit, sondern Intelligenz.» Orientierungshilfe.
Am 21. Juni tweetete
der Mann: «Monimbó ist in Gefahr. Die Regierung muss ihrer Polizei und
den Paramilitärs befehlen, Monimbó nicht anzugreifen (…) KEINE MASSAKER MEHR IN
MASAYA!» Monimbó ist ein indigenes-populares Quartier, das beispielsweise
bei den sandinistischen Aufständen der 70er Jahre eine wichtige Rolle gespielt
hat. Und jetzt wieder. Dies gilt den Rechten als Beleg für den Volksaufstand.
Allerdings ist zu sagen, dass Monimbó ein von den Regierungen, jetzt auch der
sandinistischen, «vernachlässigtes» Quartier ist, in dem seit einer Weile Banden
ihr Unwesen treiben. Wiederholt haben wir nicht verifizierte Mitteilungen
erhalten, dass in Masaya gefangen genommene Sandinistas hierhergebracht worden
seien, um sie ungestört quälen oder umbringen zu können. Denunziation?
Wahrheit? Wir wissen es nicht. Fakt ist, dass nicht nur Báez wie von der
Tarantel gestochen auffuhr, um «Monimbó zu retten». Nach seinem Tweet fuhr er zusammen
mit dem neuen Nuntius, dem Kardinal und Kleruspersonal nach Masaya, um eine Prozession/Demonstration
anzuführen. Der Gruppe gelang es auch, die Freilassung einiger der gerade
Verhafteten zu erreichen. Als während Wochen die Polizisten eingekesselt waren,
was nicht nur in den einschlägigen Social-Media-Accounts, sondern auch in den
rechten TV-Sendern und Zeitungen höhnisch gefeiert wurde, als Sandinistas
Todesängste ausstanden, kam kein Tweet, keine Delegation, kein Gebet.
Am 21. Juni wurde sandinistische Musiklehrer Sander Bonilla
in León an einer Strassensperre bös misshandelt. Im nächsten Video sagt er, er
sei sogar mit Benzin übergossen worden. Ein Video zeigt, wie er brutal «behandelt»
wurde. Im folgenden Video sagt Sander u.a., dass der Pfarrer Berríos und der evangelikale
Priester Figuroa, der in León ein Kinderprojekt betreibe, dabeigestanden haben,
als die Barrikadengruppe ihn misshandelte. Figueroa habe ihn angeherrscht, vor
Gott und den Anwesenden für seine Sünde gegen das Volk um Verzeihung zu bitten;
Berríos wiederum, den Sander anflehte, ihn zu retten, meinte dann nur, er nehme
ihn jetzt mit und wies seine muchachos
an, keine Aufnahmen vom Vorfall ins Internet zu stellen.
Es gäbe noch viele solcher Beispiele. Gerade erhielten wir
einen Ausschnitt aus einem TV-Programm, in dem eine grosse Zahl von Camionneuren
aus dem zentralamerikanischen Ausland die «Menschenrechtler»
und die «Priester» bitten, sich
endlich für sie einzusetzen. Sie seien seit einem Monat in Jinotepe festgehalten,
als «Schutzschilder», wie mehrere von
ihnen sagten, manche von ihnen seien krank, Diabetes, anderes, ohne Zugang zu
Medikamenten. Vielleicht tut sich jetzt was für die Männer. Bisher hatten die
Pfaffen von Jinotepe für sie keine Zeit.
Vieles in Nicaragua erinnert an den Krieg der Cristeros im nachrevolutionären Mexiko (1926 – 1929). Der
katholische Klerus leitete damals eine brutale Revolte gegen die neue
Regierung, die die Macht der Kirche einschränken wollte. Eine von vielen
Menschen aus den Unterklassen getragene Revolte. Wie heute in Nicaragua. Mit
einem wichtigen Unterschied jedoch: In Mexiko wollte die Postrevolution
tatsächlich die Macht der Kirche brechen – das gelang auch für einige
Jahrzehnte; in Nicaragua gibt sich die Regierungsspitze als besonders fromm.
Das interessiert die Kirchenhierarchie und ihre Truppen aber nicht mehr.