Nicaragua: Ein Brief aus San Marcos und ein paar Anmerkungen

Donnerstag, 28. Juni 2018


(zas, 27.6.18) Eine E-Mail vom letzten Montag von einer Frau der LandarbeiterInnengewerkschaft ATC (Umfeld FSLN) an die Städtepartnerschaft Biel-San Marcos. San Marcos liegt südlich von Managua im Departement Carazo.
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Lieber XXX
In Nicaragua haben wir weiterhin ein ziemlich angespanntes Klima. Etwas Ruhe spüren wir nur an wenigen Tagen. Der Dialog [zwischen Regierung und der rechten Allianz] wurde vor einer Woche unterbrochen, als wir schon dachten, die bis dann erreichten Abkommen würden unserem Land Frieden bringen. Doch die sog. Zivilgesellschaft in diesem Dialog verletzt die Abkommen mit Unterstützung der katholischen Kirche, Das bedeutet, dass wir wieder in einen Zyklus der Gewalteskalation fallen. Mehrere Gemeinden in Carazo machten sehr schwere Zeiten durch, dies wegen der um die Strassenblockaden organisierten und Terror verbreitenden Gruppen. Vorallem in Diriamba und Jinotepe. San Marcos ist glücklicherweise ruhig, es ist zu keinen Gewaltakten gekommen. Das Bürgermeisteramt und das Gemeindezentrum des FLN haben Massnahmen ergriffen, um Angriffe zu verhindern. Die sandinistische Bevölkerung engagiert sich, um Angriffe zu verhindern, die Stadt insgesamt lebt relativ ruhig. Es hat Demos von Gruppen gegeben, die den Putsch gegen Präsident Ortega unterstützen, aber sie greifen niemanden an und das freut uns.
In San Marcos kam es nur in Las 4 Esquinas im ländlichen Bezirk zu Gewaltakten. Ein Junge wurde erschossen, als er aus seinem Haus ging, um zu arbeiten. Die kriminellen Gruppen kamen vorbei und haben Salven abgeschossen. Leider ist die Polizei in ihren Posten derzeit kaserniert, was es den Kriminellen ermöglicht, nach Gusto zu operieren und die Bevölkerung anzugreifen. Die sandinistische Bevölkerung bittet Präsident Ortega, die Polizei wieder auf der Strasse einzusetzen, vorallem, weil die putschistische Rechte die Sandinistas verfolgt und terrorisiert.
Es ist so, dass die Lage komplizierter wird, denn die rechten Gruppen haben im ganzen Land kriminelle Gruppen unter Vertrag genommen. Sie sind es, die den Verkehr mit den Barrikaden lahmlegen, wo sie Mädchen und Frauen vergewaltigt haben und Menschen entführt, gefoltert und umgebracht haben. Das machen sie mit jenen, die sich gegen sie stellen. Leider sind es nicht die Studenten, von denen zu Beginn die Rede war, die man auf der Strasse kämpfen sieht, sondern diese Gangster.
Ich will euch sagen, dass wir inmitten all dessen auf den ersehnten Frieden für unser Land hoffen. Deshalb ist es für uns wichtig, dass die Welt sich für die Fortführung des Dialogs ausspricht. Sehr traurig ist dabei die Rolle der katholischen Kirche. Sie sollte im Dialog Vermittlerin und Zeugin sein, schlägt sich aber auf die Seite der Gruppen, die keinen Frieden wollen und schützt, besonders schlimm, die Verbrecher, die Morde an der wehrlosen Bevölkerung verüben.
Grüsse und Danke, dass ihr an Nicaragua denkt.
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(zas) Wir erhalten sehr widersprüchliche Informationen aus Nicaragua (abgesehen von den schäumenden rechten Medien und den meist entsetzlich uninformativen offiziellen sandinistischen Homepages). Nach allem, was wir wissen, gab und gibt es eine tatsächlich sehr grosse Protestbewegung. Sie wurde sehr schnell instrumentalisiert, aufgeheizt und überlagert von organisierten Kräften des regime change. Eine klare Trennung ist natürlich nicht möglich, doch Viele mögen den Abgang subito der Regierung wollen, ohne deswegen realen Terror im Alltag auszuüben. Eine Sache ist es, mit einem zwar potentiell mörderischen, aber historisch vertrauten Handmörser gegen Polizeieinheiten zu agieren, die vorallem zu Beginn rücksichtlos vorgingen. Als etwa StudentInnen sich mit diesen morteros und Steinen gegen die Polizeierstürmung der Nationalen Universität zur Wehr setzten, standen sie in einer alten lateinamerikanischen Tradition der universitären Autonomie, die nur zu oft von diktatorischen Regimes angegriffen wird. Eine andere Sache ist, wenn tatsächlich besetzte Universitäten – wobei die BesetzerInnen vermutlich zu Beginn Studis waren, danach aber andere Kräfte das Szepter übernahmen – wie etwa die Upoli in Managua zu Ausgangs- und Rückzugsterrains von stark bewaffneten Strukturen wurden, die keineswegs «das Volk verteidigten».
Ähnliches gilt für die Barrikaden, die tranques. Es gibt ganz offensichtlich eine Reihe von tranques, die vopn den AnwohnerInnen errichtet wurden, um sich gegen schiessende, in Autos umherkurvende Gruppen zu schützen. Ob diese nun sandinistisch oder oppositionell, von der Polizei oder von Strassenbanden oder der der organisierten Kriminalität seien. Eine andere Sorte von tranques allerdings sind jene, auf die die Compañera der ATC Bezug nimmt: bewaffnete Strassenblockaden, die entweder niemanden durchlassen oder nur gegen Bezahlung, und die in sehr vielen Fällen tatsächlich zu Orten der Folter von Sandinistas werden. Dass die Hetzmedien und reaktionären «Menschenrechtsvereine» (nationale und internationale) zusammen mit dem Grossteil der katholischen Kirche diese Praxis leugnen bzw. bejubeln als «Volkswiderstand», ist zwar unerträglich, aber erstaunt nicht. Schlimm ist, dass frühere linke FreundInnen wie die Ex-Comandante Mónica Baltodano oder der «Analytiker» René Óscar Vargas, auch er ein in der Soliszene kein Unbekannter, in den Hetzmedien wie in progressivern Kreisen dieselbe Tour abspielen. Sie sind so scharf links, antikapitalistisch, dass sie heute in der Sache mit den Agenturen der Bourgeoisie und des Imperialismus kooperieren und unbeirrt dreist lügen, sogar wenn Sandinistas, die sie kannten, brutal ermordet werden – nur die «Ortega-Diktatur», schlimmer als jene von Somoza (Baltodano im La Prensa gestern), mordet, die Opposition ist mustergültig zivilgesellschaftlich friedlich. Und klar, in der ausländischen Linken gibt es genug Leute, denen das runtergeht wie warme Semmel.
Dieser Tage, so scheint es, gelingt es der Polizei, die wieder aktiver in Erscheinung tritt, zusammen mit sandinistischen, ebenfalls bewaffneten Gruppen, eine Reihe von Blockaden aufzubrechen.  Als vor wenigen Tagen so die wochenlange Dominanz von oppositionellen Gruppen in der Stadt Masaya gebrochen oder relativiert wurde, verhaftete die Polizei ein paar wenige Leute. Und was geschah? Sofort fuhr eine Delegation des im Dialog «vermittelnden» Klerus nach Masaya – darunter der Nuntius, der opportunistische Kardinal und der ultrareaktionäre Weihbischof von Managua, um das «Volk von Masaya zu schützen» und die Freilassung der verhafteten Demokraten zu erreichen. Eine von unzähligen gleich gelagerten Episoden.
Der Dialogprozess ist wieder am Anlaufen, es gibt viele Gerüchte, aber nichts Handfestes über Geheimverhandlungen zwischen Managua und Washington. Sollte sich der Eindruck bestätigen, dass die brutalen Umsturzkräfte im Land an Macht verlieren, wird die internationale Gemeinschaft in die Bresche springen – zuvorderst ihre «Menschenrechtsorgane». Einen weiteren Vorgeschmack davon lieferte der UN-Hochkommissar für Flüchtlinge. Das Hochkommissariat wird an einer internationalen Untersuchungskommission teilnehmen, die die Ereignisse in Nicaragua aufklären wird. Eigentlich überflüssig, denn Zeid Ra'ad Al Hussein weiss schon, was Sache ist: «In Nicaragua [kam es zur] Ermordung von mindestens 178 Menschen, fast alle verübt von der Polizei oder bewaffneten Pro-Regierungsgruppen».