Zwei Tage nach der „Mutter
aller Demonstrationen“ vom 30. Mai (s. Von
der „Mutter aller Demonstrationen“ und Schlimme
Eskalation auf diesem Blog) verurteilte
die Menschenrechtskommission CIDH der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS),
gestützt auf „öffentlich bekannte Information“, den Einsatz „parapolizeilicher Kräfte“ gegen diese „friedliche Demonstration zur Unterstützung der Mütter des Aprils“.
Am 30 Mai selber hatte die CIDH ein Abkommen
mit der Regierung Ortega unterzeichnet, das die Schaffung einer
„Interdisziplinären Gruppe von Unabhängigen Experten“ (GIEI) zwecks
internationaler Untersuchung der Ereignisse seit Beginn der Unruhen am 18. Mai zum
Inhalt hat. Die ExpertInnengruppe wird von ihr und dem Generalsekretariat der
OAS zusammengestellt. Am 21. Mai hatte die gleiche Kommission ihren ersten
Untersuchungsbericht vorgelegt, basierend auf einem knapp viertägigen
Aufenthalt in Nicaragua und Aussagen von „hunderten
von Zeugen“. Darin macht sie ausschliesslich das Regierungslager für die
damals 76 Toten verantwortlich (Die
Tragödie geht weiter). Es ist offensichtlich, dass sie einzig Angaben
oppositioneller AktivistInnen (gleich Die Frauen, Die Bauern, Die Studentinnen
etc.) und deren „menschenrechtlichen“ Sprachrohre Cenidh, ANPDH und CPDH
aufnahm.
Das ist der springende
Punkt. Mit Teilwahrheiten kann eine komplette Lüge formuliert werden. Die CIDH
hatte auch Treffen mit sandinistischen Gewaltopfern – deren Aussagen
verschwinden einfach. Selbstverständlich können diese „sandinistischen“
Aussagen nicht der „Neutralisierung“ von Zeugnissen von Opfern der staatlichen
Repression dienen. Sie könnten aber – und müssten es, angesichts der realen
Ereignisse – helfen, andere Akteure als hier das friedlich protestierende Volk
und dort die mörderische Staatsmacht in den Blick zu kriegen. Natürlich ist es
schwierig, in der komplizierten Lage Nicaraguas klar zu sehen. Wir haben es
zweifellos auch mit einer rebellischen Bewegung gegen erstickenden
Autoritarismus zu tun, mit staatlicher, auch mörderischer Repression, widerlich kaschiert mit frommen Sprüchen. Und wir haben es ebenso eindeutig
auch mit faschistoiden Manövern der Rechten, mit Kalkülen von regime change und Brutalität «friedlicher» Kräfte zu tun. In diesem
Amalgam sich zurecht zu finden, ist eine Aufgabe, die auch in Nicaragua Viele
vor extreme Probleme stellt: Was ist Lüge, was stimmt? Wer nun einen wichtigen Teil
der Dynamik systematisch ausblendet, lügt bewusst. Así las cosas.
Progressiv für regime change
Die CIDH agiert gerne
progressiv. Bei sog. Genderfragen etwa; bei „Altlasten“ von angeblich in die
Geschichte entsorgten Militärdiktaturen (je nach Fall); wenn es darum geht, den
Tod von AktivistInnen zu beklagen, die sich gegen Megaprojekte wehrten –ohne die
Kalküle und transnationalen Finanzen der Megaprojektmultis zu benennen,
geschweige denn, die Ermordeten nicht bloss als Opfer, sondern als Militante
politischer Organisationen des Widerstandes zu ehren. Sag Umwelt, sag
Indígenas, sag LGBTI – die CIDH ist dabei. Sag Multi, sag Sexismus, sag
Imperium – die CIDH marginalisiert oder bekämpft dich. Sie tanzt regelmässig
nach US-Vorgabe gegen von Washington als unfriendly
eingestufte Länder. Ihren Hauptsitz hat die Kommission natürlich in Washington;
sie erhält den Grossteil ihres Budgets von der US-Administration. Aus quasi
naturgesetzlichen, deshalb nicht zu erwähnenenden Gründen hat Washington den
CIDH-Vertrag nie unterschrieben; die Interamerikanische
Menschenrechtskonvention gilt nur für die anderen.
Was in Nicaragua
geschieht, ist eine Sache. Die andere, was die CIDH registriert. Letzteres
widerspiegelt die Version der antisandinistischen Kräfte. Das OAS-Gremium ist einseitig
nicht im Sinn mangelnder „Ausgewogenheit“, sondern als Mittel für die
Herstellung eines regime change.
Seit der Präsentation
ihres „Untersuchungsberichts“ intervenierte die CIDH mehrmals zu Nicaragua. Sie
rief die Regierung auf, Schutzmassnahmen für 17 StudentInnen, für Weihbischof Silvio
Báez und für den Pfarrer Ramón Calderón und für den Chef der „Menschenrechtsorganisation“
ANPDH, Álvaro Leiva Sánchez, zu ergreifen.
Das Leben dieser Personen sei bedroht. Báez, der Bischof, ist für die
Bischofskonferenz in der „Vermittlung“ des Dialogs zwischen Regierungslager und
Opposition aktiv. Er hat sich seit Jahren als antisandinistischer Hardliner
profiliert. Am 23. April hatte er erklärt:
„Ich sehe keine Bedingungen für einen
Dialog mit der Regierung von Nicaragua gegeben.“ Offenbar qualifizierte ihn
das, neben seiner Funktion als Agitator und „spirituellen Inspirator“
regierungskritischer Demos, für eine „Vermittlerrolle“ in den später
eingesetzten, von der Bischofskonferenz geleiteten und seit einiger Zeit
blockierten Dialogrunden. Er schwebe, so die CIDH, „mutmasslich
wegen seiner Vermittlungsaktivitäten“ in Lebensgefahr, wegen „mutmasslich von der Regierung über
offizialistische Medien (…) orchestrierter Angriffe“. In ein ähnliches
Kapitel gehört die Schutzmassnahme für Pfarrer Calderón. Der wurde nach Selbstdarstellung
in den 80er Jahren Pfarrer, als er die religiöse „Verfolgung“ durch den FSLN sah. Heute hat er mit Leiva Sánchez,
dem Chef der „Menschenrechtsorganisation“ ANPDH, eine wichtige Rolle in Masaya,
wo seit Tagen massive Kämpfe mit Toten im Gang sind. Laut Propagandavideo der
ANPDH erreichte er dort die Freilassung von 21 verhafteten Männern, weshalb für
die CIDH die ihr vorliegenden Berichte die Verhängung von Schutzmassnahmen für
ihn und Leiva Sánchez „prima facie“
rechtfertigten.
Calderón und Leiva Sánchez |
Ist es nicht „prima facie“, dann ist es wiederholt „öffentlich bekannte Information“, die sie
inspiriert. Expressis verbis darauf gestützt, verurteilte
das OAS-Gremium zwei Tage nach der eine neue, intensive Eskalation einleitenden
„Mutter aller Demonstrationen“ vom 30. Mai, dass „die Teilnehmer friedlicher Demonstrationen mit Schusswaffen“
angegriffen worden seien. Usw. „Prima facie“, „öffentlich bekannt“ – das umschreibt
schlicht das Kopieren der Versionen der Rechten.
Amnesty und die Horden
Gleich operiert
Amnesty International. Eine detaillierte Beschreibung erübrigt sich
infolgedessen. Zu bemerken ist allenfalls, dass sich die AI-Chefin für Americas
in ihrem Twitteraccount
Verrenkungen wie die Floskel der „öffentlich bekannten Information“ schenkt.
Sie retweetet ungeniert Tweets der Antiregierungskräfte, manchmal mit einem
unterstützenden Kommentar. Und legt sich wenig Hemmung beim Sprachgebrauch auf.
Am ominösen 30. Mai verkündete
Guevara-Rosas: „Die gewalttätige
Repression von Präsident Ortega hat extreme Ausmasse angenommen. Ein
gewalttätiger Angriff gegen die massive friedliche Demonstration, organisiert
von den Müttern der während der Proteste Getöteten, zeigt die shoot to kill-Strategie
der Regierung.“ In einem anderen
Tweet fordert
sei, die „Regierung muss ihren Horden
sofort das Ende der Gewalt befehlen“. Horden, turbas, Dauerbegriff der Rechten für reale oder angebliche
sandinistische Kräfte. Was immer an diesem Tag wirklich passiert ist,
angefangen hatten die tödlichen Ereignisse klar mit einer Offensive rechter
„Avantgarden“ auf Heimkehrende von einer sandinistischen Mobilisierung (s.
frühere Posts auf diesem Blog). Guevara-Rosas wusste an diesem Tag auch einen
Angriff auf den rechten Sender 100 % Noticias zu geisseln, vergass aber zu
erwähnen, dass gleichentags der Pro-Regierungssender Radio Ya in Brand gesteckt
wurde, nachdem ein Angriff zwei Tage zuvor den Sender nicht vollständig beenden
konnte. Dieses Mal brannte das ganze Gebäude. (Vorgestern wurde das offizielle
Radio Nicaragua niedergebrannt. No news.)
Empören musste sich
Guevara-Rosas, dass an der gerade beendeten OAS-Versammlung der Generalsekretär
Luis Almagro gegen Nicaragua nicht so massiv wie gegen Venezuela vorgegangen
ist – aus was für Gründen auch immer. Insbesondere der Umstand, dass die OAS
und die Regierung am 1. Juni ein letztes Jahr initiiertes Abkommen
unterzeichnet haben, das einen Zeitplan für Wahlrechtsreformen vorsieht, entsetzt
die Rechte und Guevara-Rosas. Denn besagter Zeitplan sieht weder einen
sofortigen Abgang der Regierung Ortega noch binnen weniger Monate vorgezogene
Neuwahlen vor. Im AI-Artikel
„Die OAS-Staaten dürfen die Opfer der Repression nicht allein lassen“ zum
Auftakt des OAS-Treffens sagt Guevara-Rosas: „Wenn die Länder der Region die Regierungsverantwortung für diese
Grausamkeiten ignorieren, machen sie sich zu Komplizen des andauerndes
Massakers an DemonstrantInnen und ZivilistInnen.“ Trost können diese Kreise
vielleicht beim US-Botschafter vor der OAS, Carlos Trujillo, finden. Er sagte
bezüglich der OAS-Resolution: „[Sie] ist
nicht die letzte Aktion der US-Regierung. Sie ist die erste Aktion hier in der
OAS.“ Und wir vergessen nicht, was hohe Kader der Trump-Administration
kürzlich bezüglich Nicaragua via die Mediengruppe McClatchy zu
verstehen gaben: „Die/der senior
administration official sagte, die USA würden die Opposition nicht lenken und müssten
behutsam mit den Oppositionsgruppen umgehen, um nicht Regierungsanschuldigungen
bzgl. US-Imperialismus zu verursachen. ‚Dies ist, was die
Regierung betrifft, ein Land, dem es ziemlich gefällt, bei jeder Gelegenheit gegen
uns auszuteilen. Das Risiko ist, dass wir, wenn wir rhetorisch zu sehr an der
Spitze dessen sind, was sich ereignet, riskieren, es zu unterminieren.‘“
«Einseitigkeit»
Die zielorientierte „Einseitigkeit“
von CIDH, AI u. a. ist widerlich. „Öffentlich bekannt“, zumindest in Nicaragua,
aber ungeeignet für die Sensibilität der CIDH etc. sind etwa auch Angaben über bewaffneten
Bandenterror gegen nicht-streikende Belegschaften in – ausgerechnet –
Maquilazonen. Natürlich schiebt die Rechte solche Vorkommnisse kurzerhand den
„sandinistischen Horden“ in die Schuhe, als hätte die Regierung auch nur das
geringste Interesse an einer Verschärfung der eh schon gravierenden
wirtschaftlichen Destabilisierung. Wir sagen nicht, was der sandinistische
Gewerkschaftschef Pedro Ortega dazu
äussert, sei einfach zu glauben. Aber es strikt ignorieren? Zum Beispiel
die Aussage, dass einerseits viele Tausende ihren Tageslohn wegen solcher
Zwangsschliessungen verloren haben, und andererseits eine Belegschaft in
Masatepe nahe Masaya angeblich 40 mit den selbstgebastelten Mörsern
ausgestattete Vermummte vertrieben habe. Und es dauerte bis vorgestern, dass
die CIDH einen Tweet
für Schweinereien übrig hatte, die sich gegen Leute aus dem Regierungslager wie
auf dem Bild unten aus Rio Blanco häufen. On die drei Sätze Folgen zeitigen
werden? Wir kennen oppositionelle Sandinistas, die wegen Drohungen ihr Haus
haben verlassen müssen. Und wir kennen FSLN-Mitglieder in der gleichen
Situation. Es ist schwierig, zu versuchen, mit Widersprüchen klarzukommen. Und
Fragen offen zu lassen, wenn wir die
Antworten nicht kennen. Dies nicht als Taktik, um die Regierung Ortega in ein
schönes Licht rücken zu können. Sondern weil das weniger widerlich ist als mit
dem Mäntelchen der humanitären Empörung für ungenannte Agenden hausieren zu
gehen.