Venezuela: Mordtechnokratie und die Leute

Samstag, 16. März 2019


(zas, 15.3.19 Einige Stunden vor der mit Abstand grössten Strom-«Havarie» in der Geschichte Venezuelas am 7. März beschied der rechtsradikale, einflussreiche US-Senator Marco Rubio: «Venezuela tritt in eine Leidensphase ein, wie sie keine Nation unserer Hemisphäre in der modernen Geschichte erlebt hat.» Rubio verspricht den Heimgesuchten: «An die in Venezuela: Euer Kampf für Freiheit und Wiederherstellung der Demokratie ist auch unser Kampf, und die freie Welt hat euch und wir euch nicht vergessen.»
Und solange werden die Sanktionen weitergehen.
Stadt im Dunkel
Hinter dem Finanztechnischen steht ein anvisierter Massenmord zwecks Stimmungsmache für (para-) militärische Grosseinsätze. Mark Weisbrot, Ko-Direktor des Thintanks Center for Economic and Policy Research (CEPR), schrieb Ende Februar einen Artikel zu diesem Thema: Trump’s Other "National Emergency": Sanctions That Kill Venezuelans.  Vergessen wir nie, was die «liberale, kultivierte» US-Aussenministerin Madeleine Albright 1996 in der TV-Sendung 60 Minutes von CBS sagte, als die Interviewerin sie fragte, ob die halbe Million Kinder im Irak, die in direkter Folge der damals vor dem Krieg von Bush Sr.  von ihr und Clinton verhängten Sanktionen starben, den «Preis wert» gewesen seien: «Ich denke, es ist eine sehr harte Wahl, aber der Preis – wir denken, er ist es wert.».
Über 20 Jahre später die gleiche Botschaft, dieses Mal von einem pensionierten Lateinamerika-As des State Departments, William Brownfield, der vor vier Monaten sagte: «Wie stark sollen Mangelernährung, Mangel an Medikamenten, Auswirkungen im Gesundheitssystem zunehmen? Wie stark wollen wir wirklich die Schrauben bei den zwangsläufigen Auswirkungen auf das venezolanische Volk anziehen? Wir sollten dies ein wenig wie eine Tragödie ansehen, die solange dauert, bis sie endlich beendet wird. Und falls wir etwas machen können, das dieses Ende schneller bringt, sollten wir das vermutlich tun. Aber wenn wir es tun, dann sollten wir verstehen, dass das Auswirkungen auf Millionen und Millionen von Menschen hat. Wir haben die Schwierigkeiten, genug zum Essen zu finden, schon verschärft, Pflege zu erhalten, wenn man krank ist, oder den Kindern Kleider anzulegen, wenn sie zur Schule gehen (…) Wir müssen die harte Entscheidung fällen: Das gewünschte Resultat legitimiert diese ziemlich strenge Bestrafung» (s. «Zur Logik der Sanktionen»).
Erinnert sich wer an die medialen Aufschreie nach den Worten Albrights und Brownfield?
Nein, denn es gab keine. Die «Humanitären» waren grad anderweitig engagiert. Was machen die Sanktionen? Sie zerschlagen die Wirtschaft (s. den Artikel von Weisbrot). In den ersten vier Tagen des Blackouts verlor die venezolanische Wirtschaft nach Einschätzung des rechten Unternehmens Ecoanálitica $ 875 Mio. Das sind keine Sanktionen gegen chavistische Individuen. Sanktioniere den Chef des Finanzministeriums und die Chefin der Notenbank samt ihren «untergeordneten Apparaten» und du unterbindest sukzessive Handel und Finanztranskationen eines ganzen Landes. Sekundäre Sanktionen, nennt das die Technokratie. Wir haben dazu die «Chronologie einer Strategie, um Venezuela zu zerstören» übersetzt.
Und wenn die Not greifbar wird, schreit es: «humanitäre Krise». 
Wie oft thematisieren die «seriösen Medien» bei diesem Aufschrei die dramatischen Zerstörungen der Sanktionen? Nie.

Nebel schleudern oder Lumpen einsammeln
Das Negieren der Essenz des imperialistischen Sanktionsregimes verändert sich in anderen Zusammenhängen zur Konfusionsbewirtschaftung. Als letzten August ein Mordanschlag mit Drohnen auf Präsident Maduro anlässlich einer Rede stattfand, war trotz eindeutigen Filmaufnahmen fast ausnahmslos die Rede vom «angeblichen» Attentat. Warum? Washington und sein Trupp in Venezuela «vermuteten» eine Inszenierung. Gestern hat CNN en español sich dazu bequemt, den «mysteriösen» Anschlag nicht mehr in Zweifel zu ziehen, sondern ihn, gestützt auf
Videos und Interviews, abtrünnigen venezolanischen Militärs zuzuordnen. Kalter Kaffee, war da mal was? Das gleiche Muster, allerdings geraffter, lief ab dem letzten 23. Februar, dem Tag der «humanitären» Aktion an der Grenze. Empörter Aufschrei in den Medien: Maduro schreckt nicht einmal davor zurück, die Esswaren, die sein verhungerndes Volk doch so dringend braucht, in Brand zu setzen. Ich weiss nicht mehr, war es schon im Verlauf dieses Tages oder erst am nächsten Morgen, dass die Aufnahmen z. B. von Telesur klar machten, dass der Camion nicht von der bestialischen venezolanischen Guardia, sondern von den (angeheuerten) Molllies-schmeissenden antichavistischen Demokraten abgefackelt wurde. Erst dieser Tage hat die New York Times das schon lange zirkulierende Video publiziert.
Dies ist ein Beispiel, mehr nicht. So ziemlich alles am 23. Februar war Show. Konzedieren wir, die für jenen Tag an die kolumbianische Grenze mit Venezuela angereisten KorrespondentInnen können nicht anders als zu «wissen», dass die Chavistas böse sind und die Rechten gut. Aber hat denn nicht eine/r von ihnen mitbekommen, dass es in Cúcuta, der Bühne für das «humanitäre Schauspiel», schon am Vorabend Probleme gegeben hat, weil Arme aus dieser grossen Stadt von der humanitären Hilfe auch was abbekommen wollten? Ist es möglich, dass alle diese KorrespondentInnen, die ganz AugenezugInnen berichteten, wie die chavistischen Milizen ihr Unwesen getrieben und die venezolanischen Oppositionellen auf kolumbianischem Gebiet angegriffen hat, ist es möglich, dass nicht eine/r dieser scharfen BeobachterInnen von dem mitbekommen hat, was der Bürgermeister dieser Stadt, César Rojas, in der Tageszeitung El Tiempo (Kolumbien) kritisiert hat? Zum Beispiel die demokratischen Lichtgestalten aus Venezuela: «Ich glaube, dass es auf kolumbianischer Seite keine Vermummten geben darf. Sie sagen, sie seien ein Widerstand (…) Das kolumbianische Militär seinerseits muss diese Aktionen gegen die venezolanische Guardia unterbinden.» Der Bürgermeister sagt das Gegenteil von dem, was die KorrespondentInnen sagen: Nicht die venezolanische Guardia hat liebenswürdige Demonstrierende auf kolumbianischem Territorium angegriffen, sondern die Angriffe liefen in umgekehrter Richtung. Denken diese KorrespondentInnen denn wirklich, Maduro sei grad scharf darauf gewesen, vor versammelter internationaler Polit- und Medienpräsenz einen Grenzkonflikt zu provozieren? Das sagte Rojas auch noch: «Als Bürgermeister bitte ich Guaidó und seine Kombo, ihre Vermummten einzusammeln und dorthin zurückzubringen, wo sie sie geholt haben.» Und ja, unbedingt: «Wir bitten [die Regierung], dass ein Teil [der Hilfsgüter] hier in Cúcuta verteilt wird, um die schwere Armutskrise in unseren ärmlichen Quartieren zu bekämpfen.»
Guaidó, momentan zum Anführer der rechten Kräfte ernannt, twitterte nach dem Blackout vom 8. März, «Venezuela weiss, dass das Licht erst mit dem Ende der Usurpation kommt», also der Präsidentschaft Maduros. Als die Hinweise auf einen Cyberangriff sich verdichteten, wusste er nachzuplappern, das sei Mache der Regierung, das ausgefallene Riesenstromwerk El Guri funktioniere rein analog, nix digital. Ausschlaggebend seien Korruption und Misswirtschaft der Regierung gewesen.
Die imperialen Medien haben die Spur aufgenommen. So wie es wohl keinen Mordanschlag gegeben hat, sowie die Sanktionen humanitär wirken, wird die Sabotage-These zur Schutzbehauptung einer miesen Regierung. Mit Bestimmtheit trifft das immer wieder wichtige Internetportal Misión Verdad die Lage besser: «Das nationale Stromnetz ist von einer explosiven Mischung von durch die Finanzblockade potenzierter Deinvestition, Verlust an spezialisiertem Personal aufgrund des Lohnschwunds und einer systematischen Sabotage unter Angriff gestanden. Die Sabotageakte ereigneten sich immer dann, wenn der Chavismus politisch wieder in die Offensive gehen konnte.»  Im gleichen Artikel lesen wir: «Die im Automatisierten Kontrollssystem [in El Guri] benutzte Software, SCADA genannt, die die Maschinen [Generatoren] operativ managte, wurde vom Unternehmen ABB geschaffen, das seit Jahren nicht mehr im Land operiert. Dieses Unternehmen ABB, das in Venezuela als Dreierkonsortium auftrat (ABB Venezuela, ABB Kanada, ABB Schweiz) entwarf Ende des letzten Jahrzehnts ein Modernisierungsprogramm El Guri, das sowohl das angegriffene System wie die Grundorganisation von El Guri beschreibt.»  

Und die Leute?
Im Portal von Misión Verdad finden sich zurzeit täglich mehrere Artikel (spanisch, manche auch englisch) zu den Angriffen seit dem 7. März auf das Stromnetz (bisher offenbar fünf oder sechs), vom ursprünglich von Wikileaks publizierten Dokument eines «Farbenrevolution»-Tentakels über Störungs- und Sabotageanfälligkeit der hyperzentralisierten venezolanischen Stromversorgung über russische Regierungsaussagen punkto kanadischer Beteiligung beim Cyberangriff (dank Knowhow von ABB Kanada) bis zum  Pentagonpapier über Auswirkungen sog. EMP-Angriffe (Elektromagnetischer Puls) - offenbar wurden in einem Fall ferngesteuerte elektrische Apparate zur Spannungsüberladung eingesetzt. Aber wir erhalten auch Hinweise auf die Leute, wie sie mit der Notlage und dem Bewusstsein, dass jetzt der lange angekündigte Angriff rollt, umgehen. Wir  erahnen so ein wenig, warum dieses chavistische Venezuela inmitten des traumatisierenden Dauerangriffs leibt und lebt.

Dazu zwei Geschichten aus dem Artikel «10 minicrónicas de resistencia en medio del apagón».  

«Angesichts der Menge Leute mit Holz oder Gas kochen. Wir, mehrere Familien, konnten uns zusammentun, gemeinsam essen, zusammen sein, 11 Erwachsene, 5 Kinder. Wir erkannten, dass wir allein nicht wiederstehen können, und ich habe mein Haus hier in Cabimas zur Verfügung gestellt. Wir legten alle Geld zusammen und kochten für die ganze Gruppe. Gemeinsam kauften wir Wasser, Medikamente. Aber es war nicht einfach. Wir versuchten, ruhig zu bleiben angesichts eines 80-jährigen Grossvaters, der an der Hitze verzweifelte, eines Neugeborenen, das weinte. Einige Oppositionelle schlossen sich der Solidarität an, andere spotteten nur. Domino, Dame, Kartenspiel, das Gespräch über die politische Lage oder der Familienwitz. Alles nachts, im Licht der Kerosenlampen, die wir machten, als wir begriffen, dass wir mehr als nur eine Nacht ohne Strom sein würden. Ich denke, das war eine Schulung, um uns auf was immer vorzubereiten, auch dafür, dass sie das Wichtigste von uns nicht haben brechen können: die Solidarität im Kleinen.» Rosanna, Barrio Cabimas, Gliedstaat Zulia.

«Das ganze Gebäude, wir sind etwa 20 Familien hier, haben wir uns getroffen, um selbstgebastelte Lampen herzustellen, für ein wenig Licht während des Stromausfalls. Damit das niemandem fehlt. Wir sind hier 20 Familien, und wir können sagen, dass 17 ihre Lampen gebastelt haben. Am Tag vorher war das CLAP gekommen [massiv subventionierter Essenverkauf von Regierung und Basisorganisationen]. Für alle Familien. Wer kein Gas hatte, für den kochte der andere das Essen. Wir haben kein Leitungsgas, nur Gasflaschen. Das ganze Haus war wie lebend, als gäbe es keine Dunkelheit. Es kam zu einer Solidarität im Krieg, im Notfall, im Wissen, dass das ganze Land betroffen war, als Ergebnis eines Angriffs.
Wir hatten ein Radio in Betrieb, um zu wissen, was läuft. Nur an einem Tag gab es eine Guarimba [Gewaltunruhe], aber die verflüchtigte sich schnell, denn die Leute kamen aus ihren Häusern, stellten die Wagenlichter an, begannen zu tanzen, zu Sound.  Da blieb den Guarimberos nur noch abzuziehen. Die Kleinen nahmen sich tagsüber die Strasse, sie war ihr Spielfeld. Nachts trafen wir uns mit den Nachbarn, drehten Sicherheitsrunden, verbrachten die Zeit mit Spielen und Erzählungen.» Andy Franco, Caracas.

Noch dieses: Drei Tage nach dem Blackout-Beginn erhielten wir dank WIFI eine Audiobotschaft über die schwierige Lage. Eine Bemerkung war frappierend: Die Leute arbeiteten an Kommunikationswegen ohne Telefon, ohne Computer, ohne Radio. Um zu wissen, was läuft, worauf man sich vorbereiten muss.