Sergio Ferrari
Über 80 Schweizer
Persönlichkeiten veröffentlichten am 20. November eine Erklärung zur Lage in
Bolivien. «Von freiwilligen Rücktritten zu sprechen, ist Fiktion, der richtige
Begriff ist Staatsstreich», betonen die Unterzeichnenden, alle aktive oder
ehemalige Parlamentarier*innen auf Gemeinde-, Kantons- oder Bundesebene. Sie
verlangen: «Die bolivianische Armee muss
in ihre Baracken zurückkehren.»
Zu den Erstunterzeichner*innen gehören Jean Ziegler, Ex-Parlamentarier
und ehemaliger UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, Ständerat
Carlos Sommaruga von der SPS und Ständerätin Lisa Mazzone (GPS), ebenso wie
Nationalrat Denis de la Reussille (PdA) und die frisch gewählte Nationalrätin
Stefanie Prezioso (Ensemble à Gauche). Der frühere Parlamentarier Franco
Cavalli, Ex-Präsident der Internationalen Vereinigung gegen Krebs und wichtiger
Exponent der Schweizer Solidaritätsbewegung mit Lateinamerika, gehört zu
weiteren die Erklärung unterstützenden Persönlichkeiten. Die Promotor*innen
dieser Stellungnahme berichten, dass weitere Unterschriften gesammelt werden.
Die
Zusammenarbeit mit den Putschisten bremsen
Die Verletzungen der Menschenrechte, die Militarisierung des
öffentlichen Raums, die Ankündigung von «Hetzjagden» auf frühere Minister*innen
durch De-facto-Innenminister Murillo und die von Rassismus und religiösem
Fanatismus geprägten Erklärungen der selbsternannten Präsidentin Jeanine Áñez
«lassen uns für die kommenden Tage das Schlimmste befürchten», betonen die
Unterschreibenden.
Die Schweizer Persönlichkeiten stellen sich gegen die Theorie des
freiwilligen Rücktritts des Präsidenten Evo Morales, seines Vizepräsidenten und
der Vorsitzenden der beiden Parlamentskammern: «Die von den Medien und gewissen
Aussenministerien gelieferte Erzählung der
Ereignisse steht in völligem Widerspruch zu den Tatsachen, wie wir sie
sehen.» Die Rücktritte seien vielmehr «das Ergebnis einer Kombination aus
Gewalt und Drohungen gewalttätiger Gruppen gegen
Mandatsträger*innen und Beamt*innen sowie der Aufhebung des
Polizeischutzes von öffentlichen Institutionen und Behörden im ganzen Land».
Bei dem von der Armee und der Polizei formulierten «Rücktrittsvorschlag» handle
es sich um einen «Missbrauch».
Die Unterzeichnenden verlangen: «Die Schweiz darf nicht durch ihr Schweigen oder ihre Mitschuld zur
Legitimation der Regierung von Frau Áñez beitragen.» Sie fordern vom Bundesrat,
«die gesamte Wirtschafts- oder Entwicklungszusammenarbeit auszusetzen,
bis die verfassungsmässige Ordnung im Land wiederhergestellt ist und vor allem,
bis die Grundrechte der bolivianischen Bevölkerung und ihrer gewählten
Vertreter*innen respektiert werden». Diese Position betreffe aber nicht
Schweizer NGOs, die direkt die Basisgemeinschaften unterstützen.
Eingeschüchterte
Zivilgesellschaft
Zurzeit haben viele Schweizer NGOs mit Projekten und Programmen in
Bolivien ihre Zurückhaltung übertrieben, was sogar als stillschweigende
Unterstützung des Putsches verstanden werden könnte. Eine wichtige Ausnahme
stellt E-CHANGER (Intercambiar) mit Sitz in Lausanne dar, die sich am 13.
November zur Lage im südamerikanischen Land so geäussert hat: «Dieser
Staatsstreich zeigt, dass die Opposition nicht einen demokratischen Wechsel,
sondern das Ende des unter Präsident Morales eingeführten plurinationalen
Staates anstrebte, der eine signifikante politische Stabilität, ein
Wirtschaftswachstum und die Anerkennung der Rechte der indigenen Bevölkerung
ermöglicht hat.»
Die Ängstlichkeit der Schweizer NGOs steht im Kontext eines generellen
politischen Ambientes in Europa. Die EU hat den Staatsstreich nicht verurteilt
und sich um die überragende Bedeutung des institutionellen Bruchs in Bolivien
nicht gekümmert. Nur einige linke und sozialdemokratische Kräfte (vor allem aus
Spanien, Grossbritannien und Griechenland) haben im Europaparlament, in dem sie
eine Minderheit sind, ihre Stimme gegen den Putsch erhoben.
Ein Teil der schweizerischen Medien hat die Vorgänge um die Flucht von
Evo Morales nach Mexiko relativ sorgfältig behandelt. Aber in den letzten zwei
Wochen haben die studentischen Mobilisierungen in Hongkong, die Spannungen im
Nahen Osten oder die Beschäftigung mit europäischen Angelegenheiten die
Aufmerksamkeit auf sich konzentriert. Eine Ausnahme ist die unabhängige
Tageszeitung Le Courrier, die fast täglich zu Bolivien berichtet und die
brutale Repression und den ideologisch-religiösen Fanatismus der
Putschpromotoren denunziert.
Druck auf die Regierung
Die Unterzeichnenden bitten das EDA, «das diplomatische Korps vor Ort anzuweisen, die De-facto-Behörden an der
Macht an die Verpflichtung unseres Landes für die Menschenrechte zu erinnern,
und falls nötig verfolgte Personen in
unserer Botschaft oder via Asylverfahren aufzunehmen».
Zum Schluss verlangen die schweizerischen
Politiker*innen: «Die bolivianische Armee muss in ihre Baracken zurückkehren. Neuwahlen müssen unter der
Schirmherrschaft der Nationalversammlung durchgeführt werden, deren Amtszeit
bis zum Ende der Legislaturperiode dauert. Diese muss neue Wahlbehörden
ernennen.»
Petitionstext französisch, deutsch,
italienisch:
https://drive.google.com/file/d/1LOfotFrm7CBSxRj7_VPbInxNEBH1JAy9/view