Armee zurück in die Kasernen!

Freitag, 22. November 2019


Sergio Ferrari
Über 80 Schweizer Persönlichkeiten veröffentlichten am 20. November eine Erklärung zur Lage in Bolivien. «Von freiwilligen Rücktritten zu sprechen, ist Fiktion, der richtige Begriff ist Staatsstreich», betonen die Unterzeichnenden, alle aktive oder ehemalige Parlamentarier*innen auf Gemeinde-, Kantons- oder Bundesebene. Sie verlangen: «Die bolivianische Armee muss in ihre Baracken zurückkehren.»
Zu den Erstunterzeichner*innen gehören Jean Ziegler, Ex-Parlamentarier und ehemaliger UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, Ständerat Carlos Sommaruga von der SPS und Ständerätin Lisa Mazzone (GPS), ebenso wie Nationalrat Denis de la Reussille (PdA) und die frisch gewählte Nationalrätin Stefanie Prezioso (Ensemble à Gauche). Der frühere Parlamentarier Franco Cavalli, Ex-Präsident der Internationalen Vereinigung gegen Krebs und wichtiger Exponent der Schweizer Solidaritätsbewegung mit Lateinamerika, gehört zu weiteren die Erklärung unterstützenden Persönlichkeiten. Die Promotor*innen dieser Stellungnahme berichten, dass weitere Unterschriften gesammelt werden.

Die Zusammenarbeit mit den Putschisten bremsen
Die Verletzungen der Menschenrechte, die Militarisierung des öffentlichen Raums, die Ankündigung von «Hetzjagden» auf frühere Minister*innen durch De-facto-Innenminister Murillo und die von Rassismus und religiösem Fanatismus geprägten Erklärungen der selbsternannten Präsidentin Jeanine Áñez «lassen uns für die kommenden Tage das Schlimmste befürchten», betonen die Unterschreibenden.
Die Schweizer Persönlichkeiten stellen sich gegen die Theorie des freiwilligen Rücktritts des Präsidenten Evo Morales, seines Vizepräsidenten und der Vorsitzenden der beiden Parlamentskammern: «Die von den Medien und gewissen Aussenministerien gelieferte Erzählung der
Ereignisse steht in völligem Widerspruch zu den Tatsachen, wie wir sie sehen.» Die Rücktritte seien vielmehr «das Ergebnis einer Kombination aus Gewalt und Drohungen gewalttätiger Gruppen gegen
Mandatsträger*innen und Beamt*innen sowie der Aufhebung des Polizeischutzes von öffentlichen Institutionen und Behörden im ganzen Land». Bei dem von der Armee und der Polizei formulierten «Rücktrittsvorschlag» handle es sich um einen «Missbrauch».
Die Unterzeichnenden verlangen: «Die Schweiz darf nicht durch ihr Schweigen oder ihre Mitschuld zur Legitimation der Regierung von Frau Áñez beitragen.» Sie fordern vom Bundesrat, «die gesamte Wirtschafts- oder Entwicklungszusammenarbeit auszusetzen, bis die verfassungsmässige Ordnung im Land wiederhergestellt ist und vor allem, bis die Grundrechte der bolivianischen Bevölkerung und ihrer gewählten Vertreter*innen respektiert werden». Diese Position betreffe aber nicht Schweizer NGOs, die direkt die Basisgemeinschaften unterstützen.

Eingeschüchterte Zivilgesellschaft
Zurzeit haben viele Schweizer NGOs mit Projekten und Programmen in Bolivien ihre Zurückhaltung übertrieben, was sogar als stillschweigende Unterstützung des Putsches verstanden werden könnte. Eine wichtige Ausnahme stellt E-CHANGER (Intercambiar) mit Sitz in Lausanne dar, die sich am 13. November zur Lage im südamerikanischen Land so geäussert hat: «Dieser Staatsstreich zeigt, dass die Opposition nicht einen demokratischen Wechsel, sondern das Ende des unter Präsident Morales eingeführten plurinationalen Staates anstrebte, der eine signifikante politische Stabilität, ein Wirtschaftswachstum und die Anerkennung der Rechte der indigenen Bevölkerung ermöglicht hat.»
Die Ängstlichkeit der Schweizer NGOs steht im Kontext eines generellen politischen Ambientes in Europa. Die EU hat den Staatsstreich nicht verurteilt und sich um die überragende Bedeutung des institutionellen Bruchs in Bolivien nicht gekümmert. Nur einige linke und sozialdemokratische Kräfte (vor allem aus Spanien, Grossbritannien und Griechenland) haben im Europaparlament, in dem sie eine Minderheit sind, ihre Stimme gegen den Putsch erhoben.
Ein Teil der schweizerischen Medien hat die Vorgänge um die Flucht von Evo Morales nach Mexiko relativ sorgfältig behandelt. Aber in den letzten zwei Wochen haben die studentischen Mobilisierungen in Hongkong, die Spannungen im Nahen Osten oder die Beschäftigung mit europäischen Angelegenheiten die Aufmerksamkeit auf sich konzentriert. Eine Ausnahme ist die unabhängige Tageszeitung Le Courrier, die fast täglich zu Bolivien berichtet und die brutale Repression und den ideologisch-religiösen Fanatismus der Putschpromotoren denunziert.

Druck auf die Regierung
Die Unterzeichnenden bitten das EDA, «das diplomatische Korps vor Ort anzuweisen, die De-facto-Behörden an der Macht an die Verpflichtung unseres Landes für die Menschenrechte zu erinnern, und falls nötig verfolgte Personen in unserer Botschaft oder via Asylverfahren aufzunehmen».
Zum Schluss verlangen die schweizerischen Politiker*innen: «Die bolivianische Armee muss in ihre Baracken zurückkehren. Neuwahlen müssen unter der Schirmherrschaft der Nationalversammlung durchgeführt werden, deren Amtszeit bis zum Ende der Legislaturperiode dauert. Diese muss neue Wahlbehörden ernennen.»

Petitionstext französisch, deutsch, italienisch:
https://drive.google.com/file/d/1LOfotFrm7CBSxRj7_VPbInxNEBH1JAy9/view