(zas, 14.11.19) Die Wahlbeobachtungsmission der OAS hatte
schon am Tag nach den Wahlen vom 20. Oktober Alarm geschlagen wegen des «drastischen und nur schwer erklärbaren
Trendwechsels bei den vorläufigen Resultaten». Damit war die Wortwahl für
die transnationalen Medien gegeben.
Das Oberste Wahlgericht hatte am 20. Oktober die
Schnellauszählung, TREP genannt, nach Erfassung von über 83 % der Wahlakten
unterbrochen. Als die Publikation der Ergebnisse dieser Auszählung, die einzig der Trendinformation diente und rechtlich
irrelevant war, am folgenden Tag wieder aufgenommen wurde, erhielt Evo schliesslich
mehr als 10 % Abstand auf den nächsten Konkurrenten, Carlos Mesa. Bei diesem
Ergebnis, wenn es denn durch die offizielle Auszählung der physischen Akten,
und nicht bloss ihrer per IT übermittelten Fotokopien wie bei der TREP,
bestätigt würde, wäre das Thema Stichwahl erledigt.
Doch eben: Die OAS evozierte dieses bekannte Bild:
Wahlcomputer stürzen ab, wenn sie wieder funktionieren, ist der Zahlenbetrug
gelaufen. Noch jede Nachplapper-Figur in den Medien betonte, wie der «Absturz»
der Auszählung «plötzlich», «wundersamerweise» Evo zum Sieger machte. Danach,
so die Lüge, revoltierte das Volk gegen den Betrug. Es verlangte erst eine Überprüfung
der Wahlzettel und, nachdem Evo Morales unbegreiflicherweise diese Überprüfung in
die Hände der OAS gelegt hatte, die Annullierung der Wahlen. Als Evo Neuwahlen
ankündigte, ein extremer Schritt zwecks Besänftigung der Faschos und ihrer
besorgten internationalen Gemeinschaft, war die neue Forderung: vorgängig Rücktritt
der Regierung (möglichst in Richtung Gefängnis). Carlos Mesa, der
Wahlverlierer, erinnerte sich an seine Zeit als Vize des Massakerpräsidenten Gonzalo
Sánchez de Lozada und forderte im Zug der sich radikalisierenden
Mobilisierungen der Ultras Neuwahlen ohne Evo Morales. Mesa und die Seinen verkündeten
denn auch schon lange vor den Wahlen, nur ihr Sieg sei annehmbar.
Das Problem bei der von den westlichen Medien weitgehend
aufgesogenen Story ist, dass die OAS schlicht lügt und eine putschistische
Agenda betreibt. Nehmen wir ihren o. e. «nur schwer erklärbaren Trendwechsel bei
den vorläufigen Resultaten». Die beim Unterbruch der Publikation der Trenddaten
noch fehlenden rund 17 % aller Akten stammten vorwiegend aus ländlichen
Gegenden mit starker Unterstützung für das MAS. Wer auch nur eine geringe
Ahnung von Wahlen in Ländern des Trikonts hat – die kann man der OAS nicht absprechen
– weiss, dass diese grosse Anzahl an Akten aus Hardcore-Zonen der indigenen
Bewegungen durchaus reichen kann, die damals rund 7 % Vorsprung von Evo auf
über 10 % zu bringen und ihn damit zum Präsidenten für die kommenden Jahre zu machen.
Die minimalste Seriosität hätte diesem Verein geboten, mindestens die Klappe zu
halten. Stattdessen lieferte man eiligst, bar jeglicher Professionalität, die
faktische «Rechtfertigung» für die schon am 20. Oktober angelaufene Offensive
der Ultras (Abbrennen verschiedener Zentren der Wahlbehörde, Hetzjagden auf
Indígenas des Hochlands etc.).
OAS-Wahlbeobachtung: Auch noch paternalistisch |
Klarstellung des CEPR
Zum Glück hat das in den USA bekannte Washingtoner Center for Economic and Policy Research (CEPR) am letzten 8. November eine
seriöse Studie der Wahlresultate vorgelegt – What Happened
in Bolivia’s Vote Count? (englisch und spanisch). Die vier Autoren haben
sich die Mühe gemacht, die im Web einsehbaren 34'555 Wahlakten der definitiven
Auszählung und der TREP zu einer wahlstatistischen Analyse zu unterziehen. Und
siehe – das «Unerklärliche» fand schnell seine Erklärung. Auch in der TREP hatte
sich der Vorsprung von Evo auf seinen Hauptkonkurrenten mit zunehmender
Auswertung der Aktenfotokopien laufend erhöht. Sie schreiben: «Figur 1 zeigt, dass der MAS-Vorsprung stetig
anwuchs, je mehr Stimmen gezählt wurden, in Übereinstimmung damit, dass
Unterschiede in Geographie und Infrastruktur zu einer späteren Auszählung in
Pro-MAS-Gegenden geführt hatten. Dieser Trend zeigte sich auch bei den
Parlamentswahlen» (S. 7).
Die Autoren belegen, dass die Tendenz schon vor Erreichen
der 83-Prozent-Marke nicht mit einem «unerklärlichen» Tendwechsel kollidierte, wie
von der OAS vor- und von den Medien seither nachgebetet, sondern im Gegenteil
einen Vorsprung von mehr als 10 % nahegelegt hatte. Sie resümierten diesen Part
so: «Die Resultate von der
Schnellauszählung der ersten 83.85 % der Stimmen stimmen mit dem projizierten
Endresultat eines Sieges von Morales mit mehr als 10 % Vorsprung überein»
(s. 5).
Sie widerlegen auch die OAS-Mär, dass die Wahlbehörde aus «unerklärlichen
Gründen» die von ihr versprochene 100-prozentige Publikation der Trendresultate
gestoppt habe. Eine solche vollständige Schnellauszählung war im Gegenteil «unwahrscheinlich, da logistische
Beschränkungen (…) je nach Geographie beträchtlich variieren» (S. 4). M. a.
W., dass die vollständigen vorläufigen Resultate erst zustande kommen, wenn die
offizielle Auszählung per Gesetz schon beginnen muss. Die Autoren bringen
Beispiele des Abbruchs der TREP-Auszählung bei rund 80 % der Aktenkopien der
letzten Jahre. Die OAS-Mission hatte 2017 die Publikation bis 80 % der Akten gelobt.
Eine Woche vor den Wahlen hatte das Wahlgericht TSE hatte denn auch den Stopp
der Trendauszählung bei rund 80 % angekündigt. doch die OAS-Mission gab sich «überrascht».
Die Dynamik in der offiziellen Auszählung, die sich direkt
auf die Akten stützte und (theoretisch) als einzige rechtlich aussagekräftig
war, folgte genau dem gleichen Muster wie die TREP: «Figur 2 analysiert die Ergebnisse der offiziellen Auszählung. Wie bei
der Schnellauszählung wuchs der MAS-Vorsprung stetig, je mehr Akten gezählt
wurden. Dabei zeigt sich eine ähnliche Dynamik bzgl. der disproportionalen
Unterstützung des MAS in Regionen mit späteren Berichten» (S. 9). Die CEPR-Autoren schreiben: «Wenn die offizielle und die
Schnellauszählung übereinstimmen, dann muss ein Betrug sehr wahrscheinlich bei
der Verfälschung von Wahlakten erfolgen, die alle online öffentlich zugänglich
sind. Wie dies geschehen könnte, ist unklar, denn es setzte einen landesweiten
Effort voraus unter Benutzung von gültiger WählerInneninformation, um
Geschworene[i],
offizielle BeobachterInnen und die Delegierten der Partei [von Mesa] zu
täuschen oder zu bestechen, die alle die Übertragung der Stimmzettel in die
Wahlakten überwachen» (S. 6).
Solche irrelevanten Details interessieren natürlich nicht. Wie
vor vier Tagen in Putsch
und eine Weissagung geschildert, veröffentlichte die
OAS-Wahluntersuchungskommission letzten Samstag einen «vorläufigen
Bericht», Tage, bevor er angekündigt war, dafür während des faschistischen «Marschs
auf La Paz». Darin werden vier angebliche Betrugsfelder skizziert. Gestützt auf
den Bericht forderten Armee und Polizei Morales umgehend zum Rücktritt auf –
sie putschten. Vier Betrugsfelder wollte die OAS ausgemacht haben: So seien
etwa bei der Schnellauszählung nach dem Veröffentlichungsunterbruch von dafür nicht
vorgesehenen Servern Daten übermittelt worden, bei der definitiven Auszählung
habe der Lieferant der Software unbeschränkten Zugriff auf die Datenbank
gehabt; Fotokopien der Wahlakten für die Auszählung seien teilweise für die
definitive Auszählung übernommen worden, statt diese auf die physischen Akten
abzustützen u. a. Weshalb für die OAS «die
Sicherheitsstandards nicht respektiert worden sind» und «es nicht möglich ist, die Integrität der
Daten und die Korrektheit der Resultate zu garantieren.» Einzelne Akten
würden zudem die Gesamtheit der Stimmen dem MAS zuschreiben, bei einzelnen
Urnen werde eine «praktisch unmögliche»
100-prozentige Beteiligung der Wahlberechtigten ausgewiesen. In mehreren
Departementen sei auch “sensibles
Material» bei den (von den Rechten) gelegten Bränden zerstört worden, wofür
die Verantwortung bei den Behörden liege.
Dazu einige kurze Hinweise: Von den insgesamt 34'555 Wahlakten
hatte die OAS-Mission auf Hinweis der Rechten 333 angeschaut und dabei in 78
Akten Fälschungen geortet, also bei ganzen 0.22 %. Das ist arg wenig für ihre
jetzt von den Putschisten übernommene Forderung nach Annullierung der Wahlen
und ihrer Wiederholung unter «neutraler» Leitung. Bei der offiziellen Auszählung
seien teilweise Akten-Fotokopien für die Schnellauszählung verwendet worden,
was unzulässig sei. Mutmasslich (die Mission geruht, nicht zu spezifizieren)
handelt es sich um Kopien jener im Bericht erwähnten Akten, die von den
Faschisten in mehreren Departementen beim Niederbrennen der Departementsszentralen
des Wahlgerichts zerstört worden sind. Aber klar, dafür sind laut Mission die Behörden
verantwortlich. Und vergessen wir nicht: Sämtliche Angaben sind im Netz
überprüfbar, von einem Heer von Geschworenen, ParteivertreterInnen der Rechten
und BeobachterInnen, die alle ihre eigenen Fotokopien haben.
Arbeitsteilung Kolonialministerium/Mob
Schlussfolgerung der OAS: Angesichts der statistischen
Projektionen «ist es möglich, dass der
Kandidat Morales den ersten Rang und der Kandidat Mesa den zweiten Rang belegt.
Aber es ist statistisch unwahrscheinlich, dass Morales den 10-Prozent-Vorsprung
für die Vermeidung einer Stichwahl erzielt hat. Das Auditteam kann die
Resultate der Wahlen nicht validieren, weshalb sich Neuwahlen empfehlen.» Es
sei «möglich», dass Evo vorne lag – quién
sabe? Bisher hatten das auch die Rechten nicht bestritten, es ging immer um
die 10 Prozent.
Aber dieser mögliche Totalbetrug leitete eine neue Drehung ein.
Vorgestern schwafelte
OAS-Generalsekretär Luis Almagro an der von Mexiko geforderten Tagung des Permanenten
Rates der OAS von einem «praktisch
generalisierten Betrug in allen Phasen des Wahlprozesses» und von einem «Selbstputsch» Evos am 20. Oktober
sprach. Der Typ, ehemals Aussenminister von Pepe Mujica in Uruguay und von
letzterem auf den OAS-Posten gehievt, lässt an Erbärmlichkeit nichts aus. Den
Putsch hat Evo gemacht, die Aufrechten des Agrobusiness und der faschistischen
Strukturen haben die Demokratie wieder hergestellt. Es ist klar, dass die
Angestellten des Kolonialministeriums der USA (Che Guevara) versuchen, ihre
kriminelle Spur zu verwischen und sich dabei extrem verrenken.
Ob bei der offiziellen Auszählung der Softwarelieferant
tatsächlich Zugriff auf die Datenbank hatte, sei dahingestellt. Und selbst wenn
- wie gesagt, relevante Veränderungen hätten sofort auffallen müssen. Das Gleiche
gilt für die Behauptung des Einsatzes nicht zugelassener Server bei der
Schnellauszählung. Diese ist aber nur am Wahlabend zwecks schneller
Trendinformation relevant, danach liegt das Interesse auf der offiziellen
Auszählung, bei der von solchen Dingen auch bei der OAS noch nicht einmal die
Rede ist. Schaumschlägerei also. Punkto angeblich nicht-respektierte technologische
Sicherheitsstandards ist festzuhalten: Die Auszählung erfolgt in Bolivien manuell.
Ebenso die beglaubigte Ausstellung der Wahlakte. Was immer bei Übermittlungen schiefgelaufen
sein mag – ob gewollt oder nicht – wäre sekundär gewesen, da die gezählten
Akten in der Webpage des Wahlgerichts jederzeit von den Parteien etc. einsehbar
gewesen waren. Erst recht gilt das für die verlogene Behauptung der
statistischen «Überraschung». Doch die faschistischen Kräfte hatten dafür
gesorgt, dass das Letzte, was interessierte, Resultate waren. Die OAS hat im
Auftrag der Administration Trump in einem kaum für möglich gehaltenen Ausmass
dafür Unterstützung geliefert.
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Conquistadores hier
und dort
Der Betrug der «Wahlbetrugskontrolleure» – alter Schnee von gestern?
Nein, auch wenn in Bolivien drastisch sichtbar wird, was mit der «Demokratie» auf
sich hat – die Gewalt der Waffen spricht eine deutliche Sprache. Aber die OAS-Propaganda
und ihre anhaltenden Medienechos sollen genau diesen Fakt verheimlichen, weg
reden, zurechtbiegen, unsichtbar machen. Militärputsch? Ach was! Verfassungsauftrag.
Wie das gestern der Lateinamerikachef der Auslandredaktion der NZZ drehte: Nach
dem erwähnten OAS-Bericht habe der Armeechef den Präsidenten zum Rücktritt
aufgefordert, «um die Ruhe im Land
sicherzustellen und die Verfassung durchzusetzen. Laut Artikel 245 des bolivianischen
Grundgesetzes ist Letzteres auch Aufgabe der Armee». Ruhe im Land ….
gemeint ist faschistischer Terror und (unvermeidlich) Widerstand. Marti, so
heisst der Mann, hatte ganz im Geist, mit der er die Unterdrückung in Bolivien
begrüsst, am 6. November eine
ganze Seite zur Eroberung Mexikos durch die Conquistadores geschrieben. Fasziniert
hat ihn die dabei angewandte «Joint Venture» von spanischem König, der den Beuteauftrag
gab, und privaten Financiers der Conquistazüge – der «Startschuss zur Globalisierung» und die «weltweite Vorherrschaft Europas». Auf dieser ganzen Seite platzierte
der Mann sogar eine Simulation von Kritik: Die Conquistadores hätten «sich ziemlich ungehörig aufgeführt.»
Dagegen geht es – hier und dort.
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Von El Alto nach Kobane
Demo heute in La Paz |
Täglich zirkulieren erschütternde, aber auch inspirierende Berichte
aus Bolivien. Militär und Polizei gehen bei Verhaftungen extrem brutal vor, wie
auf manchen Handyvideos dokumentiert. Eine Frau aus einem kleinen Dorf richtet einen
verzweifelten Aufruf, von Weinen unterbrochenen, an die internationalen Medien,
das Schweigen und Lügen der bolivianischen Medien zu durchbrechen. Im Dorf
seien die Leute bereit zu sterben, aber alles sei so entsetzlich jetzt. In El Alto
oder La Paz gibt es heftige Auseinandersetzungen, in La Paz fand heute eine
Grossdemonstration gegen den Putsch statt. Bewegend, wenn man die langen
Buskolonnen aus dem indigenen Hochland auf der Fahrt zur Demo sieht, trotz seit
Tagen anhaltendem Einsatz von Armee und Polizei. Und motivierend die langen
Marschkolonnen der indigenen Massen an die Demo. Alle wissen, dass der Heimweg
gefährlich sein wird – aber sie kommen. In einem Video sieht man, wie die Bevölkerung
(vermutlich in El Alto) die Bullen mit Steinen bewirft. Dann hört man es
knallen und sieht noch, wie die Leute weg rennen. Wie nicht sofort an die
Menschen in Kobane denken, die das Gleiche mit den türkisch-russischen
Patrouillen tun – und danach, wie ihre Geschwister in El Alto, beschossen
werden.
Ein Video von heute aus Cochabamba. Auch diese Frau muss
beim Reden weinen. Sie berichtet, die «Bauernbrüder» aus dem Chapare, aus Oruro
und anderen MAS-Zonen, die einem regionalen Mobilisierungsaufruf gefolgt sind,
werden von den Militärs ermordet und aus Helikoptern beschossen. Niemand von
der Presse lasse sich dort blicken.
Von dem, was ausserhalb der grössten Bevölkerungszentren
passiert, wissen wir so gut wie nichts.