Bolivien: Nochmals zum «Wahlbetrug» der Betrüger

Freitag, 15. November 2019


(zas, 14.11.19) Die Wahlbeobachtungsmission der OAS hatte schon am Tag nach den Wahlen vom 20. Oktober Alarm geschlagen wegen des «drastischen und nur schwer erklärbaren Trendwechsels bei den vorläufigen Resultaten». Damit war die Wortwahl für die transnationalen Medien gegeben.
Das Oberste Wahlgericht hatte am 20. Oktober die Schnellauszählung, TREP genannt, nach Erfassung von über 83 % der Wahlakten unterbrochen. Als die Publikation der Ergebnisse dieser Auszählung, die einzig der Trendinformation diente und rechtlich irrelevant war, am folgenden Tag wieder aufgenommen wurde, erhielt Evo schliesslich mehr als 10 % Abstand auf den nächsten Konkurrenten, Carlos Mesa. Bei diesem Ergebnis, wenn es denn durch die offizielle Auszählung der physischen Akten, und nicht bloss ihrer per IT übermittelten Fotokopien wie bei der TREP, bestätigt würde, wäre das Thema Stichwahl erledigt.
Doch eben: Die OAS evozierte dieses bekannte Bild: Wahlcomputer stürzen ab, wenn sie wieder funktionieren, ist der Zahlenbetrug gelaufen. Noch jede Nachplapper-Figur in den Medien betonte, wie der «Absturz» der Auszählung «plötzlich», «wundersamerweise» Evo zum Sieger machte. Danach, so die Lüge, revoltierte das Volk gegen den Betrug. Es verlangte erst eine Überprüfung der Wahlzettel und, nachdem Evo Morales unbegreiflicherweise diese Überprüfung in die Hände der OAS gelegt hatte, die Annullierung der Wahlen. Als Evo Neuwahlen ankündigte, ein extremer Schritt zwecks Besänftigung der Faschos und ihrer besorgten internationalen Gemeinschaft, war die neue Forderung: vorgängig Rücktritt der Regierung (möglichst in Richtung Gefängnis). Carlos Mesa, der Wahlverlierer, erinnerte sich an seine Zeit als Vize des Massakerpräsidenten Gonzalo Sánchez de Lozada und forderte im Zug der sich radikalisierenden Mobilisierungen der Ultras Neuwahlen ohne Evo Morales. Mesa und die Seinen verkündeten denn auch schon lange vor den Wahlen, nur ihr Sieg sei annehmbar.
Das Problem bei der von den westlichen Medien weitgehend aufgesogenen Story ist, dass die OAS schlicht lügt und eine putschistische Agenda betreibt. Nehmen wir ihren o. e. «nur schwer erklärbaren Trendwechsel bei den vorläufigen Resultaten». Die beim Unterbruch der Publikation der Trenddaten noch fehlenden rund 17 % aller Akten stammten vorwiegend aus ländlichen Gegenden mit starker Unterstützung für das MAS. Wer auch nur eine geringe Ahnung von Wahlen in Ländern des Trikonts hat – die kann man der OAS nicht absprechen – weiss, dass diese grosse Anzahl an Akten aus Hardcore-Zonen der indigenen Bewegungen durchaus reichen kann, die damals rund 7 % Vorsprung von Evo auf über 10 % zu bringen und ihn damit zum Präsidenten für die kommenden Jahre zu machen. Die minimalste Seriosität hätte diesem Verein geboten, mindestens die Klappe zu halten. Stattdessen lieferte man eiligst, bar jeglicher Professionalität, die faktische «Rechtfertigung» für die schon am 20. Oktober angelaufene Offensive der Ultras (Abbrennen verschiedener Zentren der Wahlbehörde, Hetzjagden auf Indígenas des Hochlands etc.).  
OAS-Wahlbeobachtung: Auch noch paternalistisch


Klarstellung des CEPR
Zum Glück hat das in den USA bekannte Washingtoner Center for Economic and Policy  Research (CEPR) am letzten 8. November eine seriöse Studie der Wahlresultate vorgelegt – What Happened in Bolivia’s Vote Count? (englisch und spanisch). Die vier Autoren haben sich die Mühe gemacht, die im Web einsehbaren 34'555 Wahlakten der definitiven Auszählung und der TREP zu einer wahlstatistischen Analyse zu unterziehen. Und siehe – das «Unerklärliche» fand schnell seine Erklärung. Auch in der TREP hatte sich der Vorsprung von Evo auf seinen Hauptkonkurrenten mit zunehmender Auswertung der Aktenfotokopien laufend erhöht. Sie schreiben: «Figur 1 zeigt, dass der MAS-Vorsprung stetig anwuchs, je mehr Stimmen gezählt wurden, in Übereinstimmung damit, dass Unterschiede in Geographie und Infrastruktur zu einer späteren Auszählung in Pro-MAS-Gegenden geführt hatten. Dieser Trend zeigte sich auch bei den Parlamentswahlen» (S. 7).
Die Autoren belegen, dass die Tendenz schon vor Erreichen der 83-Prozent-Marke nicht mit einem «unerklärlichen» Tendwechsel kollidierte, wie von der OAS vor- und von den Medien seither nachgebetet, sondern im Gegenteil einen Vorsprung von mehr als 10 % nahegelegt hatte. Sie resümierten diesen Part so: «Die Resultate von der Schnellauszählung der ersten 83.85 % der Stimmen stimmen mit dem projizierten Endresultat eines Sieges von Morales mit mehr als 10 % Vorsprung überein» (s. 5).
Sie widerlegen auch die OAS-Mär, dass die Wahlbehörde aus «unerklärlichen Gründen» die von ihr versprochene 100-prozentige Publikation der Trendresultate gestoppt habe. Eine solche vollständige Schnellauszählung war im Gegenteil «unwahrscheinlich, da logistische Beschränkungen (…) je nach Geographie beträchtlich variieren» (S. 4). M. a. W., dass die vollständigen vorläufigen Resultate erst zustande kommen, wenn die offizielle Auszählung per Gesetz schon beginnen muss. Die Autoren bringen Beispiele des Abbruchs der TREP-Auszählung bei rund 80 % der Aktenkopien der letzten Jahre. Die OAS-Mission hatte 2017 die Publikation bis 80 % der Akten gelobt. Eine Woche vor den Wahlen hatte das Wahlgericht TSE hatte denn auch den Stopp der Trendauszählung bei rund 80 % angekündigt. doch die OAS-Mission gab sich «überrascht».
Die Dynamik in der offiziellen Auszählung, die sich direkt auf die Akten stützte und (theoretisch) als einzige rechtlich aussagekräftig war, folgte genau dem gleichen Muster wie die TREP: «Figur 2 analysiert die Ergebnisse der offiziellen Auszählung. Wie bei der Schnellauszählung wuchs der MAS-Vorsprung stetig, je mehr Akten gezählt wurden. Dabei zeigt sich eine ähnliche Dynamik bzgl. der disproportionalen Unterstützung des MAS in Regionen mit späteren Berichten» (S. 9).  Die CEPR-Autoren schreiben: «Wenn die offizielle und die Schnellauszählung übereinstimmen, dann muss ein Betrug sehr wahrscheinlich bei der Verfälschung von Wahlakten erfolgen, die alle online öffentlich zugänglich sind. Wie dies geschehen könnte, ist unklar, denn es setzte einen landesweiten Effort voraus unter Benutzung von gültiger WählerInneninformation, um Geschworene[i], offizielle BeobachterInnen und die Delegierten der Partei [von Mesa] zu täuschen oder zu bestechen, die alle die Übertragung der Stimmzettel in die Wahlakten überwachen» (S. 6).  
Solche irrelevanten Details interessieren natürlich nicht. Wie vor vier Tagen in Putsch und eine Weissagung geschildert, veröffentlichte die OAS-Wahluntersuchungskommission letzten Samstag  einen «vorläufigen Bericht», Tage, bevor er angekündigt war, dafür während des faschistischen «Marschs auf La Paz». Darin werden vier angebliche Betrugsfelder skizziert. Gestützt auf den Bericht forderten Armee und Polizei Morales umgehend zum Rücktritt auf – sie putschten. Vier Betrugsfelder wollte die OAS ausgemacht haben: So seien etwa bei der Schnellauszählung nach dem Veröffentlichungsunterbruch von dafür nicht vorgesehenen Servern Daten übermittelt worden, bei der definitiven Auszählung habe der Lieferant der Software unbeschränkten Zugriff auf die Datenbank gehabt; Fotokopien der Wahlakten für die Auszählung seien teilweise für die definitive Auszählung übernommen worden, statt diese auf die physischen Akten abzustützen u. a. Weshalb für die OAS «die Sicherheitsstandards nicht respektiert worden sind» und «es nicht möglich ist, die Integrität der Daten und die Korrektheit der Resultate zu garantieren.» Einzelne Akten würden zudem die Gesamtheit der Stimmen dem MAS zuschreiben, bei einzelnen Urnen werde eine «praktisch unmögliche» 100-prozentige Beteiligung der Wahlberechtigten ausgewiesen. In mehreren Departementen sei auch “sensibles Material» bei den (von den Rechten) gelegten Bränden zerstört worden, wofür die Verantwortung bei den Behörden liege.
Dazu einige kurze Hinweise: Von den insgesamt 34'555 Wahlakten hatte die OAS-Mission auf Hinweis der Rechten 333 angeschaut und dabei in 78 Akten Fälschungen geortet, also bei ganzen 0.22 %. Das ist arg wenig für ihre jetzt von den Putschisten übernommene Forderung nach Annullierung der Wahlen und ihrer Wiederholung unter «neutraler» Leitung. Bei der offiziellen Auszählung seien teilweise Akten-Fotokopien für die Schnellauszählung verwendet worden, was unzulässig sei. Mutmasslich (die Mission geruht, nicht zu spezifizieren) handelt es sich um Kopien jener im Bericht erwähnten Akten, die von den Faschisten in mehreren Departementen beim Niederbrennen der Departementsszentralen des Wahlgerichts zerstört worden sind. Aber klar, dafür sind laut Mission die Behörden verantwortlich. Und vergessen wir nicht: Sämtliche Angaben sind im Netz überprüfbar, von einem Heer von Geschworenen, ParteivertreterInnen der Rechten und BeobachterInnen, die alle ihre eigenen Fotokopien haben.

Arbeitsteilung Kolonialministerium/Mob
Schlussfolgerung der OAS: Angesichts der statistischen Projektionen «ist es möglich, dass der Kandidat Morales den ersten Rang und der Kandidat Mesa den zweiten Rang belegt. Aber es ist statistisch unwahrscheinlich, dass Morales den 10-Prozent-Vorsprung für die Vermeidung einer Stichwahl erzielt hat. Das Auditteam kann die Resultate der Wahlen nicht validieren, weshalb sich Neuwahlen empfehlen.» Es sei «möglich», dass Evo vorne lag – quién sabe? Bisher hatten das auch die Rechten nicht bestritten, es ging immer um die 10 Prozent.
Aber dieser mögliche Totalbetrug leitete eine neue Drehung ein. Vorgestern schwafelte OAS-Generalsekretär Luis Almagro an der von Mexiko geforderten Tagung des Permanenten Rates der OAS von einem «praktisch generalisierten Betrug in allen Phasen des Wahlprozesses» und von einem «Selbstputsch» Evos am 20. Oktober sprach. Der Typ, ehemals Aussenminister von Pepe Mujica in Uruguay und von letzterem auf den OAS-Posten gehievt, lässt an Erbärmlichkeit nichts aus. Den Putsch hat Evo gemacht, die Aufrechten des Agrobusiness und der faschistischen Strukturen haben die Demokratie wieder hergestellt. Es ist klar, dass die Angestellten des Kolonialministeriums der USA (Che Guevara) versuchen, ihre kriminelle Spur zu verwischen und sich dabei extrem verrenken.
Ob bei der offiziellen Auszählung der Softwarelieferant tatsächlich Zugriff auf die Datenbank hatte, sei dahingestellt. Und selbst wenn - wie gesagt, relevante Veränderungen hätten sofort auffallen müssen. Das Gleiche gilt für die Behauptung des Einsatzes nicht zugelassener Server bei der Schnellauszählung. Diese ist aber nur am Wahlabend zwecks schneller Trendinformation relevant, danach liegt das Interesse auf der offiziellen Auszählung, bei der von solchen Dingen auch bei der OAS noch nicht einmal die Rede ist. Schaumschlägerei also. Punkto angeblich nicht-respektierte technologische Sicherheitsstandards ist festzuhalten: Die Auszählung erfolgt in Bolivien manuell. Ebenso die beglaubigte Ausstellung der Wahlakte. Was immer bei Übermittlungen schiefgelaufen sein mag – ob gewollt oder nicht – wäre sekundär gewesen, da die gezählten Akten in der Webpage des Wahlgerichts jederzeit von den Parteien etc. einsehbar gewesen waren. Erst recht gilt das für die verlogene Behauptung der statistischen «Überraschung». Doch die faschistischen Kräfte hatten dafür gesorgt, dass das Letzte, was interessierte, Resultate waren. Die OAS hat im Auftrag der Administration Trump in einem kaum für möglich gehaltenen Ausmass dafür Unterstützung geliefert.
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Conquistadores hier und dort
Der Betrug der «Wahlbetrugskontrolleure» – alter Schnee von gestern? Nein, auch wenn in Bolivien drastisch sichtbar wird, was mit der «Demokratie» auf sich hat – die Gewalt der Waffen spricht eine deutliche Sprache. Aber die OAS-Propaganda und ihre anhaltenden Medienechos sollen genau diesen Fakt verheimlichen, weg reden, zurechtbiegen, unsichtbar machen. Militärputsch? Ach was! Verfassungsauftrag. Wie das gestern der Lateinamerikachef der Auslandredaktion der NZZ drehte: Nach dem erwähnten OAS-Bericht habe der Armeechef den Präsidenten zum Rücktritt aufgefordert, «um die Ruhe im Land sicherzustellen und die Verfassung durchzusetzen. Laut Artikel 245 des bolivianischen Grundgesetzes ist Letzteres auch Aufgabe der Armee». Ruhe im Land …. gemeint ist faschistischer Terror und (unvermeidlich) Widerstand. Marti, so heisst der Mann, hatte ganz im Geist, mit der er die Unterdrückung in Bolivien begrüsst, am 6. November eine ganze Seite zur Eroberung Mexikos durch die Conquistadores geschrieben. Fasziniert hat ihn die dabei angewandte «Joint Venture» von spanischem König, der den Beuteauftrag gab, und privaten Financiers der Conquistazüge – der «Startschuss zur Globalisierung» und die «weltweite Vorherrschaft Europas». Auf dieser ganzen Seite platzierte der Mann sogar eine Simulation von Kritik: Die Conquistadores hätten «sich ziemlich ungehörig aufgeführt.»
Dagegen geht es – hier und dort.
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Von El Alto nach Kobane
Demo heute in La Paz

Täglich zirkulieren erschütternde, aber auch inspirierende Berichte aus Bolivien. Militär und Polizei gehen bei Verhaftungen extrem brutal vor, wie auf manchen Handyvideos dokumentiert. Eine Frau aus einem kleinen Dorf richtet einen verzweifelten Aufruf, von Weinen unterbrochenen, an die internationalen Medien, das Schweigen und Lügen der bolivianischen Medien zu durchbrechen. Im Dorf seien die Leute bereit zu sterben, aber alles sei so entsetzlich jetzt. In El Alto oder La Paz gibt es heftige Auseinandersetzungen, in La Paz fand heute eine Grossdemonstration gegen den Putsch statt. Bewegend, wenn man die langen Buskolonnen aus dem indigenen Hochland auf der Fahrt zur Demo sieht, trotz seit Tagen anhaltendem Einsatz von Armee und Polizei. Und motivierend die langen Marschkolonnen der indigenen Massen an die Demo. Alle wissen, dass der Heimweg gefährlich sein wird – aber sie kommen. In einem Video sieht man, wie die Bevölkerung (vermutlich in El Alto) die Bullen mit Steinen bewirft. Dann hört man es knallen und sieht noch, wie die Leute weg rennen. Wie nicht sofort an die Menschen in Kobane denken, die das Gleiche mit den türkisch-russischen Patrouillen tun – und danach, wie ihre Geschwister in El Alto, beschossen werden.
Ein Video von heute aus Cochabamba. Auch diese Frau muss beim Reden weinen. Sie berichtet, die «Bauernbrüder» aus dem Chapare, aus Oruro und anderen MAS-Zonen, die einem regionalen Mobilisierungsaufruf gefolgt sind, werden von den Militärs ermordet und aus Helikoptern beschossen. Niemand von der Presse lasse sich dort blicken.
Von dem, was ausserhalb der grössten Bevölkerungszentren passiert, wissen wir so gut wie nichts.


[i] Sechs per Los bestimmte Wahltisch-MitarbeiterInnen-