(zas, 10.11.19) So eben haben Evo Morales und sein Vize Álvaro
García Linera ihren Rücktritt erklärt.
García Linera nahm eine alte Weissagung auf: «Wir werden zurückkommen und wir werden Millionen sein.»
Evo an der Pressekonferenz: «Ich trete zurück, wir treten zurück, damit meine Schwestern mit der
Pollera [traditionelle indigene Kleidung] nicht wie in Santa Cruz und Cochabamba
getreten werden. Jetzt können Mesa und Camacho zufrieden sein. Jetzt bin ich zurückgetreten,
sind wir zurückgetreten. Ich will nicht weitere Familien auf Befehl von Mesa und
Camacho misshandelt sehen.» Vom Ausland verlangte er, dass es »die Wahrheit über den zivil-politisch-militärischen
Putsch» sage. «Indigena und antiimperialistische
Linke zu sein, ist unser Verbrechen.»
Die Putschisten haben sich durchgesetzt. In der Diktion von
Schweizer Radio und Fernsehen: «In
Bolivien gibt es Bewegung. Nach wochenlangen Protesten will der Präsident Evo
Morales nun doch Neuwahlen durchführen.» Für die NZZ können die Leute «ihr Glück kaum fassen». Man begeisterte
sich 1973 für den Putsch in Chile, man begeistert sich heute für seine
moderneren Varainten.
Unterschätzte
Gewaltbereitschaft
Es ist klar, dass die Compañeras und Compañeros des MAS die
Dimension des Putsches, seine Stärke, seine Basis auch in Polizei und Armee und
natürlich der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) krass unterschätzt haben.
In der Nacht auf Samstag sagte Hugo Moldiz, ein bekannter Intellektueller und
ehemaliger Vizeminister, in einer Audiobotschaft, La Paz sei weitgehend
eingenommen von den Cívicos, die Zukunft hänge an einem Faden. Die Polizei stellte
sich auf die Seite des rassistischen und sexistischen Mobs, der von militanten Mittelklasseavantgarden
geleitet wird. Wenig später folgte die Armee dem Beispiel. Dies, während sich,
wie letzten Samstag die Feministin Adriana Guzmán in einer Audiobotschaft
schilderte, die Brandschatzungen von Lokalen der bäuerischen und indigenen
Organisationen häuften, von solchen des MAS und linker AktivistInnen, von denen
viele, auch ein Minister, von einem entfesselten Mob geschlagen und misshandelt
wurden. Die kommunitären Medien wurden besetzt und zerstört, der Leiter des
Radios der bäuerisch-indigenen Föderation CSUTCB an einen Baum gefesselt, indigenen
und/oder linken Frauen drohte sexuelle Gewalt.
Am Samstag mobilisierten die AktivistInnen der Fejuve in El Alto,
der Nachbarstadt von La Paz, und die CSUTCB hatte einen grossen Marsch auf La
Paz begonnen. Doch gleichzeitig liessen die Chefs von Polizei und Armee verlauten:
«Wir schlagen nach der Analyse der Konfliktsituation dem Staatspräsidenten vor, auf
sein Mandat zu verzichten». In la Paz kam es heute Sonntag zu
Zusammenstössen zwischen grossen Gruppen der beiden Seiten. Aktuell ist die
venezolanische Botschaft von einem Mob bedroht - wie die kubanische 2002 beim
Putschversuch in Caracas.
Laufend traten Abgeordnete und MinisterInnen des MAS zurück.
Stellvertretend für viele die Begründung
der bisherigen Gesundheitsministerin Gabriela Montaño: «Sie gingen zu meinem Haus in Potosí und brannten es praktisch nieder.
Es ist mein einziger Besitz. Sie haben meinen Neffen gepackt, haben ihn
geschlagen und fast umgebracht. Ich habe meinen Rücktritt bekannt gegeben, weil
es im Leben sehr schmerzhafte Momente gibt, Momente, in denen es darum geht, die
Familie zu retten.»
Die Rolle der OAS
Unmöglich, jetzt eine Analyse des Geschehens auch nur zu
versuchen. Ein Punkt sei aber schon erwähnt, die Funktion der OAS. Mehrere
Dutzende ihrer Fachleute haben im Rahmen eines Abkommens mit der Regierung von
Evo Morales eine «Untersuchung» der Auszählung der Wahlresultate vom 20.
Oktober begonnen. Ihr Bericht war auf nächsten Mittwoch angekündigt, doch angesichts
der zunehmenden Intensität der Auseinandersetzungen beorderte OAS-Generalsekretär
Luis Almagro die Veröffentlichung eines «vorläufigen
Berichts» schon letzten Samstag – als Stimmungsmacher für die Putschisten.
Wer die paar Seiten liest, muss von einem grossen Wahlbetrug
überzeugt sein. Dafür nicht vorgesehene und unüberwachte Server seien bei der
ersten, provisorischen Auszählung zum Einsatz gekommen, IP-Adressen für die
Datenübermittlungen seien geändert worden, zertifizierte und bereitstehende Server
seien dagegen nicht eingesetzt worden, u. a. Bei der rechtlich bindenden
definitiven Auszählung habe nach OAS der Lieferant der Software unbeschränkten Zugriff
auf die Datenbank gehabt; die Zählcomputer seien vor Beginn der Auszählung
nicht korrekt auf null gesetzt und bestimmte Kontrollmechanismen nicht angewandt
worden; Fotokopien der Wahlakten für die provisorische Auszählung seien
teilweise telquel für die definitive Auszählung übernommen worden, statt diese
auf die physischen Akten abzustützen; Vorgänge seien nicht korrekt protokolliert
worden u.v.a. Angesichts dieser Faktoren, so die OAS «sind die Sicherheitsstandards nicht respektiert worden» und «ist es nicht möglich, die Integrität der
Daten und die Korrektheit der Resultate zu garantieren.»
Einzelne Akten würden zudem die Gesamtheit der Stimmen dem
MAS zuschreiben, bei einzelnen Urnen werde eine «praktisch unmögliche» 100-prozentige Beteiligung der
Wahlberechtigten ausgewiesen. In den Akten einiger Urnen seien die
Unterschriften gefälscht bzw. von der gleichen Person geschrieben worden. In mehreren
Departementen sei auch “sensibles Material» bei den (von den Rechten) gelegten
Bränden zerstört worden, wofür die Verantwortung bei den Behörden liege.
Zuletzt betont die OAS, wie statistisch «ungewöhnlich» es sei, dass das MAS bei der Auszählung aufgrund der
letzten 5 Prozent der Akten die Schwelle von 10 % Vorsprung habe überwinden und
damit eine Stichwahl verhindern können. Die OAS schreibt, die fraglichen Akten seien
aus sechs Departementen gekommen, geht aber mit keinem Wort auf die Erklärung ein,
dass sie aus traditionell links wählenden ländlichen Gebieten kamen.
Schlussfolgerung: Angesichts der statistischen Projektionen «ist es möglich, dass der Kandidat Morales
den ersten Rang und der Kandidat Mesa den zweiten Ran belegt. Aber es ist
statistisch unwahrscheinlich, dass Morales den 10-Prozent-Vorsprung für die
Vermeidung einer Stichwahl erzielt hat. Das Auditteam kann die Resultate der
Wahlen nicht validieren, weshalb sich Neuwahlen empfehlen.» Das ist enorm.
Es ist «möglich», dass Evo vorne lag – quién
sabe? Bisher haben das die Rechten nicht bestritten, es ging immer um die
10 Prozent.
Eine Analyse dieses «Audits», das sich stellenweise als tendenziös
entlarvt - warum hat die Regierung nicht besser gegen die Faschisten vorgesorgt?
die Herleitung einer statistischen «Unüblichkeit» u.a. - steht aus. Stimmen die
Fakten überhaupt? Eine berechtigte Frage angesichts der oft manipulativen
Wahlbeobachtungspraxis der OAS. Da passt es, dass einige Stimmen zum Thema erst
mal nicht mehr gehört werden können. Heute hat die Generalstaatsanwaltschaft auf
der Basis des OAS-Papiers eine Strafuntersuchung gegen die MagistratInnen der
nationalen und der departementalen Wahlbehörden eingeleitet, von denen schon 38
Personen, darunter die Präsidentin des Wahlgerichts und ihr Stellvertreter,
festgenommen und vom Generalstaatsanwalt und dem Polizeichef persönlich den
Medien vorgeführt
worden sind.
Und weitere Gewalt
Vor ein paar Stunden haben die Streitkräfte und die Polizei bekanntgegeben,
«militärische Land- und Luftoperationen durchzuführen,
um bewaffnete Gruppen zu neutralisieren.» Begründung: Eine Gruppe rechter Minenarbeiter
sei bei der Fahrt nach La Paz in einen Hinterhalt geraten und beschossen worden
(in einem Video sind Männer zu sehen, die auf dem Boden rumrobben, während
Schüsse zu hören sind). Nach rund drei Wochen rechten Terrors wird die Gewalt endlich
im «richtigen» Lager situiert. Zufällig gleich wie in Ecuador. Dort sprach der Chef
Operationen des Oberkommandos unter Bezug auf die Revolte gegen die Verarmungspolitik
des IWF und seiner Regierung im Land von «Delinquenten
und Terroristen» und betonte: «Unsere
Mission wird sein, sie zu identifizieren, zu isolieren, zu neutralisieren.»
Their master’s voice, sie klingt wieder wie früher, Musik für
«unsere» Medien.
Der nicht gerade linksradikale mexikanische Aussenminister
schrieb: «In Bolivien ist eine
Militäroperation im Gang. Wir verurteilen sie. Sie gleicht den tragischen
Ereignissen, die unser Lateinamerika im letzten Jahrhundert in Blut getränkt
hat. Mexiko hält seine Position der Respektierung der Demokratie und der Institutionen
aufrecht. Putsch nein.»