Brasilien: „Den Verlust der Rechte der ArbeiterInnen nicht friedlich hinnehmen“

Mittwoch, 20. April 2016





Fania Rodríguez und Vivian Virissimo interviewen Pedro João Stedile von der Landlosenbewegung MST.

Rio de Janeiro, 18.4.16

[Am letzten Sontag sprach sich die Mehrheit der Abgeordnetenkammer der Rechtsparteien PMDP, PSDP und Beigemüse mit 367 gegen 137 Stimmen für die Eröffnung des Absetzungsverfahren gegen Präsidentin Dilma Rousseff von der ArbeiterInnenpartei PTaus. Nächste Station wird der Senat sein.]

Falls das Impeachment im Senat nicht durchkommt, was können wir von der Regierung Dilma erwarten?
Die Rechte kann andere Mechanismen erfinden oder auf das Verfahren vor dem Regionalen Wahlgericht setzen[1].  In diesem zweiten Fall käme es zu Neuwahlen. Aber ich schätze, dass die Rechte und die Wirtschaft das nicht riskieren wollen, denn dies würde dem Volk wieder die Möglichkeit der Entscheidung geben.

Was ist das Projekt der rechten Parteien wie PSDB und PMDB?
Das grosse Ziel der Rechten ist, die Präsidentin abzusetzen, um ihr neoliberales Programm umzusetzen. Also die Liquidierung sozialer Errungenschaften, von ArbeiterInnenrechten, und vorallem die Senkung der Mittel für Gesundheit und Erziehung. Und genau deshalb, weil die rechten KandidatInnen den Mut nicht haben und nicht die Argumente, um dieses Projekt zu verteidigen, wären allgemeine Wahlen für sie komplizierter.

Was wäre denkbar, wenn die Regierung diese Schlacht gewänne?
Die Regierung Dilma, die wir bisher hatten, ist zu Ende. Auch wenn die Pro-Absetzungssektoren im Senat geschlagen würden, hätten wir ab Mai eine neue Regierung. Dilma suchte letztes Jahr eine Versöhnung mit der Rechten und gab dem PMDB neun Ministerien. Das misslang. Das von Joaquim Levy und Nelson Barbosa geführte Finanzministerium steht dafür. Eine neue Regierung Dilma post-impeachment würde von Ex-Präsident Lula geleitet. Und die Ministerien würden von herausragenden Namen der Gesellschaft geleitet, nicht von Parteibündnissen. Dies würde die Regierung auf das Programm verpflichten, für das sie gewählt worden war.

Und das wäre möglich und nicht bloss ein Wunsch der Volksbewegungen?
Das ist möglich in dem Mass, als diese Änderung die einzige mögliche Lösung für die Regierung ist. Sonst würde sich Dilma noch mehr isolieren und der Rechten Tür und Tor für andere Absetzungsverfahren öffnen. Seit 2014 agieren die Volksbewegungen nur defensiv: gegen den Putsch oder etwa gegen die Privatisierung der Erdölvorkommen des pré-sal.  Eine Putschniederlage würde es den Bewegungen ermöglichen, im Kampf mit neuen Vorschlägen voranzukommen.

Mit was für Vorschlägen?
Nach diesem Impeachment-Prozess werden die Volksbewegungen einen „Brief des brasilianischen Volks“ präsentieren. Wir wollen die Logik des berühmten „Briefs an das brasilianische Volk“ des PT von 2002 umkehren. Wir werden einen Notplan präsentieren, um mindestens eine Verschärfung der Wirtschaftskrise zu verhindern. Das umfasst etwa den Vorschlag, dass die Regierung den Bau von Volkswohnungen priorisiere. Die Regierung vergab dieses Jahr Aufträge für den Bau von 70‘000 Häuser. Das ist nicht nichts. Aber wir brauchen eine Million neuer Wohnungen. Das ist nur einer unserer Vorschläge.

Und was, wenn das Impeachment im Senat durchkommt?
Kommt es durch und übernehmen Michel Temer (PMDB) und Eduardo Cunha (PMDB) die Regierung, gibt es politisch ein Chaos. Denn dieser ganze Diskurs, dass die Regierung wegen der Korruption des PT gestürzt werden müsse, würde hinfällig. Der PMDB ist die korrupteste Partei in der Geschichte Brasiliens. Die Korruption würde zunehmen. Doch mehr noch bestünde die Mission Temers darin, die Ausbeutung der ArbeiterInnen zugunsten von mehr Unternehmerprofiten zu verschärfen. In ihrer Vorstellung würde mit mehr Unternehmergewinn die Wirtschaft wachsen. Aber dem ist nicht so.

Brasilia, 16. April 2016: Draussen Aufmarsch gegen den Putsch vor der Abgeordnetenkammer.  Drinnen Stimmabgabe dafür.

 Wie wäre eine allfällige Regierung Temer?
Im Kongress stehen derzeit mehrere Vorlagen an, die die arbeitende Klasse schädigen. Mit einem Impeachment-Sieg würden diese Projekte beschleunigt umgesetzt. Kürzlich berichtete das Blatt Valor Económico über einen Unternehmer, der es absurd findet, dass ArbeiterInnen in Brasilien 30 Tage Ferien haben. Ihm zufolge sollte es Brasilien wie China handhaben, mit nur 13 Tagen Ferien, oder wie die USA, wo Ferien je nach Unternehmen geregelt sind. Sie wollen die in der Arbeitsgesetzgebung verankerten Rechte abschaffen.

Welche anderen Vorschläge Temers wären negativ für die ArbeiterInnen?
Heute ist die Regierung gesetzlich verpflichtet, 13 Prozent ihrer Einnahmen für Gesundheit und elf Prozent für Erziehung auszugeben. Sie wollen den obligatorischen Charakter dieser Sätze abschaffen, also nur noch dafür ausgeben, wie es der Regierung gerade gut scheint. Und warum? Weil sie Gesundheit und Erziehung privatisieren wollen. Das Geld ginge woanders hin. Das ist keine Hypothese, sondern steht genau so im Regierungsprogramm des PMDB.

Wie würde die Gesellschaft auf solche Veränderungen reagieren?
Der Klassenkampf, die Mobilisierungen, die Streiks und Zusammenstösse werden zweifellos zunehmen. Denn die organisierten Sektoren der arbeitenden Klasse würden den Verlust ihrer Rechte nicht friedlich hinnehmen. Deshalb ist es wahrscheinlich, dass eine Regierung Temer nur kurz existieren würde. Wird er Präsident, kommt es sehr wahrscheinlich zu Demonstrationen gegen ihn, selbst von Seiten der Yuppies[2]. Denn ihre Linie ist gegen die Korruption. Und [Temers Partei] PMDB ist die korrupteste im Land. Wie immer das Impeachment-Verfahren ausgeht, wird das Thema der politischen Reform wieder zentral werden. Die Volksbewegungen setzen sich für die Einberufung einer Verfassungsgebenden Versammlung ein.

Und was wäre die Perspektive für das MST und den Kampf auf dem Land?
Für den Klassenkampf auf dem Land wäre ein Regierung Temer die schlechteste aller Welten. Nicht, dass sie den Mut hätte, die Repression zu organisieren – die Repression gegen die Volksbewegungen auf dem Land ist Sache der Polícia Militar, die den Regierungen der Gliedstaaten untersteht[3]. Aber die Konsolidierung einer putschistischen Rechtsregierung würde die konservativen Kräfte stärken, die in den Gliedstaaten agieren. Das wollen sie, aber das muss nicht notwendigerweise eintreten. Das hängt davon ab, ob sich die Unterklassenbewegungen organisieren und die Repression verunmöglichen. Mit anderen Worten, so oder so wird es Kämpfe geben.

·         Brasildefato.com. 18.4.16: “Até coxinhas farão ato contra Temer”, diz Stedile.



[1] Vor dem Obersten Gericht hat die Rechte ein Absetzungsverfahren angestrengt, da es bei der letzten Präsidentschaftswahl zu unkorrekten Spenden für das jetzige Regierungslager gekommen sei. Die Rechte um die Hardliner-Partei PSDB hat im Kongress mehrmals eineVerbot geheimer Unternehmensspenden für Parteien verhindert.
[2] Coxinhas, brasilianischer Begriff für eher reiche, auf ihr Äusseres bedachte Menschen mit Hang zum Bourgeois.
[3] Die PM ist heute keine Militärpolizei, sondern das Korps für Ruhe und Ordnung. 

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Der Putsch der Korrupten*

Rodrigo Vianna

Die Mehrheit der [die Absetzung von Dilma] befürwortenden Abgeordneten widmeten ihr „Ja“ ihren Familien oder Gott.
Nachdem ich der Putschsession in Brasilia beigewohnt habe, weiss ich, warum die TFP (Tradition, Familie, Eigentum – eine alte ultrarechte katholische Institution, die 1964 die Militärdiktatur begrüsste) verfällt.
Die TFP braucht es nicht mehr. Die Rede von der „Familie über alles“ hat das Rennen gewonnen.
„Für meine Familie, für meine Kinder, für meine Frau“, schrie ein Abgeordneter aus Goiás.
„Ich stimme im Namen des Volk Gottes“, sagte eine junge Anwärterin auf den Heiligenstatus.
Bolsonaro inszenierte die absurdeste Show, als er bei seiner Stimmabgabe an den Putsch von 1964 erinnerte: „Sie haben 1964 verloren, sie verlieren erneut 2016“. Danach pries er das Gedenken an den Folterer Brilhante Ustra[1]. Alles begleitet von zynischen Lachern und Applaus.
Die extreme Rechte, der vier Mal geschlagene PSDB, der PMDB des Verräters Temer und der untere Klerus, der Lava-Jato[2] fürchtet: Sie haben sich alle zum parlamentarischen Putsch zusammengeschlossen. Zum Putsch der Korrupten.

·         aus O golpe dos corruptos leva Brasil à beira do caos

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Oppositionelle Schlüsselfigur in Washington*

Glenn Greenwald, Andrew Fishman, David Miranda

Heute, am Tag nach der Impeachment-Abstimmung, wird Senator Aloysio Nunes vom PSDB für drei Tage in Washington weilen und mehrere US-Offizielle sowie Lobbyisten treffen, die Clinton und anderen Politfiguren nahestehen. Nunes wird den Vorsitzenden und hohe Mitglieder des Senate Foreign Relations Committee und den Unterstaatssekretär und früheren Botschafter in Brasilien, Thomas Shannon, treffen, sowie an einem vom Washingtoner Lobbyunternehmen Albright Stonebridge Group offerierten Essen teilnehmen. Dem Unternehmen stehen Madeleine Albright, Bill Clintons ehemalige Aussenministerin, und Carlos Gutierrez, Handelsminister von George w. Bush und heute CEO der Kellog Company, vor.
Nunes war 2014 Vizepräsidentschaftskandidat des PSDB. Er wird eine der entscheidenden Pro-Impeachment-Figuren im Senat sein. Als Präsident des Komitees für internationale Beziehungen des brasilianischen Senats hat er sich wiederholt für eine Allianz mit den USA und dem UK ausgesprochen. Und – sozusagen selbstverständlich – gibt es schwere Korruptionsanschuldigungen gegen ihn.




[1] Oberst, verantwortlich auch für die Folter von Dilma Rousseff.
[2] Korruptionsuntersuchungen rund um die Erdölfirma Petrobras.