Brasildefato.com. 18.4.16: “Até
coxinhas farão ato contra Temer”, diz Stedile.
Fania Rodríguez und Vivian
Virissimo interviewen Pedro João
Stedile von der Landlosenbewegung MST.
Rio de Janeiro, 18.4.16
[Am letzten Sontag sprach sich die Mehrheit der Abgeordnetenkammer der Rechtsparteien PMDP, PSDP und Beigemüse mit
367 gegen 137 Stimmen für die Eröffnung des Absetzungsverfahren gegen Präsidentin Dilma Rousseff von der ArbeiterInnenpartei PTaus. Nächste Station wird der Senat sein.]
Falls das Impeachment
im Senat nicht durchkommt, was können wir von der Regierung Dilma erwarten?
Die Rechte kann andere Mechanismen erfinden oder auf das
Verfahren vor dem Regionalen Wahlgericht setzen[1]. In diesem zweiten Fall käme es zu Neuwahlen. Aber
ich schätze, dass die Rechte und die Wirtschaft das nicht riskieren wollen,
denn dies würde dem Volk wieder die Möglichkeit der Entscheidung geben.
Was ist das Projekt
der rechten Parteien wie PSDB und PMDB?
Das grosse Ziel der Rechten ist, die Präsidentin abzusetzen,
um ihr neoliberales Programm umzusetzen. Also die Liquidierung sozialer
Errungenschaften, von ArbeiterInnenrechten, und vorallem die Senkung der
Mittel für Gesundheit und Erziehung. Und genau deshalb, weil die rechten
KandidatInnen den Mut nicht haben und nicht die Argumente, um dieses Projekt zu
verteidigen, wären allgemeine Wahlen für sie komplizierter.
Was wäre denkbar, wenn
die Regierung diese Schlacht gewänne?
Die Regierung Dilma, die wir bisher hatten, ist zu Ende. Auch
wenn die Pro-Absetzungssektoren im Senat geschlagen würden, hätten wir ab Mai eine
neue Regierung. Dilma suchte letztes Jahr eine Versöhnung mit der Rechten und
gab dem PMDB neun Ministerien. Das misslang. Das von Joaquim Levy und Nelson
Barbosa geführte Finanzministerium steht dafür. Eine neue Regierung Dilma
post-impeachment würde von Ex-Präsident Lula geleitet. Und die Ministerien würden von
herausragenden Namen der Gesellschaft geleitet, nicht von Parteibündnissen. Dies
würde die Regierung auf das Programm verpflichten, für das sie gewählt worden
war.
Und das wäre möglich
und nicht bloss ein Wunsch der Volksbewegungen?
Das ist möglich in dem Mass, als diese Änderung die einzige
mögliche Lösung für die Regierung ist. Sonst würde sich Dilma noch mehr
isolieren und der Rechten Tür und Tor für andere Absetzungsverfahren öffnen.
Seit 2014 agieren die Volksbewegungen nur defensiv: gegen den Putsch oder etwa gegen
die Privatisierung der Erdölvorkommen des pré-sal. Eine Putschniederlage würde es den Bewegungen
ermöglichen, im Kampf mit neuen Vorschlägen voranzukommen.
Mit was für
Vorschlägen?
Nach diesem Impeachment-Prozess werden die Volksbewegungen
einen „Brief des brasilianischen Volks“ präsentieren. Wir wollen die Logik des berühmten
„Briefs an das brasilianische Volk“ des PT von 2002 umkehren. Wir werden einen
Notplan präsentieren, um mindestens eine Verschärfung der Wirtschaftskrise zu
verhindern. Das umfasst etwa den Vorschlag, dass die Regierung den Bau von
Volkswohnungen priorisiere. Die Regierung vergab dieses Jahr Aufträge für den
Bau von 70‘000 Häuser. Das ist nicht nichts. Aber wir brauchen eine Million
neuer Wohnungen. Das ist nur einer unserer Vorschläge.
Und was, wenn das
Impeachment im Senat durchkommt?
Kommt es durch und
übernehmen Michel Temer (PMDB) und Eduardo Cunha (PMDB) die Regierung, gibt es politisch
ein Chaos. Denn dieser ganze Diskurs, dass die Regierung wegen der Korruption
des PT gestürzt werden müsse, würde hinfällig. Der PMDB ist die korrupteste
Partei in der Geschichte Brasiliens. Die Korruption würde zunehmen. Doch mehr
noch bestünde die Mission Temers darin, die Ausbeutung der ArbeiterInnen zugunsten
von mehr Unternehmerprofiten zu verschärfen. In ihrer Vorstellung würde mit
mehr Unternehmergewinn die Wirtschaft wachsen. Aber dem ist nicht so.
Brasilia, 16. April 2016: Draussen Aufmarsch gegen den Putsch vor der Abgeordnetenkammer. Drinnen Stimmabgabe dafür. |
Wie wäre eine
allfällige Regierung Temer?
Im Kongress stehen derzeit mehrere Vorlagen an, die die
arbeitende Klasse schädigen. Mit einem Impeachment-Sieg würden diese Projekte
beschleunigt umgesetzt. Kürzlich berichtete das Blatt Valor Económico über
einen Unternehmer, der es absurd findet, dass ArbeiterInnen in Brasilien 30
Tage Ferien haben. Ihm zufolge sollte es Brasilien wie China handhaben, mit nur
13 Tagen Ferien, oder wie die USA, wo Ferien je nach Unternehmen geregelt sind.
Sie wollen die in der Arbeitsgesetzgebung verankerten Rechte abschaffen.
Welche anderen
Vorschläge Temers wären negativ für die ArbeiterInnen?
Heute ist die Regierung gesetzlich verpflichtet, 13 Prozent
ihrer Einnahmen für Gesundheit und elf Prozent für Erziehung auszugeben. Sie
wollen den obligatorischen Charakter dieser Sätze abschaffen, also nur noch dafür
ausgeben, wie es der Regierung gerade gut scheint. Und warum? Weil sie
Gesundheit und Erziehung privatisieren wollen. Das Geld ginge woanders hin. Das ist keine
Hypothese, sondern steht genau so im Regierungsprogramm des PMDB.
Wie würde die
Gesellschaft auf solche Veränderungen reagieren?
Der Klassenkampf, die Mobilisierungen, die Streiks und
Zusammenstösse werden zweifellos zunehmen. Denn die organisierten Sektoren der
arbeitenden Klasse würden den Verlust ihrer Rechte nicht friedlich hinnehmen.
Deshalb ist es wahrscheinlich, dass eine Regierung Temer nur kurz existieren
würde. Wird er Präsident, kommt es sehr wahrscheinlich zu Demonstrationen gegen
ihn, selbst von Seiten der Yuppies[2]. Denn
ihre Linie ist gegen die Korruption. Und [Temers Partei] PMDB ist die
korrupteste im Land. Wie immer das Impeachment-Verfahren ausgeht, wird das
Thema der politischen Reform wieder zentral werden. Die Volksbewegungen setzen
sich für die Einberufung einer Verfassungsgebenden Versammlung ein.
Und was wäre die
Perspektive für das MST und den Kampf auf dem Land?
Für den Klassenkampf auf dem Land
wäre ein Regierung Temer die schlechteste aller Welten. Nicht, dass sie den Mut
hätte, die Repression zu organisieren – die Repression gegen die
Volksbewegungen auf dem Land ist Sache der Polícia Militar, die den Regierungen
der Gliedstaaten untersteht[3]. Aber
die Konsolidierung einer putschistischen Rechtsregierung würde die
konservativen Kräfte stärken, die in den Gliedstaaten agieren. Das wollen sie, aber
das muss nicht notwendigerweise eintreten. Das hängt davon ab, ob sich die Unterklassenbewegungen organisieren und die
Repression verunmöglichen. Mit anderen Worten, so oder so wird es Kämpfe geben.
·
Brasildefato.com. 18.4.16: “Até
coxinhas farão ato contra Temer”, diz Stedile.
[1]
Vor dem Obersten Gericht hat die Rechte ein Absetzungsverfahren angestrengt, da
es bei der letzten Präsidentschaftswahl zu unkorrekten Spenden für das jetzige
Regierungslager gekommen sei. Die Rechte um die Hardliner-Partei PSDB hat im Kongress mehrmals eineVerbot geheimer Unternehmensspenden
für Parteien verhindert.
[2]
Coxinhas, brasilianischer Begriff für eher reiche, auf ihr Äusseres bedachte
Menschen mit Hang zum Bourgeois.
[3]
Die PM ist heute keine Militärpolizei, sondern das Korps für Ruhe und Ordnung.
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Der Putsch der
Korrupten*
Rodrigo Vianna
Die
Mehrheit der [die Absetzung von Dilma] befürwortenden Abgeordneten widmeten ihr „Ja“ ihren Familien oder
Gott.
Nachdem ich der Putschsession in Brasilia beigewohnt habe,
weiss ich, warum die TFP (Tradition, Familie, Eigentum – eine alte ultrarechte
katholische Institution, die 1964 die Militärdiktatur begrüsste) verfällt.
Die TFP braucht es nicht mehr. Die Rede von der „Familie
über alles“ hat das Rennen gewonnen.
„Für meine Familie,
für meine Kinder, für meine Frau“, schrie ein Abgeordneter aus Goiás.
„Ich stimme im Namen
des Volk Gottes“, sagte eine junge Anwärterin auf den Heiligenstatus.
Bolsonaro inszenierte die absurdeste Show, als er bei seiner
Stimmabgabe an den Putsch von 1964 erinnerte: „Sie haben 1964 verloren, sie verlieren erneut 2016“. Danach pries
er das Gedenken an den Folterer Brilhante Ustra[1].
Alles begleitet von zynischen Lachern und Applaus.
Die extreme Rechte, der vier Mal geschlagene PSDB, der PMDB
des Verräters Temer und der untere Klerus, der Lava-Jato[2]
fürchtet: Sie haben sich alle zum parlamentarischen Putsch zusammengeschlossen.
Zum Putsch der Korrupten.
· aus O golpe dos corruptos leva Brasil à beira do caos
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Oppositionelle
Schlüsselfigur in Washington*
Glenn Greenwald, Andrew Fishman, David Miranda
Nunes war 2014 Vizepräsidentschaftskandidat des PSDB. Er
wird eine der entscheidenden Pro-Impeachment-Figuren im Senat sein. Als
Präsident des Komitees für internationale Beziehungen des brasilianischen
Senats hat er sich wiederholt für eine Allianz mit den USA und dem UK ausgesprochen. Und – sozusagen selbstverständlich – gibt es schwere
Korruptionsanschuldigungen gegen ihn.
·
Aus theintercept.com, 18.4.16: After
Vote to Remove Brazil’s President, Key Opposition Figure Holds Meetings in
Washington
[1] Oberst,
verantwortlich auch für die Folter von Dilma Rousseff.
[2] Korruptionsuntersuchungen rund um
die Erdölfirma Petrobras.