Lautaro Rivara*
11. Oktober 2019 |
Seit geraumer Zeit ist die kritische Situation in Haiti reif
für einen Wandel. Aber die Reife beginnt zu faulen. Die Krise scheint kein Ende
zu haben, und die wirtschaftliche, politische und soziale Situation scheint
selbst für diese gewöhnlich von Unruhen erschütterte karibische Nation von
einer beispiellosen Schwere zu sein. Vier Wochen schon sind seit Beginn des
letzten Zyklus intensiver gesellschaftlicher Konflikte vergangen, sechs Wochen
seit Beginn der Energiekrise und mehr als anderthalb Jahre seit Beginn der allgemeinen
politischen und sozialen Instabilität.
Drei Tendenzen ergeben sich aus der aktuellen Lage: die
zunehmend unwahrscheinlichere Möglichkeit einer konservativen Stabilisierung
mit gleichbleibendem Präsidenten oder einem kontrollierten Wechsel der Figuren;
der Beginn einer politischen Transition des Bruchs, der die Auseinandersetzung zwischen
den verschiedenen Sektoren, Klassen und Interessen innerhalb einer
widersprüchlichen Opposition öffentlich macht; oder der fatale Beginn eines
Bürgerkriegs, in welchen das Niveau der sozialen Gewalt und der polizeilichen
und parapolizeilichen Repression langsam münden.
Die Unmöglichkeit
einer Stabilisierung
Hinter den Versuchen einer konservativen Stabilisierung
stehen zwei grosse Promotoren. Einerseits Präsident Jovenel Moïse und sein
Mentor, der Ex-Präsident Michel Martelly. Mit dabei auch Parlamentspräsident
Murat Canave, der sich für einen Dialog im Land aussprach, kurz bevor die
Regierung eine weitere, umgehend rundherum abgelehnte weitere Kommission für
den Dialog bekanntgab. Sämtliche ihre Mitglieder wären Teil der jetzigen oder
der Vorgängerregierung gewesen.
Auf der anderen Seite antwortete die in der sog. Alternative Consensuelle organisierte
konservative Opposition rasch mit einer parallelen Bewegung, der sog. Commission de facilitation et de passation
du pouvoir (Kommission für die Erleichterung und Übergabe der Macht). Diese
versichert, nur die Bedingungen für einen «raschen und geordneten» Rücktritt
des aktuellen Präsidenten Jovenel Moïse und seine Ersetzung mit einem Richter
des Kassationshofs zu verhandeln. Eine andere Figur, der mehr Macht zugetraut
wird als dem Richter, wäre ein Premierminister aus den Reihen des Sécteur Démocratique et Populaire, der stärksten
und dynamischsten Kraft innerhalb der erwähnten Alternative Consensuelle. Diese Lösung würde einen reinen
Präsidentenaustausch implizieren und die wichtigsten Elemente der
Austeritätspolitik, die das Land an den Rand des Abgrunds geführt hat, intakt
lassen. Hinter dieser Strategie stehen schon einflussreiche Länder wie
Frankreich und Kanada, die im Forum
Économqiue du Sécteur Privé zusammengeschlossenen Handelskammern und
diverse Familien der traditionellen Oligarchie, für die Réginald Boulos steht,
der wichtige Supermarktketten und Autokonzessionen besitzt.
Politische Transition
des Bruchs
Aber alles deutet daraufhin, dass die tiefen Gründe für die
das Land erschütternden Proteste den alleinigen Bezug auf den Rücktritt des
Präsidenten transzendieren und andere Forderungen mitbeinhalten. Das nach dem
Sturz der Duvalier-Diktatur errichtete politische System mit seinen während
Jahren praktisch ununterbrochener, vom IWF und dem State Department diktierten
neoliberalen Politik, ist ein Auslaufmodell. Die letzten Mobilisierungen waren
in zehn Departementen des Landes klar antiimperialistisch ausgerichtet. Die
Mobilisierungen richteten sich gegen die internationale Einmischung. Denn die
in der Core Group zusammengefassten Länder[1]
hatten gerade ihre Unterstützung für Moïse Jovenel unterstrichen. Deswegen
gingen verschiedene Demos direkt vor den Sitz der UNO-Justiz-Mission in Haiti
(MINUJUSTH) und die US-Botschaft.
Der andere grosse während der Krise gegründete oppositionelle
Zusammenschluss, das Forum Patriotique,
schlägt das vor, was seine Kader eine «Transition des Bruchs» nennen. Diese
Struktur tagte Ende August im ländlichen Papaye und schuf einen Ausschuss, das Comité du Suivi National, um die
wichtigsten gefassten Beschlüsse umzusetzen. Der Ökonom Camille Chambers,
Exponent des Forums, betonte in diesem Zusammenhang die Schaffung von
Departmentskomitees, um die Mobilisierungen zu zentralisieren und zu
potenzieren. Er schlug auch die Schaffung eines Triumvirats statt eines
Präsidenten für die Übergangsregierung und eines aus VertreterInnen der
Departemente gebildeten Kontrollorgans vor. «So
haben wir», sagte Chalmers, «die
Garantie einer von den nationalen AkteurInnen kontrollierten Transition und den
Beginn eines tiefgreifenden Wandels des politischen und ökonomischen Systems.»
Das Forum vertritt mehr als 60 Organisationen, darunter soziale Bewegungen auf
dem Land und in der Stadt, Linksparteien, Gewerkschaften, Jugend- und
Frauenorganisationen, demokratische und fortschrittliche Vereinigungen etc.
Polizeirepression und
Krieg niederer Intensität
Die Ereignisse in Haiti beginnen, einem Bürgerkrieg
niedriger Intensität zu gleichen, in dem allerdings nicht eine Armee einer
anderen gegenübersteht, sondern eine Regierung samt Staatsmaschinerie einer
übergrossen Mehrheit der Bevölkerung. Gestern wurde ein weiterer Journalist
ermordet. Seine Leiche, gefunden im Kofferraum seines Wagens im Ort Bayas, wies
zwei Kopfschüsse auf. Es handelt sich um Nehémié Joseph von Radio Panik FM und
Korrespondent von Radio Méga im Landeszentrum. Joseph hatte zuvor von
Mitgliedern der Regierungspartei Drohungen erhalten. Seine Analysen und schneidenden
Korrespondentenberichten hatten die Behörden verärgert. Es war auch zu
Protesten gekommen, um seine Ernennung in der Regionalvertretung der
Rentenbehörde ONA zu verhindern.
Nehémié Joseph |
Dem Réseau National de
Défense des Droits Humains zufolge sind in diesem Jahr bisher 77 Menschen
im Zusammenhang mit den Protesten ermordet worden, in ihrer Mehrheit durch die
Polizei oder irreguläre Gruppen. Während des Verfassens dieses Artikels ist ein
anderer junger Mann in Saint Marc im Departement Artibonite von der Polizei
ermordet worden. Es gibt sogar Warnungen, dass erneut US-Söldner ins Land
eingeschleust werden, um eine selektive Repression in den engagiertesten
Gemeinschaften und Quartieren auszuüben. Es ist zwar schwer, diese These zu
verifizieren, aber es ist festzuhalten, dass genau das letzten Februar
geschehen war, als eine Gruppe von ehemaligen US-Soldaten mit hochkalibrigen
Waffen und Spitzenmilitärtechnologie in Haiti verhaftet wurde.[2]
Gestern haben kriminelle Gruppen auch einen Wagen angegriffen
und einen Bus, der nach Jérémie, der Departementshauptstadt von Grand-Anse,
unterwegs war, in ihre Gewalt gebracht. Es kam dabei zu vier Verletzten. Wie
schon im Oktober und November letzten Jahres, in Zeiuten intensivierter Mobilisierungen,
wird die direkt mit der politischen Macht verbundene organisierte Kriminalität
dazu angespornt, in der Bevölkerung Terror zu verbreiten und die Proteste zu
erschweren. Trotz der zunehmenden Repression nehmen nur wenige internationale
Menschenrechtsorganisationen Stellung zur Krise. Die nationalen AkteurInnen
befürchten ihrerseits, dass die entfesselte Gewalt weitere internationale, die
nationale Souveränität verletzende Interventionen legitimieren soll.
·
https://twitter.com/lautarorivara.
11.10.19 : Haití al borde de la guerra civil. Der Autor ist Soziologe und Mitglied der Solidaritätsbrigade Dessalines
der Via Campesina Brasilien.
[1]
A. d. Ü.: USA, Frankreich, Kanada, Brasilien, Deutschland, Spanien und die UNO.
[2]
A. d. Ü.: Siehe dazu U.S.
Mercenaries Arrested in Haiti Were Part of a Half-Baked Scheme to Move $80
Million for Embattled President, The Intercept, 20.3.19.