Die lateinamerikanischen Wikileaks-Dateien

Samstag, 24. Oktober 2015


21.10.2015 Lateinamerika / USA / Politik

Die Depeschen zeigen, wie die USA die Welt sehen und darauf reagieren, was sie als Herausforderungen ihrer Interessen verstehen
Im April 2009 amtierende linksgerichtete Präsidenten: Evo Morales (Bolivien), Manuel Zelaya (Honduras, zwei Monate nach diesem Foto aus dem Amt geputscht), Daniel Ortega (Nicaragua), Hugo Chávez (Venezuela), Rafael Correa (Ecuador)
Im April 2009 amtierende linksgerichtete Präsidenten: Evo Morales (Bolivien), Manuel Zelaya (Honduras, zwei Monate nach diesem Foto aus dem Amt geputscht), Daniel Ortega (Nicaragua), Hugo Chávez (Venezuela), Rafael Correa (Ecuador)
In diesem Frühsommer sah die Welt, wie Griechenland einen heroischen Kampf gegen ein verheerendes neoliberales Diktat führte. Dann erlebte man, wie das griechische Volk von den Finanzinstitutionen der Eurozone mit sadistischem Eifer auf schmerzhafte Weise öffentlich schlecht gemacht wurde.
Als die griechische Linksregierung beschloss, ein nationales Referendum über die Eurozone und das vom IWF auferlegte Sparprogramm abzuhalten, begrenzte die Europäische Zentralbank als Vergeltung die Liquidität der griechischen Banken. Dies löste eine lang anhaltende Bankenschließung aus und stürzte Griechenland tiefer in die Rezession. Obwohl die griechischen Wähler schließlich die Austeritätspolitik massiv ablehnten, waren Deutschland und das europäische Gläubigerkartell dazu in der Lage, die Demokratie zu unterlaufen und fürs Erste genau das zu bekommen, was sie wollten: die vollständige Unterwerfung unter ihre neoliberale Agenda.
In den vergangenen eineinhalb Jahrzehnten wurde außerhalb der öffentlichen Aufmerksamkeit ein ähnlicher Kampf über einen ganzen Kontinent hinweg ausgetragen. Obwohl Washington anfänglich versuchte, jede Abweichung - häufig unter Anwendung von heftigeren Taktiken als sie gegen Griechenland angewendet wurden - zu vernichten, war der lateinamerikanische Widerstand gegen die neoliberale Agenda weitgehend erfolgreich. Dabei handelt es sich um eine epische Geschichte, die dank der fortgesetzten Untersuchung der massigen Enthüllungen von US-Mitteilungen durch Wikileaks öffentlich wurde.
weiterlesen: https://amerika21.de/analyse/133364/lateinamerikawikileaks

El Salvador/Washington: Gestohlene Archive

Freitag, 23. Oktober 2015

(zas, 23.10.15)

Das Center für Human Rights der University of Washington verzeichnete einen Einbruch besonderer Güte. Er steht mutmasslich im Zusammenhang mit einer Freedom of Information-Klage vom letzten 2. Oktober gegen die CIA. Diese soll so gezwungen werden, zurückbehaltenes Material über Sigifredo Ochoa Pérez herauszurücken. Ochoa Pérez ist ein für seine Massakerstrategie im Krieg der 80er Jahre berüchtigter Oberst a. D. der salvadorianischen Armee; er war bis letzten April ein rechter Parlamentsabgeordneter. Gegen ihn sind auch in El Salvador Verfahren hängig, die allerdings nicht vom Fleck kommen.

„Irgendwann zwischen dem 15. und dem 18. Oktober brachen Unbekannte in das Büro von Dr. Angelina Godoy, Direktorin des University of Washington Center for Human Rights ein. Ihr Computer und ein Harddrive mit ca. 90 % unserer Forschungsdaten zu El Salvador wurden gestohlen. Wir haben zwar Backups, aber was uns am meisten besorgt, ist nicht, was wir verloren haben, aber was jemand anders eventuell gewonnen hat: Die Files enthalten vertrauliche Details von persönlichen Aussagen und laufenden Untersuchungen“ (Hervorhebung im Original).  

Modalitäten des Einbruchs nähren den Verdacht,  so das Menschenrechtszentrum, es habe sich nicht um einen gewöhnlichen Einbruch gehandelt:

„Erstens gab es kein Anzeichen für einen gewaltsamen Zugang. Das Büro wurde durchsucht, aber die in ihm befindlichen Gegenstände wurden sorgfältig behandelt, und die Türe wurde beim Verlassen abgeschlossen – Merkmale, die nicht ins Muster eines gewöhnlichen Campus-Diebstahls passen. Nur das Büro von Prof. Godoy war betroffen, obwohl mitten in einem Gang mit Büros gelegen, die alle voller Computer sind. Die Festplatte hat keinen realen Wiederverkaufswert, so dass es keinen anderen Grund zu geben scheint, sie mitzunehmen, als die Absicht, daraus Informationen zu erlangen. Schliesslich weckt das Datum dieses Vorfalls – im Gefolge der jüngsten Publizität zu unserer Freedom of Information-Klage … - einen Verdacht bzgl. der potenziellen Motive.“

Das Center fährt weiter:

 „Wir haben KollegInnen in El Salvador kontaktiert, von denen viele Parallelen zwischen diesem Vorfall und Angriffen auf salvadorianische Menschenrechtsorganisationen in den letzten Jahren betont haben. Wir können die Möglichkeit eines normalen Delikts nicht ausschliessen, aber wir sind sehr besorgt, dass diese Verletzung der Informationssicherheit die Verletzbarkeit salvadorianischer MenschenrechtsverteidigerInnen, mit denen wir zusammenarbeiten, erhöht“ (Hervorhebung im Original).
Ochoa-Docs. Quelle: Center for Human Rights, University of Washington


Die Parallelen des Einbruchs in Washington mit Vorfällen in El Salvador beziehen sich u. a. auf einen Überfall eines bewaffneten Kommandos am 14. November 2013 auf das Büro der Organisation Pro-Búsqueda in San Salvador und auf eine Beschlagnahmungsaktion der Generalstaatsanwaltschaft in der erzbischöflichen Menschenrechtsorganisation Tutela Legal am 18. Oktober 2013.
Tutela war eine vom später ermordeten Erzbischof Romero initiierte Organisation, die sich seit ihrer Gründung um die Aufklärung von Massakern und den Schutz von Überlebenden einen grossen Namen gemacht hat. Der jetzt für seine Wiederwahl antretende Generalstaatsanwalt Luis Martínez von der rechten ARENA-Partei hatte die Beschlagnahmung der historischen Archive und Zeugenprotokolle angeblich zwecks Durchführung  einer Strafuntersuchung wegen des berüchtigten Massakers von El Mozote und wegen Opferschutz angeordnet. Etwa 1000 Menschen, darunter viele Kinder, wurden vom 10. bis 12. Dezember 1981 vor allem von dem frisch von der Ausbildung an der US-Kriegsschule School of the Americas (SOA, auch School of the Assassins genannt) zurückgekehrten Elitebataillon Atlacatl umgebracht. Der konservative Erzbischof Escobar Alas unterstützte die Aktion der Generalstaatsanwaltschaft, kündigte dem bisherigen Personal und stellte die bis anhin relativ autonom operierende Tutela unter seine direkte Kontrolle. Von Tutela ist seither kein Mucks mehr zu hören. Überlebende der Massaker kritisierten die Generalstaatsanwaltschaft und die Kirchenführung scharf. Die Verfassungskammer des Obersten Gerichts deckte Alas gegen eine Klage der geschassten Tutela-MitarbeiterInnen. „Natürlich“ kommt Generalstaatsanwalt Martínez auch bei seiner Mozote-Untersuchung nicht vom Fleck.
Pro-Búsqueda war eine nach dem Kriegsende 1992 vom Jesuienpriester t Jon Cortina gegründete Organisation, die es sich zum Ziel gesetzt hat, während des Kriegs von der Armee entführte Kinder von Verschwundenen und Massakrierten bei Adoptionsfamilien vorallem im Ausland wiederzufinden und eine Familienzusammenführung, falls gewünscht, zu ermöglichen. Von über 1000 Fällen hat Pro-Búsqueda bisher ungefähr 400 aufgeklärt und 250 Zusammenführungen organisieren können. Beim über 40 Minuten dauernden Angriff wurden nach Aussagen der drei während des Überfalls Arbeitenden gezielt die Unterlagen für mehrere vor nationalen und internationalen Gerichten laufende Verfahren gegen Armeeangehörige zerstört und schliesslich das Lokal mit den drei Gefesselten in Brand gesteckt. Die drei konnten sich retten. Pro-Búsqueda führte auch gegen Ochoa Pérez, auch er ein Absolvent der  School of the Assassins, eine Untersuchung. 

Die Tochter wieder in El Salvador. Quelle: Pro-Búsqueda

TPP: Neue Wikileaks-Informationen

Dienstag, 20. Oktober 2015



(zas, 20.10.15) Am vergangenen 9. Oktober veröffentlichte Wikileaks das geheime Kapitel über intellektuelles Eigentum des gerade beschlossenen TPP-Freihandelsabkommen von 12 pazifischen Anrainerstaaten unter Leitung der USA (s. TPP: Die pazifische  Offensive der USA), „mit seinen weitereichenden Auswirkungen auf Internetservices, Medikamente, PublizistInnen, bürgerliche Freiheiten und Patente auf Lebewesen“, wie die Oeganisation  in ihrem Begleitcommuniqué schreibt.  Darin zitiert sie auch Peter Maybarduk von Public Citizen’s Global Access to Medicines: „Falls TPP ratifiziert wird, werden die Leute in den Pazifikanrainerstaaten nach den Gesetzen dieses geleakten Textes leben müssen. Die neuen Monopolrechte für die grossen Pharmaunternehmen würden den Zugang zu Medikamenten in den TPP-Ländern kompromittieren. TPP würde Leben kosten.“
Wikileaks schreibt weiter: „Hunderte von VertreterInnen grosser Konzerne hatten direkten Zugang zu den Verhandlungen, während gewählte Offizielle limitierten oder gar keinen Zugang hatten.“ Wo wir schon bei der entwickelten Demokratie sind: In den USA etwa darf der Kongress nur „Ja“ oder „Nein“ zum Gesamttext sagen, nicht etwa einzelne Punkte diskutieren und verändern. Denn besagter Kongress hatte letzten Juni mit knapper Mehrheit auf Anforderung des Weissen Hauses diese Modalität (fast track) beschlossen. Sonst könnten womöglich  populistische Allüren aufkommen. Im TPP-Land Chile rückt die Regierung von Michelle Bachelet den Abkommenstext immer noch nicht raus, weiss dafür aber ein Loblied auf grosse chilenische Erfolge im Kapitel über intellektuelles Eigentum anzustimmen. Ganz Her Masters Voice.

Ankara: „Humanismus“ und Massaker

Samstag, 10. Oktober 2015



(zas, 10.10.15) Der fürchterliche Anschlag heute in Ankara hat System. Wieder trifft es kurdische Militante, linke türkische AktivistInnen, die Bewegungen gegen das Massaker. Heute sagte die kurdische KCK (Leitungsorgan der kurdischen Bewegung): „Aussagen, dass diese Massaker vom IS oder anderen Organisationen ausgeführt werden, würden die Geisteshaltung der [türkischen Regierungspartei] AKP ignorieren, ihre Politik und Praxis, und würden die Wahrheit verzerren. Die Tatsache, dass diese Massaker sich gegen die gleichen gesellschaftlichen Kräfte richten, die auch die AKP ins Visier nimmt, zeigt, wer dahinter steht.“  Die KCK betont auch den Zusammenhang, dass dieser Anschlag am Tag erfolgt, an dem sie eine Art einseitigen Waffenstillstand angekündigt hat, um so normale Wahlen zu ermöglichen. KCK sagt weiter: „Die AKP hat zu diesem Massaker Zuflucht genommen, da sie annimmt, dass sie die Wahlen, falls sie unter normalen Bedingungen stattfinden, verlieren wird. Die Beziehungen zwischen diesen Massakern und den Wahlen verweisen auch auf die Täter, zweifellos niemand anders als Erdogan und seine Konterguerilla, das Gladio-Team des Palasts.“

Der Hinweis auf Gladio (NATO-weite „Schattenarmee“) erfolgt nicht zufällig. Denn die kurdische Bewegung weiss, dass der vom Erdogan-Regime vom Zaun gerissene neue Krieg in der Türkei nur mit Einverständnis der NATO möglich ist. Daran ändern die US-/EU-Avancen an die YPG/YPJ-Guerilla in Rojava nichts. Wie eng die reale Beziehung ist, zeigen Angela Merkel, die „Kanzlerin der Herzen“, wie die „FAZ“ sich nicht zu blöd ist zu titeln, und die EU-Kommission. Die Türkei soll als „sicheres Herkunftsland“ eingestuft werden, um Flüchtlinge dorthin zurück zu zwingen. Sagte wer Menschenrechte? Aber sicher, sind wir dafür, beteuert eine dieser Standardfiguren, die im Medienmainstream herumschwimmen. Denn so würden die Flüchtlinge in der Türkei dank deutschem und EU-Wirken ein besseres Leben erhalten.  Das lässt sich die EU, wie einem Spiegel-Bericht über ein Treffen von Juncker (EU-Kommissionschef) und Erdogan zu entnehmen ist, eine zusätzliche Milliarde Euros für das AKP-Regime kosten.
An diesem Treffen hatte auch EU-Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD) teilgenommen. Der Mann war kürzlich in der Schweiz, bei Simonetta Sommaruga, deren Asyl-„Reform“ (beschleunigte Deportation eines Grossteils der AslyantragstellerInnen) er über den grünen Klee lobte. Diese Politik propagieren nun Merkel und Brüssel.
Das „sichere Herkunftsland“, in dem die Armee die BewohnerInnen von Quartieren unter Belagerungszustand umbringt und in dem Polizisten die an ihren Wagen angeseilte Leiche eines erschossenen Kurden triumphierend durch die Strasse schleifen, ist nach diesem Massaker vorübergehend etwas schwer zu verkaufen. 

Die Leiche von Haci Birlik (links) am Polizeiwagen. Quelle: http://anfenglish.com
Vielleicht hilft das heute Vormittag vo Premier Davutoğlu verhängte Verbot von Liveberichterstattung im TV über das Massaker in dieser Sache. Besser das erstickende Schweigen der offiziellen Staatstrauer als eine Berichterstattung zu dem, was der Ko-Vorsitzende der linken HDP-Partei Demirtaş heute gesagt hat, als er die Leute aufforderte, zum Platz des Massakers zu gehen  „Dort liegen die Leichname der Opfer noch am Boden, es wird versucht, die Verletzten in Krankenhäuser zu transportieren. Und mitten in dieser Atmosphäre beschießt die Polizei die Menschenmenge mit Gasgranaten, die Krankenwagen werden nicht zum Tatort vorgelassen. Mitten in Ankara findet ein Massaker statt, aber zum Ort des Geschehens werden keine Krankenwagen vorgelassen, sondern Polizeikräfte. Anscheinend soll dort bewusst die Zahl der Todesopfer in die Höhe getrieben werden.“

Es kommt zusammen, was zusammen gehört. Der NATO-Krieg gegen die kurdische Bewegung in der Türkei; der Massenmord im Mittelmeer; der europäische „Humanismus“ à la Sommaruga, Merkel, Schulz; die Massaker des „tiefen Staats“.
SOLIDARITÄT TUT NOT!

Erbauliches




(zas, 10.10.15) Er ist  Direktor des Soziologischen Instituts der Universität Neuenburg, sie Senior Researcher am Kompetenzzentrum für die Sozialwissenschaften Fors in Lausanne. In ruhigen Worten schildern Christian Suter und Ursina Kuhn in der NZZ vom 7. Oktober 2015 (Konstante Ungleichheit seit 1990, online) die Ergebnisse ihrer wissenschaftlichen Nationalfondsstudie. Angenehm hebt sich ihr Beitrag vom ausserhalb der NZZ üblichen Marktgeschrei zum Thema ab. Nichts da, vermitteln sie sachlich, von zunehmender Ungleichheit in diesem Land. Sie haben „acht schweizerische Einkommenserhebungen und -statistiken verglichen und die wichtigsten Ungleichheitsmasse berechnet (Schweizer Haushalt-Panel, Haushaltsbudgeterhebung, SILC-Haushaltserhebung, Schweizerische Arbeitskräfteerhebung (Sake), Lohnstrukturerhebung, Gesundheitserhebung, Steuerdaten des Bundes, Nationale Armutsstudie).“ Sie haben „das Ausmass der Ungleichheit für die beiden am häufigsten verwendeten Einkommensmasse: das individuelle Erwerbseinkommen (Löhne, Bonusse usw.) und das verfügbare Haushaltseinkommen (das Transfer- und Kapitaleinkommen mit einbezieht, sogenannte Zwangsausgaben wie Steuern und Sozialversicherungsbeiträge abzieht sowie die Haushaltsgrösse berücksichtigt).“
Ihr Ergebnis: „Die Ungleichheit des verfügbaren Haushaltseinkommens ist im Jahre 2012 etwa gleich hoch wie zu Beginn der 1990er Jahre.“  Für diesen Befund spielen Börsenverluste während einer Krise eine ausgleichende Rolle, progressive Steuern, Sozialleistungen, die, lernen wir erleichtert, bei manchen Untersuchungen nicht angemessen berücksichtigt werden.Der Punkt mit dem ausgleichenden Sozialstaat muss sitzen, weshalb er mehrfach vermittelt wird.
Doch haben die beiden Objektiven herausgefunden, dass die Lohnschere stärker schneidet als früher.  Wie kommt das mit einer nicht grösseren Ungleichheit zusammen? Ei so: „Neben der erwähnten ausgleichenden Wirkung von Steuern und staatlichen Transferleistungen reduzierte auch die Zunahme der Erwerbstätigkeit der Frauen die Einkommensungleichheit auf Haushaltsebene.“ 
Das erfahren wir so nebenbei am Schluss. Kein Wachstum der Ungleichheit dank Subsumtion unter "Haushalt".Wo früher einer schuftete, schuften nun zwei fürs gleiche Einkommen.  „Sie“ war ja im Haushalt schon immer subsumiert. Dass „sie“ jetzt mehr Lebensarbeit hat, dass von der unbezahlten Reproduktionsarbeit Abhängige jetzt die „Ungleichheitsstabilität“ vermehrt mit Zukurzkommen mit garantieren müssen, das soll das Fest verderben? Da behüte uns die Wissenschaft! 

"Land, Volk und Politik". Quelle: Avenir Suisse.