Neue Vorwürfe gegen Kolumbiens Ex-Präsident und seine Familie wegen Paramilitarismus

Montag, 31. Oktober 2016

amerika21.de
31.10.2016 Kolumbien / Politik

Santiago Uribe steht vor Gericht
Santiago Uribe steht vor Gericht
Bogotá. Der paramilitärischen Gruppe "Die 12 Apostel", die von Santiago Uribe, dem Bruder des ehemaligen Präsidenten Álvaro Uribe, gegründet wurde, werden in der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft mehr als 533 Morde vorgeworfen. Santiago Uribe wurde vergangene Woche nach mehreren Monaten in Untersuchungshaft vor Gericht zu seiner Rolle bei der Bildung der paramilitärischen Gruppe in den 1990er Jahren befragt.
In diesem Verfahren wurde bekannt, dass die Finca Álvaro Uribes, "La Carolina" in Yarumal, von den "12 Aposteln" als "Vernichtungslager" genutzt wurde. Während die Gruppe ursprünglich für die Durchführung von "sozialen Säuberungen" in der Region in Antioquia unter Beteiligung von Geschäftsleuten und Großgrundbesitzern gegründet wurde, erhärtet sich nun laut Staatsanwaltschaft der Verdacht, dass sie neben "unerwünschten" Subjekten und angeblichen Guerilleros auch willkürlich Frauen, Bauern und Polizisten ermordet habe.
Die Mehrheit der Zeugen für die Beteiligung von Uribe am Exekutionskommando ist ermordet worden, als der Fall erstmals im Jahr 1997 vor Gericht kam. In der jetzigen Verhandlung sagen vor allem zwei wichtige Zeugen gegen ihn aus: der ehemalige Polizeikommandant aus dem Bezirk Yarumal, Juan Carlos Meneses, und Eunicio Alfonso Pineda, ein Landarbeiter von der Nachbarfinca Uribes, die dem Mitgründers der "12 Apostel" Alvaro Vasquez gehört. Pineda sagte aus, er sei Zeuge mehrerer Morde geworden. So sei er unter anderem gezwungen worden, dem Mord an einem in Ungnade gefallenen Mitglied der Paramilitärgruppe beizuwohnen. Meneses zufolge sei die Finca "La Carolina" das Kommandozentrum der Paramilitärs gewesen. Dort seien Kleinkriminelle, Drogenabhängige und angebliche Sympathisanten der Guerilla gefoltert und hingerichtet worden. Pineda und Meneses waren beide aus Angst vor der Gruppe um Santiago Uribe aus Kolumbien geflohen und werden als Kronzeugen im aktuellen Gerichtsverfahren gehandelt.
Die Staatsanwaltschaft beschuldigt auch den Polizeikommandeur, den Bürgermeister und den Gemeindepfarrer von Yarumal der Beteiligung an den paramilitärischen Aktivitäten. Laut Zeugen seien einige Polizisten der lokalen Polizeistelle Mitglieder der Gruppe gewesen.
Die Familie Uribe ist in verschiedene Skandale verwickelt, die Verbindungen zu paramilitärischen Gruppen einschließen. Mario Uribe, Cousin des Ex-Präsidenten, wurde zu über sieben Jahren Gefängnis verurteilt, weil er mit paramilitärischen Organisationen die Wähler während seiner Kandidatur zum Senator bedrohte und einschüchterte. Auch dem ehemaligen Präsidenten Álvaro Uribe selbst wird vorgeworfen, an der Gründung weiterer paramilitärischer Gruppen beteiligt gewesen zu sein. Zudem wird er der Mitverantwortung an einem Massaker im Jahr 1997 beschuldigt, als er Gouverneur von Antioquia war.

 

Honduras oder der Zynismus des State Departments

Sonntag, 30. Oktober 2016



(zas, 31.10.16) Am 9. Oktober wurde der Wagen, in dem Tomás Gómez Membreño fuhr, beschossen. Am gleichen Tag schossen Schwerbewaffnete auf die Fenster und Türen des Hauses, in dem sich Alexander García Sorto aufhielt. Beide überlebten die Anschläge, beide sind Mitglieder der Lenca-Organisation COPINH. Deren frühere Anführerin, Berta Cáceres, wurde letzten März erschossen, andere Copinh-Militante ereilte dieses Schicksal seither. Gómez ist ihr Nachfolger von Berta Cáceres, García ein Führungsmitglied von Copinh. García wurde schon letzten Mai beim Verlassen seines Hauses unter Beschuss genommen. Niemand zweifelt daran, dass hinter den Anschlägen jene Kräfte stecken, die schon mehrere AktivistInnen des Copinh wegen deren Widerstand gegen die Zerstörung ihrer Lebensbedingungen zugunsten von Megaprojekten ermordet haben. Am 18. Oktober 2016 wurden José Angel Flores und Silmer Dionisio George, Präsident bzw. Mitglied der bäuerischen Organisation MUCA im Gebiet des unteren Laufs des Fluss Agúan in der Karibikzone, im Büro des MUCA von Vermummten erschossen.
"Die Wirkung der Staudämme misst sich nicht in Kilowatt, sondern in der Zahl der Toten."

Laut einer Untersuchung der US-Organisation Global Witness vom letzten Jahr war Honduras das gefährlichste Land der Welt für UmweltsaktivistInnen (gemeint meistens Mitglieder indigener Gemeinschaften) und MenschenrechtsverteidigerInnen (gemeint BewegungsaktivistInnen).
Als das COPINH am 20. Oktober in Tegucigalpa gegen die Verschleppung der Untersuchungen des Mords an Berta Cáceres demonstrieren wollte, gab es Gummigeschosse und Tränengas. Alle Welt weiss, dass Gladys Aurora López, Vizepräsidentin des Parlaments und Präsidentin der Nationalen Partei des Staatspräsidenten Juan Orlando Hernández, bekannt unter dem Kürzel JOH, eine Drahtzieherin im Business der Megaprojekte an den Flüssen der Copinh-Comunidades ist. Sie gilt als direkt für die Morde mitverantwortlich. Ihr Name taucht jedoch in den offiziellen Statements zu diesen Vorfällen nie auf.
Bullendemo gegen Copinh
JOH, der Präsident, hat sich mittlerweile alle staatlichen Gewalten und Instanzen untertan gemacht. El Señor Presidente hatte den Wunsch geäussert, für eine nächste Amtszeit anzutreten, die Verfassungskammer des Obersten Gerichts erklärte dies im April 2015 für verfassungskonform. Im August 2016 kam das Plenum des Obersten Gerichts zur Erkenntnis, dass damit der Fall abgeschlossen sei. Erinnert ihr euch noch an die Empörung“, als sie 2009 Mel Zelaya stürzten, mit Verweis darauf, dass er zur Frage der Wiederwahl am Tag des Wahl eines neuen Präsidenten eine Volksabstimmung über die grundsätzliche Zulässigkeit einer Wiederwahl abhalten wollte? Da war von „ehernen Artikeln“ in der Verfassung die Rede, die so etwas auf alle Zeiten ausschlossen. Hernández selber, das Oberste Gericht, alle mussten heroisch die Demokratie verteidigen und den Tyrannen stürzen. Was den „Experten“ in den hiesigen Medien runter ging wie warme Brötchen; es war kein Putsch, sondern Notwehr. (Schliesslich hat Hillary Clinton, damals US-Aussenministerin, den Staatstreich unterstützt, wie sie in ihrem Buch Hard Choices unverkrampft mitteilt.) Nota bene: Zelaya konnte auch bei einer Annahme der Idee nicht wieder Präsident werden, da am Referendumstag die Wahl seines Nachfolgers hätte stattfinden sollen.
Habt ihr den shit storm mitbekommen, den „unsere“ Medien jetzt folgerichtig gegen den tatsächlich diktatorialen JOH entfacht haben? Nicht? Tja, es gab und gibt keinen Mucks zum Thema. Das gleiche Gesocks, das 2009 höhnisch das Putschopfer angriff, schweigt heute. (Das brasilianische Repeat läuft schon.)

Die Luft wird knapp
Natürlich weiss JOH, dass seiner Macht Grenzen gesetzt sind. Er bleibt solange Präsident, wie er Washington gefällt. Ein Fehler – und er ist weg, wie vor ihm der guatemaltekische Ex-Präsident und Massenmörder Otto Pérez Molina. Der stürzte, nicht weil er korrupt war (was sonst?), sondern eher, weil er den US-„Drogenkrieg“ nicht stets weiter eskalieren mochte. Übersetzt: weil er den gringos nicht die ganze Macht im Land überlassen wollte. In Honduras hat die US-Botschaft letztes Jahr offen die Bewegung der Anitkorruptions-Indignados unterstützt, wohl mit der Einschätzung, dass diese Bewegung ebenso kontrollierbar sei wie es jene in Guatemala gewesen ist (bisher jedenfalls).
Letzten Juli – es war ein Höhepunkt der antiautoritären Studibewegung in Tegucigalpa – brachte CNN en español als inoffizielles Meinungs- und Interpretationsorgan des State Departments für Lateinamerika, sehr viele auffallend sympathisierende Nachrichten und Reportagen über die Bewegung. Ein Warnsignal, das die regierende Elite in Honduras unmöglich entgangen ist. Es steht vermutlich im Zusammenhang mit der Frage der Reorganisation der gesamten Sicherheitskräfte im Land. Etwas weit zum Fenster hinaus gelehnt haben dürfte sich Parlamentspräsident Mauricio Molina. Vor wenigen Tagen wies er eine Kritik der US-Botschaft an den ungenügenden Qualitäten der KandidatInnen für den Rechnungshof mit einem Satz zurück, der in Washington Stirnrunzeln provoziert haben wird: „Die US-Botschaft bestimmt hier im honduranischen Volk keine Gesetze“.

Drogenkriegspolitik
Die Zeichen an der Wand von JOH sind beachtlich: Im Rahmen einer US-Untersuchung gegen das drogendealende „atlantische Kartell“ in Honduras hat die US-Botschaft in Tegucigalpa am letzten 7. Oktober US-Justiz-Untersuchungen gegen mehrere hochrangige Honduraner bekanntgegeben. Später ventilierte InsightCrime, ein Unternehmen von Medienleuten, SicherheitsakademikerInnen und „Ex“-Geheimdienstleuten aus dem Dunstkreis des kontinentalen US-Sicherheitsapparats, Tony Hernández, Bruder des Präsidenten, sei ebenfalls in diesem Visier. JOH beteuerte am 24. Oktober unter explizitem Verweis auf seinen Bruder, „niemand steht über dem Gesetz“.  Tags darauf flog Tony Hernández nach Miami, wo er sich mit den US-Ermittlungsorganen traf. Er kehrte danach problemlos nach Honduras zurück.
Dass ein Bruder des Präsidenten, der auch Abgeordneter ist, von der US-Justiz mit dem Drogenhandel in Zusammenhang gebracht wird, zeigt, dass des Präsidenten Spielraum heute klein ist. Dass der Bruder  wieder ausfliegen durfte, legt vielleicht nahe, dass JOH noch keine rote US-Linie überschritten hat.

US-Menschenrechtssegen für das Mordregime
So sieht das offensichtlich das State Department. State-Sprecher Marc Toner bestätigte, dass das Aussenministerium am 30. September 2016 zertifiziert hatte, dass „Honduras wirksame Schritte hin zur Erfüllung der für die Mittelzuweisung im Finanzjahr 2016 festgelegten Kriterien unternimmt. Das heisst nicht, alles wäre gut und schön. Offensichtlich sind Korruption, Verbrechen, Straffreiheit reale Probleme. Aber wir haben eine Demonstration des politischen Willens der honduranischen Regierung gesehen, die in einigen der Sicherheits- und Entwicklungsherausforderungen des Landes Fortschritte gemacht hat. Deshalb wollen wir sehen, dass dieser Fortschritt weitergeht.“
Die alte Rechtfertigungsleier: Noch jedes Verbrechen eines Vasallenregimes belegt die Distanz zu den Zielen, die es unter gütigem US-Einfluss eigentlich erreichen will, und wofür es unterstützt werden muss. Und klar, in Honduras läuft der Ball rund für das US-Kapital und seine Streitkräfte. Böden, Gewässer, Wälder werden an die Multis privatisiert, die USA führen ihren „Drogenkrieg“, ein Fingerzeig der US-Botschaft hat Orakelrang. Die über Jahrzehnte errungenen Rechte der ArbeiterInnen werden immer mehr zu Makulatur und behindern so keine Wettbewerbsfähigkeit dank internationaler Investitionen. Die Widerstandsbewegung gegen den Putsch hat sich spalten lassen. Die Ermordeten, insbesondere Berta Cáceres, die in den USA über grossen Rückhalt verfügte, müssen, soweit nicht einfach verschweigbar, juristisch irgendwie behandelt werden –eine Knacknuss für das Hernández-Regime.
Eine andere sind die für November nächsten Jahres angesagten Wahlen. Die progressive Partei Libre, ursprünglich entstanden aus der Widerstandsfront gegen den Putsch, aber unter der Regie des 2009 gestürzten und später nach Honduras zurückgekehrten Präsidenten Mel Zelaya unter den Einfluss von Leuten aus dessen alten Liberalen Partei geraten, gibt an, sich nicht an den Wahlen zu beteiligen, falls Hernández wieder kandidiert und falls es nicht zu absolut notwendigen Reformen kommt, die Hernández‘ jetzige Kontrolle des Wahlvorgangs beenden. Die zweitgrösste Oppositionspartei, die Antikorruptionspartei PAC, will sich Libre für den Fall einer erneuten Kandidatur von JOH anschliessen. Mel Zelaya erklärt immer wieder, in diesem negativen Fall werde Libre die Wahlen aktiv boykottieren. Wie er das mit einer Partei, die ja gerade die Strassenmobilisierung zugunsten des institutionellen Agierens vernachlässigt hat, erreichen will, bleibt sein Geheimnis. Als letzten Donnerstag die Volkswiderstandsfront FNRP gegen die Morde an AktivistInnen und die Aufklärung der Politmorde in Tegucigalpa demonstrierte, waren wenige Leute beteiligt. Gilberto Ríos, Leitungsmitglied des FNRP, meinte denn auch: „Wir sind besorgt, denn es gibt ein Symptom der Demobilisierung des Volkes. Die Oppositionsparteien haben die elektorale Agenda priorisiert, die wichtig ist, aber das sind auch die Mobilisierungen.“ Allerdings beweist Libre dieser Tage im Land reale Mobilisierungskraft, wenn es um Wahlanlässe geht (Primärwahlen stehen an).

Zu den Ereignissen in Venezuela

Freitag, 28. Oktober 2016



„Wieder marschiert Venezuela. Hunderttausende von Demonstranten sind am Mittwoch dem Aufruf der Opposition gefolgt und haben die Strassen etlicher Städte im ganzen Land eingenommen. Die Kundgebungen sind eine Reaktion auf den Beschluss des Nationalen Wahlrats, das angestossene Referendum über den Amtsverbleib von Präsident Maduro auf unbestimmte Zeit zu suspendieren. Am Mittwoch hätte die dafür notwendige Unterschriftensammlung beginnen sollen. Doch der Wahlrat setzte diese aus mit der Begründung, dass es bei der vorgängigen Unterschriftensammlung, die den Prozess des Referendums ausgelöst hatte, zu Unregelmässigkeiten gekommen sei.“
Ein Zitat aus dem heutigen NZZ-Artikel „Die Demokratie am seidenen Faden“, der weiter meint, die Demonstrationen habe die Rechte massiv gestärkt, der chavistischen Regierung das Wasser zum Hals stehe und sie, nicht die Rechte, um einen Dialog betteln müsse. Nun, in der elektronischen Version ist die Quelle für diese Einschätzung verlinkt: #TomaDeVenezuela, ein Twitteraccount der militanten Rechten mit Tweets auch von aus US-Ultras wie dem Senator Bob Menéndez.

Militaristischer Slang – wofür?
Kein Zweifel, die rechten Demos gestern waren gross. Allerdings offenbar nicht so gross wie auch schon. Wir werden sehen, wie das am Samstag und am nächsten Donnerstag weitergeht. Für diesen Tag hat Oppositionsleader Henrique Capriles schlicht die „Einnahme von Miraflores“ angekündigt, also die Besetzung des Präsidentenpalasts. Der Militärslang kennzeichnet zurzeit die Statements der rechten Chefs, und NZZ-Brühwiller lässt sich animieren. Die DemonstrantInnen haben, so der Schreiber, die Strassen „eingenommen“. Nun, Gewalt hat es gegeben. Im Gliedstaat Zulia ist der Chef einer Gemeindepolizei verhaftet worden, weil er offenbar auf eine Demo der Opposition schiessen liess. In mehreren Städten sind staatliche Gebäude mit Molotov-Cocktails angegriffen worden. Im Gliedstaat Miranda ist ein Polizist von rechten Gruppen erschossen worden und zwei weitere Polizisten wurden angeschossen. In Mérida kam es zu 37 Verletzten auf beiden Seiten einschliesslich von fünf angeschossenen Polizisten und zu Verhaftungen von Bewaffneten. Episoden, die das vom Mainstream bhochgehaltene nDemokratieverständnis verdeutlichen?
Bestimmt, es ist schwer, von aussen, ob aus der Schweiz oder aus Brasilien, das Kräfteverhältnis genau einzuschätzen. Aber die vortriumphalen Töne der Medientransnationalen und der venezolanischen Rechten lassen  aufhorchen. Denn so eindeutig, wie suggeriert wird, ist die Lage bei weitem nicht. Eine dpa-Meldung dieser Tage berichtete etwa von einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Datanalisis, wonach 80 % der Bevölkerung eine Absetzung von Präsident Nicolás Maduro wolle. Nun ist dieses Institut bekannt für seine rechte Dienstfertigkeit, doch selbst es musste in der letzten Zeit eine gewisse Erholung des Chavismus zugeben. Hinterlaces, ein anderes Meinungsforschungsinstitut, veröffentlichte vor wenigen Tagen, dass die Mehrheit der Bevölkerung die Rechte nicht an der Regierung sehen wolle. Nicht, dass für unsere Seite positive Umfragen per se „wahrer“ wären als andere, aber es ist tendenziös, sie auszublenden. Mediales Aufheizen – die Frage stellt sich, für was genau?  

Das Referndum als Tarnung
Das historische Gedächtnis der transnationalen Medien reicht zuweilen kaum ein paar Tage zurück. Soeben noch publizierten sie gegen die Anmassung des Wahlrats CNE, dass für die nächste geplante Phase im Abberufungsreferendum nicht einfach nur national mindestens 20 % der Stimmen der Wahlberechtigten gesammelt werden müssen, sondern diese Quote in jedem Gliedstaat erzielt werden müsse. (Eine Verfassungsvorgabe, aber das braucht nicht zu kümmern.) Die rechte Führung um Parlamentspräsident Ramos Allup erklärte, damit sei es aus für den Weg des Abberufungsreferendums, das Volk müsse jetzt den „Diktator“ absetzen. Die transnationalen Medien berichteten, wie der Chavismus stets neue Hindernisse aufbaue.
Vorher bewegte die Frage nach der Dauer bis zur Abberufungsabstimmung, also ob das Referendum vor oder nach dem 10. Januar 2017 stattfände. Falls die nötige Mehrheit gegen Maduro zustande käme, würde bei einem späteren Termin sein Vize Aristóbulo Istúriz nachrücken, vor dem 10. Januar wären Neuwahlen die Folge. Der Nationale Wahlrat CNE hatte den Termin auf nach dem 10. Januar angesetzt. Das war völlig legal. Die verschiedenen Schritte bis zur effektiven Abstimmung können (müssen aber nicht) laut dem massgeblichen Statut ohne weiteres eine solche Zeitspanne benötigen. Das Abberufungsreferendum gegen Chávez 2004 hatte 262 Tage bis zum Abstimmungstag gebraucht, mehr noch, als vom CNE für das aktuelle vorgesehen. Doch vom ersten Tag tönten die venezolanischen Rechte und das transnationale Medienimperium, der Chavismus blockiere das Referendum.
Real waren es die Widersprüche und Betrugsmanöver der Rechten, die das Referendum hinauszögerten. Im Dezember 2015 gewann sie die Parlamentswahlen, doch sie liess sich Zeit bis April 2016, bis sie das Referendum einleitete. Dies, obwohl sie natürlich genau wusste, dass damit rein zeitlich höchstwahrscheinlich keine Neuwahlen durchzusetzen wären. Denn die Rechte musste sich erst auf ein gemeinsames Vorgehen einigen, wie die Regierung Maduro zu stürzen sei. In jenen Monaten diskutierte sie öffentlich folgende Varianten:
a)      Von Maduro einfach den Rücktritt verlangen.
b)      Ihn vor Gericht bringen.
c)       Ihn als geistig krank taxieren.
d)      Seine Wahl 2013 wegen angeblicher kolumbianischer Staatsbürgerschaft aberkennen.
e)      Seine Amtszeit nachträglich per Verfassungszusatz kürzen.
f)       Eine Verfassungsgebende Versammlung einberufen.
g)      Strassenmobilisierungen.
h)      Abberufungsreferendum.
Real benutzte die Rechte das Abberufungsreferendum vom ersten Tag an als Argument für eine „Radikallösung“: den Sturz der Regierung Maduro über „Strassengewalt“, wie sie 2014 mit der sogenannten „salida“ versucht hatte, welche mindestens 44 Todesopfer, in ihrer Mehrheit Unbeteiligte und Chavistas, gefordert hatte. Die transnationalen Medien begleiteten diese Strategie mit ihrer Dauerlüge von den antidemokratischen Zuständen im Land.
In diesen Rahmen passt auch Folgendes: Letzten Juli hatte die Parlamentsmehrheit entgegen einer klaren Order des Bundesgerichts die drei KandidatInnen aus dem Gliedstaat Amazonas als Abgeordnete vereidigt, wo die Wahlen ziemlich eindeutig manipuliert worden waren. Am parlamentarischen Kräfteverhältnis hatte die Suspendierung nicht geändert, da unter den Suspendierten auch eine Chavista war. Der Wahlrat CNE als höchste Wahlautorität bekräftigte darauf hin, dass die drei nicht als ParlamentarierInnen fungieren können. Die Parlamentsmehrheit setzte sich provokativ darüber hinweg und agierte seither im rechtsfreien Raum. Wie immer das Untersuchungsresultat punkto Wahlbetrug ausfallen wird, es ist klar, dass das Parlament sich im rechtsfreien Raum bewegte. Die Annullierung durch das Oberste Gericht war damit eine logische Folge, nicht eine Marotte Maduros.
Doch wie kam es zur vorläufigen Sistierung des Abberufungsreferendums? In einem ersten Schritt musste das Referendumskomitee (der Parteienzusammenschluss Tisch der Demokratischen Einheit, MUD) die Unterschriften von einem Prozent der Wahlberechtigten beibringen, um das Prozedere zu starten. Statt der rund 200‘000 Stimmen legte die MUD fast 2 Millionen vor, als Beweis ihrer Stärke. Das Problem: Über 600‘000 der Unterschriften wiesen Fehler auf, darunter jene von 10‘995 Verstorbenen, 53‘658 nicht im Wahlregister eingetragenen Menschen, 3003 Minderjährigen und andere. Dies wurde so von den Organen des Wahlrats zur Kontrolle der Unterschriften einstimmig festgehalten, inklusive aller ihrer MUD-Mitglieder. Das ist etwas anderes als wie Brühwiller zu sagen, laut Wahlrat „sei es zu Unregelmässigkeiten gekommen“. In den Gliedstaaten reichten über 9000 Menschen zudem eine Klage auf, da sie ohne ihr Zutun, so ihre Aussage, auf der Unterschriftenliste auftauchten. Sieben Gerichte in mehreren Gliedstaaten haben daraufhin am 20. Oktober den Wahlrat angewiesen, das Referendum vorläufig zu stoppen.

Spielt die Zeit für den Chavismus?
Hat der Wahlrat rechtlich eine andere Möglichkeit gehabt? Scheinbar nicht. Natürlich kommt diese Entwicklung dem Chavismus insofern entgegen, als es ziemlich klar scheint, dass er auf Zeit spielt. Er geht offenbar davon aus, dass es ihm gelingt, mit der Zeit die weitgehend „künstlich“ erzeugte Versorgungskrise in den Griff zu kriegen und so die Gunst jener WählerInnen zurückzugewinnen, die bei den Parlamentswahlen 2015 zuhause geblieben sind, und nicht noch weitere Stimmen einzubüssen.  Im unmittelbaren Zentrum dieser Anstrengungen steht sicher die Direktversorgung in Unterklassenzonen durch die Basisstrukturen der CLAP (Lokale Versorgungskomitees), welche einem wichtigen Mechanismus der Versorgungskrise den Boden entziehen. In dessen Zentrum stand und steht noch der bachaqueo, also die kapillar organisierte Praxis, in den Ladenketten, die vom Staat massiv subventionierte Artikel des Alltagsbedarfs anbieten, diese dort einzukaufen und anschliessend auf den Schwarzmarkt mit seinen orbitanten Preisen zu schleusen. Dabei geht es nicht um individuelle Überlebensstrategien, sondern um organisierte Wirtschaftskriminalität, die sich auf ein Heer von Willigen abstützt – die während Jahren von kolumbianischen Paramilitärs betriebene Übernahme traditioneller krimineller Strukturen macht sich jetzt bezahlt. So genannte Hungerrevolten der letzten Zeit bestanden im organisierten, gewalttätigen Vorgehen mafiöser Strukturen der Rechten gegen Verteilaktionen der CLAP. Deren Schutz durch Sicherheitsorgane wird medial zum Repressionsbeleg.
Im weiteren gehören zu den Massnahmen, von denen sich das chavistische Lager einen Erfolg verspricht, etwa der Übergang von der Produktesubvention zur Subvention an arme Bevölkerungsschichten, was in der Konsequenz das wohl zentrale Moment des Wirtschaftskriegs beenden könnte: die Erschleichung billigster staatlicher Dollars durch Grossimporteure, darunter zentral die Filialen westlicher Multis, die teils direkt in Steuerparadiesen landen, teils von absurd überhöhten Importpreisen aufgefressen werden. Im Verlauf des an sich absolut richtigen Devisenkontrollregimes sind hier viele Milliarden Dollars „verschwunden“, was ohne Geschäftsbeteiligung sogenannter „chavistischer Bourgeois“ mit besten Beziehungen in den Staatsapparat nicht möglich gewesen wäre. Auch eine Verteuerung von Preisen von Alltagsgütern könnte mit den Direktsubventionen an Arme gut aufgefangen werden, Güter, die heute fast nur im absurd überteuerten Schwarzmarkt erhältlich sind.
Es gibt weitere, teilweise kritisch zu rezipierende Instrumente, mit denen der Chavismus nicht nur die Versorgungskrise beheben, sondern auch von der Ölabhängigkeit wegkommen will. Hier ist nicht der Ort, darauf einzugehen, also halbwegs interessante Fragen dazu zu stellen. Jedenfalls geht der Bolivarianismus in Venezuela davon aus, dass er morgen besser dastehen wird als heute und sowieso als gestern. Ob dem so ist, kann ich nicht beurteilen. Die Rechte jedenfalls scheint das ernst zu nehmen und drängt deshalb auf eine rasche „Lösung“, notfalls mithilfe ausländischer Intervention.

Punkte der Eskalation
Dies erklärt die Parlamentssession vom 23. Oktober, in der sich die Parlamentsmehrheit in „Rebellion“ befindlich erklärte und folgende Punkte beschlossen:
a)      Präsident Maduro hat einen Staatsstreich durchgeführt.
b)      Die internationale Gemeinschaft soll „die Mechanismen ergreifen, die nötig sind, um die Rechte des Volks zu garantieren“.
c)        Wahlrat und Oberstes Gericht vor den Internationalen Strafgerichtshof zu bringen.
d)      Über die Doppelbürgerschaft Maduros befinden, um ihn abzusetzen.
e)      Über Maduros Verlassen seines Amts zu entscheiden, um ihn abzusetzen.
Zum letzten Punkt: Maduro hatte eine dreitägige Reise nach Aserbeidschan, Saudi-Arabien und Iran angetreten, um die Ölpreispolitik zu diskutieren, die für Venezuela extrem wichtig ist. Die rechte „interpretiert“ das als Verlassen des Amts. Zur Doppelbürgerschaft: Längst liegt eine offizielle Erklärung Kolumbiens vor, dass Maduro in keinem Geburtsregister des Landes aufzufinden sei.
Es scheint ziemlich klar, dass die inneren Kräfte der Reaktion in Venezuela nicht ausreichen, um den Chavismus von der Regierung zu jagen. Was Strassenmobilisierungen betrifft, hat die Rechte meist das grosse Nachsehen. Der Chavismus ist mehr als ein Regierungslager. Anscheinend etwa 300‘000 Menschen sind in Basisstrukturen organisiert. Angesichts dessen ist der parlamentarische Interventionsappell an die „internationale Gemeinschaft“ ernst zu nehmen. Heute treffen sich die Regimes von Brasilien, Argentinien, Paraguay und Uruguay und werden Venezuela wohl aus dem Mercosur hinauswerfen, da es dessen „Demokratieklausel“ nicht genüge. Der Laufbursche Washingtons in der Organisation Amerikanischer Staaten, Luis Almagro, rief am 24. Oktober die OAS-Regierungen zu Aktionen gegen Venezuela auf (einmal mehr). Vermutlich wird sich in den kommenden Tagen ein einschlägiges Trommelfeuer verdichten.

Humanitäre Krise?
Dabei könnte die globale Rechte auch wieder ihr Herz für die Armen zeigen und die „humanitäre Krise“ in Venezuela beweinen, der zu trotzen doch Menschengebot sei. Die Rede von der humanitären Krise in Venezuela als Interventionsgebot für die internationale Gemeinschaft  als Interventionsgrund hatte im Oktober 2015 der damalige Chef des US-Südkommandos, General Kelly, aufgebracht. Von der Washington Post bis zum Magazin des Tagesanzeigers etc. vergiessen seither JournalistInnen Krokodilstränen und lügen in immer wieder neu beeindruckendem Ausmass daher. Bei so viel Emotion haben Nachrichten keinen Platz, die etwas anderes sagen. Die UNO-Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik CEPAL sieht keine humanitäre Krise in Venezuela. Sie ist keine linke Institution. Gerade gestern berichteten venezolanische Medien über eine Erklärung der CEPAL-Exekutivsekretärin Alicia Bárcena, die versicherte,: „Im Land gibt es keine humanitäre Krise, definitiv nicht, das muss man klar haben.“
In Caracas gibt es seit gestern eine andauernde chavistische Mobilisierung vor dem Präsidentenpalast Miraflores. Die heute auch von Parlamentspräsident Ramos Allup geäusserte Absicht, am nächsten Donnerstag vor den Miraflorespalast zu ziehen, erinnert zu sehr an den Putsch vom 11. April 2002. Eingeleitet hatten ihn die Putschisten mit einer Demo gegen Miraflores, in der ihre Gemeindepolizei von Caracas  erst auf eigene und dann auch auf chavistische GegendemonstrantInnen schossen. Die Toten wurden in Fernsehauftritten, die noch vor der Demo aufgenommen wurden, als Rechtfertigung für den Putsch genommen. Brav kolportiert, logo, und nie zurückgenommen, einfach nicht mehr aufgewärmt, von den transnationalen Medien. Am 13. April brach der Putsch zusammen.
Ein Slogan heute lautet: „Denen, die nach einem 11. Rufen, antwortet das Volk wie am 13.“